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21. September 2009
Tina Karolina Stauner
für satt.org



Jazzfestival Saalfelden 29./30.08.2009

Legenden des Free Jazz
und neue Extremästheten

Ungewohnte Hörerfahrungen, Innovation, Risiko statt Stillstand versprechen Ende August die Veranstalter zum 30-jährigen Bestehen des Jazzfestival Saalfelden für vier Tage auf vier Bühnen. Saalfelden im Pinzgau, meist gemütlichstille Bergkleinstadtidylle, wird zum Mittelpunkt der Jazzszene. Ein Aufeinandertreffen von Insidern, Kennern, Fachleuten, Neugierigen, Mainstream, Independent, Avantgarde, Prätentiösem, Alternativem. Die Möglichkeit von Freiheit und des Grenzenlosen werden an Radikalästhetischem in Neo-Free Jazz und Improvisation ausgelotet mit der Programmreihe shortcuts im Kunsthaus Nexus. Man begegnet sich aber auch locker gesellig mitten auf’m Rathausplatz bei der citystage oder speziell abgelegen auf der Steinalm.
Ich treffe den NYC-Downtown-Multiinstrumentalisten und -Komponisten Elliott Sharp, der mit seiner eigenen Formationen namens Carbon und bei Rova Orkestrova präsent ist und sich nie oberflächlich Kommerziellem annähert, in der Bar der Vip-Lounge. Er, schwarzgrau gekleidet wie immer, seinen obligatorischen Espresso bestellend, sagt über Saalfelden: “Es ist jedesmal ein willkommenes Umfeld - das Publikum ist extrem offen, wie ein Mischung aus alten und neuen Freunden. Man merkt, dass die Leute wirklich zuhören. Damals, als das Festival im Zelt auftauchte war es eine wilde Party. In den Veranstaltungsräumen jetzt ist es gebändigter, aber eine Verbesserung fürs Zuhören.”

Am Wochenende beobachte ich die mainstage im Congresshaus, dem schicken Festivalzentrum. Zum einen mit der Intention, meine Aufmerksamkeit zwei Legenden des Free Jazz zu widmen: Ornette Coleman himself. Und einer Neuinterpretation John Coltranes von Rova Orkestrova. Aber zum andern natürlich mit im Fokus weiter sich bietende Facetten und Tendenzen. Größte Spannweite also von elementarer Free Jazz-Geschichte bis hin zu neuesten Experimenten.
Um gleich einmal das Spektrum näher zu benennen: Steven Bernsteins “Diaspora Suite” ist Zersplitterung, aber auch Ineinanderfließen von Spielformen, perfekt und höchstenergetisch. Mit Ben Goldberg , Devin Hoff, Scott Amendola in der Gruppe. In eine Art freie Lässigkeit mit Destruktionstouch führt die Improvisation des Oliver Lake Reunion Trio. Das Erik Friedlander Broken Arm Trio betont offenes Terrain für kammermusikalische bis jazz-experimentelle Cello-Subtilität. NYC-Spoken Word und Bluesstimme von Eric Mingus trifft in “Room” auf den österreichischen Saxophonisten Wolfgang Puschnig. Ein Eintauchen in die Atmosphäre stranger Leichtigkeit vermittelt Jim Pugliese’s Big Easy. Ungemeine Kraft einer Kombination von Punk, R ‘n’ B und Free Jazz bieten Getatchew Mekuria & The Ex.

  Elliot Sharp
Elliot Sharp


Ornette Coleman
Ornette Coleman


Rova
Rova


Opener am frühen Samstag Nachmittag sind Rova Orkestrova. Der Himmel ist zu, grau. Temperatursturz. Große, weiße Wolken liegen fast auf dem Talboden Saalfeldens. Der Congress ist schon nachmittags lebendiger, gut besuchter Treffpunkt. Von einem Moment zum andern gerate ich aus der Ruhe dieses eiskalten Gebirgstags in die geballte, aufgeladene Wucht des als Klangtsunami angekündigten Rova Orkestrova’s „Electric Ascension“, Neuversion von John Coltranes orchestraler Kollektivimprovisation “Ascension” aus dem Jahr 1965. Von Rova bereits 2005 auf CD veröffentlicht. Rova sind das Rova Saxophon Quartet bestehend aus Larry Ochs, Jon Raskin, Bruce Ackley und Steve Adams, die seit 1977 in Zusammenarbeit mit diversen Musiken und mit Basis in San Francisco präsent sind. Für “21 Century Coltrane” sind in Saalfelden Chris Brown, Andrew Cyrille, Trevor Dunn, Peter Evans, Jason Kao Hwang, Eyvind Kang, Elliott Sharp, Ikue Mori und Zeena Parkins - zwei der wenigen Musikerinnen des Festivals - dazugekommen und bilden ein dichtes Klanggewebe mit Raum für Experimentelles und Improvisation. Elektronik, Streicher und E-Gitarren erweitern die Bläser zu orchesterhafter Dichte und Dimension, die wie ein fester Klangblock voll berstender Energie wirkt. Jedes Instrument offenbar in der Intensität gleich präsent. Man nimmt keine Einzelheiten wahr, sondern die Musik als Ganzes, in der die Individualität der Beteiligten transzendiert wird. Frei von jeder Hierarchie. Das läßt im Grunde auch an Ornette Coleman denken und seine Theorien. Ist aber sehr viel härtere als die harmolodische Eigenart. Und steigert sich bis zu extremer Lautstärke.
Elliott Sharp sieht das parallel zu anderen Entwicklungen in freier Musik, stochastischen Prozessen, elektronischer Musik und musique concrete, offenen Partituren, Unbestimmtheit - allen Bewegungen, die zusammen Soundmaterialien befreiten.
Coltranes “Ascension” entstand, nachdem Ornette Coleman Anfang der 60er Jahre in New York zur zentralen Figur geworden war. Während sich dieser dann '63 bis '65 zurückgezogen hatte, setzte sich Coltrane nach den Quartett-Einspielungen “A Love Supreme” und “Crescent” mit “Ascension” in Szene. Mit einem Gruppenensemble mit u.a. Archie Shepp, John Tchicai unter den elf Mitgliedern, um die bisherige Dimension seiner musikalischen Arbeit zu sprengen. Auf dieses Spätwerk, freier als die konservativ-spirituellen Anfänge, bezieht sich Rova Orkestrova. Elf Musiker, die geradezu eine ohrenbetäubende, orchestrale Klangmacht bilden können, die sich aber auch zu durchlässiger Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit aufspaltet durch Betonung und Exponierung von Soli, Duos, Trios. Markant Sharps Gitarrenbass im Duo mit der Trompete von Evans. Poetisch ein Violin-Viola-Duo von Hwang und Kang. Cyrilles Schlagzeug, oft wie ein lockerndes Element inmitten totaler Härte. Manches Instrument taucht inselartig im Orchester auf. Parkins' Harfe kann sich dazu nicht selten aufs Eigenwilligste einklinken. Mehrmals aber formt das Orchester aus dem historischen Material des Free Jazz unter bis an die Schmerzgrenze anschwellender Lautstärke eine Art Klangwand reinsten Noise mit Gleichberechtigung aller Spieler. Gelegentlich wird fragmentarisch originalgetreu zitiert inmitten von Sound, den man futuristisch nennen kann. Um Werktreue geht es nicht. Aber doch um Traditionsbezug. Wäre Coltrane noch am Leben, er hätte dasselbe getan, so Larry Ochs.
Damals wie heute ist “Ascension” eine radikale Aussage außerhalb des Mainstreamkompatiblen. Coltrane wagte einen Schritt in ungewohnte Sphäre, Rova Orkestrova bieten Krasses, sind Freigeister jenseits allen Multikultigeredes. Denen auch fundierte Studien fremder Kulturen, Neuer Musik und Kunst vertraut sind. Für die Musik eine unkorrumpierbare Aussage im weltgeschichtlichen Diskurs zu sein hat jenseits des billig Konsumierbaren.

Blau überspannt am Sonntag wieder den sommerwarmen Bergort. Ich verbringe Zeit fast wie chillend, relaxt in Sets mit zumeist eher Feinnervigem hineinhörend. Zwischendurch begegnen wir Journalisten den Musikern auf dem Balkon der Lounge in der Nachmittagssonne. Ich plaudere mit Eric Mingus, Charles Mingus' Sohn. Stimme mich ein auf das konzentrierte Hören des Festival-Mainacts: Ornette Coleman.
Coleman, der 1960 mit der Veröffentlichung von “Free Jazz” als Erneuerer auftrat, startet seinen Auftritt zum Festivalabschluss fast lyrisch, sentimental. Wechselt im ersten Stück zwischen Saxophon und Trompete. Später auch einmal zur Violine neben einem Bass wie bei einer Cellosuite.
Im lilafarbenen, feinrotgestreiften Anzug und schwarzen Basthut, ist der schmächtige, fast 80-jährige Mann, lebende Autorität des Free Jazz, im Zentrum der Bühne und koordiniert ein Spiel, das in seine gesamte Werkgeschichte führt. Mit ihm in der Formation die Bassisten Anthony Falanga und Al McDowell und sein Sohn Denardo Coleman am Schlagzeug. Ein Quartett: Coleman erinnert damit an sein Original Quartet der 60er Jahre, deutet aber auch die Zeit von „Prime Time“ an und begibt sich natürlich ebenso in sein jüngstes Material. Die Übergänge sind fließend. Das harmolodische Gedankengebäude besteht im Grunde von Anfang an in Colemans Arbeit, auch schon im Original Quartet, wurde aber erst etwa 1972 zu „Prime Time“ theoretisch mit Worten artikuliert und diskutiert. Der Grundgedanke ist eine Synthese aus ‘harmony’, ‘movement’ und ‘melody’ bzw. “melodic“, daraus entsteht die Formel ‘harmolodics’’ als ein offenes Spiel, bei dem die Improvisation Form schafft. Auch in Saalfelden ein sich stets veränderndes Klangbild. Immer wieder werden in diesem Ineinandergehen von Soundflächen und Soundlinien Motivkürzel eingefügt, die betont oft wiederholt werden. Auch Denardo Colemans Schlagzeugarbeit ist davon geprägt. Kann einfühlend zurückhaltend sein, genauso wie Strukturierend und Vorwärtstreibend. Coleman verlangt vom Musiker wie vom Zuhörer extreme Hörfähigkeit, Bereitschaft zu besonderem musikalischen Denken. Wobei das Ganze mittlerweile etwas gezähmt wirkt, da nicht mehr neu, nicht mehr alternativ, längst den Hörgewohnheiten vieler vertraut. Aber an Ausstrahlungskraft hat der Charismatiker aus Fort Worth Texas nichts eingebüßt. Sicher hat sich sein Spiel etwas verändert. Weniger Widerspenstigkeit, sondern eine unglaubliche Wärme geht davon aus. Auch im Dissonanten, Atonalen. Coleman soll ja Kreativität als soziale Botschaft bezeichnet haben, von Beginn an als Visionär von Weltverbesserung gesprochen haben. “Harmolodic meint nicht nur Musik. Sie existiert auch im menschlichen Körper, in dem Sinne, wie das Nervensystem mit dem Wissen korreliert. Es ist ein Weg wahrzunehmen, wie alles auf alles einwirkt.“, sagte er vor wenigen Tagen.
Harmolodic ist zeitlos, ständig in Wandlung begriffen. Mit Potential, das eine Weltphilosophie birgt. Vielleicht wie der CD-Titel „Sound Grammar“ von 2006 sagt eine Art Grammatik für ein musikphilosophisches Programm als Entwurf zu herrschaftsfreiem Diskurs, Kollektivität. Coleman zeigt sich nach dem Konzert kommunikativ in der Lounge. Wir wechseln zwanglos ein paar Worte über harmolodics.




Dieser Artikel erschien bereits in gekürzter, veränderter Form in der Jungen Welt.