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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




28. September 2009
Robert Mießner
für satt.org

  Pere Ubu und Sarah Jane Morris: »Long Live Père Ubu«

Hearthan HR101, Dezember 1975, Cover: Jon Luoma
Hearthan HR101,
Dezember 1975,
Cover: Jon Luoma

»Die lustigste düstere Platte aller Zeiten« nennt Karl Bruckmaier »Dub Housing«, Pere Ubus zweites Album, erschienen 1978. Es ist Bestandteil des lange vergriffenen, im Oktober bei Cooking Vinyl wiederveröffentlichten 4-CD-Sets »Datapanik In The Year Zero«. Die Box enthält darüber hinaus das stilbildende Debüt »The Modern Dance« (1978) sowie »New Picnic Time« (1979), »The Art Of Walking« (1980) und »Song Of The Bailing Man« (1982). Dazu kommen die bei Hearpen erschienenen Singles und Extratracks.

Die Fontana-Alben »The Tenement Year« (1988), »Cloudland« (1989), »Worlds In Collision« (1991) und »Story Of My Life« (1993) sind 2007 mit Extratracks auf Mercury erschienen.

“Die Pere Ubu der Gegenwart gibt es bei Cooking Vinyl oder Glitterhouse: »Raygun Suitcase« (1995), »Pennsylvania« (1998), »St Arkansas« (2002), »Why I Hate Women« (2006), »Why I Remix Women« (2006) und »Long Live Père Ubu« (2009).”

Ebenda sind David Thomas’ Solowerke erschienen.

Auf Ubu Projex gibt es einen Online-Shop, über den exklusive Downloads erhältlich sind.



Pere Ubu und Sarah Jane Morris: »Long Live Père Ubu« (Cooking Vinyl) Live:





Die bessere Wahl

Pere Ubu vertonen Père Ubu. Ab heute touren sie mit Alfred Jarrys Drama durch Deutschland.

Vor einigen Jahren klingelte bei David Thomas, Sänger und Schreiber von Pere Ubu, der Band, die Postpunk vorwegnahm, als es Punk offiziell noch gar nicht gab, das Telefon. Am anderen Ende war Wayne Kramer von den MC5, in Thomas’ Worten die beste Band des ganzen Planeten. Kramer, Thomas nennt ihn »Brother Wayne«, meinte: »David, ich möchte, dass Du einen Punksong für das Jahr 2001 schreibst«. Thomas’ antwortete sybillinisch: »Wayne, welchen Sinn macht ein Punksong, wenn die ganze Welt Punk ist«? Kramer: »David, ich weiß, Du kannst das«. Jetzt hat Thomas mit Pere Ubu »Long Live Père Ubu« veröffentlicht. Er hält es für die »einzige Punkplatte der letzten dreißig Jahre« und »ein Album zur Zeit«. Es basiert auf »Bring Me The Head Of Ubu Roi«, einer Theateradaption von Alfred Jarrys grotesk-genauem Drama »Ubu Roi«. Vater Ubu, gespielt von Thomas persönlich, ist Scharlatan und Scheusal. Und bringt es folgerichtig zum König Polens. Nicht ohne seine Gattin: Die Rolle von Ubus Lady Macbeth versieht Sarah Jane Morris. Sie sang bereits für Jimmy Sommervilles Communards und Peter Hammills »The Fall Of The House Of Usher«. Mutter Ubu überzeugt ihren eigentlich feigen Gemahl mit dem Argument, er könne sich auf dem Thron »unendlich bereichern, ununterbrochen Blutwurst essen und in einer Kutsche durch die Straßen fahren«. Also wird Vater Ubu zum Verschwörer, ermordet den guten König Wenzel, gibt dem Volk Brot und Spiele, erhebt Steuern auf Heiraten und Todesfälle, kündigt an, den Regen zu vertreiben und für besseres Wetter sorgen zu wollen. Er dezimiert den Adel des Landes. Natürlich geht das alles gründlich schief. Aber Vater Ubu ist eben nicht mal ein gescheiterter Revolutionär und schon gar kein Anarchist. Stattdessen ist er, wie Jean Morienval bemerkte, »das siegreiche Tier, das durch die Masse, die ihm als Vorwand dient, alles zermalmt, was Kunst, Intellekt, Takt, menschliches Schöpfertum sein könnte. Das ist der schlechte Beamte, der schlechte Chef, der stupide General, das ist der Staat selbst und seine Administration«.

Das Stück hatte 1896 in Paris Premiere, kurz nach der Dreyfusaffäre. Die Aufführung endete im Tumult. Genau genommen begann sie mit einem. Roger Shattuck nach Augenzeugenberichten: »Aufgebläht in einem birnenförmigen Kostüm (jedoch ohne Maske, trotz Jarrys Bemühungen) und alles beherrschend, kam Gémier [der Darsteller Vater Ubus] nach vorn, um den ersten Satz zu sprechen – ein einziges Wort. Bisher hatte er nicht recht gewusst, wie er die Rolle anlegen sollte; aber Lugné-Poe [der Theaterdirektor] gab ihm den Rat, die Sprechweise des Verfassers mit seiner abrupten, stilisierten Gestik nachzuahmen. Der Zwerg Jarry war wahrhaftig der Vater des Ungeheuers Ubu. Mit einer Stimme wie ein Hammer sprach Gémier ein obszönes Wort aus, das sich Jarry durch Hinzufügen eines Buchstabens zu eigen gemacht hatte. Merdre, sagte Gémier. Schreiße.« Das nämlich ist eines der drei Interessen des entfesselten Kleinbürgers Ubu. Die anderen sind »Pfuisik« und »Pfuinanz«. Jarry selbst hatte mit seinem prophetischen Entwurf wenig Glück und starb »in einem langsamen Selbstmord an Armut, Alkohol und Vergewaltigung seiner Persönlichkeit« (Shattuck). Zum Schluß unterschrieb er seine Post selbst mit »Père Ubu« und wurde einer derer, die sich ihren Nachruhm nicht vorher auszahlen lassen konnten. Die Surrealisten, unter ihnen André Breton und Antonin Artaud, fanden in Jarry einen ihrer Ahnherren. In André Gides »Die Falschmünzer« tritt er als reale Figur auf.

Ein Jahrhundert nach Jarrys Geburt gründeten sich in Cleveland, Ohio aus der Asche der Protopunkband Rocket From The Tombs Pere Ubu. Ihre Stadt war eine bankrotte und gescheiterte. Der Sitz der NASA wurde längst »the mistake at the lake« genannt. »30 Seconds Over Tokyo« / »Heart Of Darkness«, die erste Single der Band, entstand im September und Oktober 1975. Auf ihrem Cover grinst eine Ubufigur Jon Luomas’ vor schwarzweißer Landschaft. In der Hand hält sie, was eine Klobürste sein dürfte. Denn genau eine solche verwendet Vater Ubu im Stück als Zepter. Pere Ubu mussten also einfach irgendwann Père Ubu vertonen und auf die Bühne bringen. Ihre Interpretation hatte 2008 in London Premiere. Wer weiß, was Jarry gesagt hätte, als einem Zuschauer nur noch der Ruf nach dem Doktor blieb und alle dachten, das wäre Teil der Show. Thomas, er hat Jarry gelesen, als er Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger die High School besuchte, lacht und stimmt zu, wenn man ihm mit Manfred Nöbels Vorwort zur Reclam-Ausgabe von 1978 sagt, »König Ubu« sei ein »Stück, das Kinder zum Lachen bringt, Erwachsene aber in Schrecken versetzt«. Genauso gut findet er Cyrill Conolly Poppas Charakteristik von 1945, wonach Vater Ubu der »Weihnachtsmann des Atomzeitalters« sei. Ansonsten möchte er vor der Tour nicht allzu viel verraten. Für die Theaterproduktion haben die Brüder Stephen und Timothy Quay Animationen produziert. Dass die beiden Trickfilmregisseure vorher über Franz Kafka und Bruno Schulz arbeiteten, gibt eine ungefähre Ahnung davon, was ab heute auf der Bühne geschehen wird. Die Songs kann man sich auf »Long Live Père Ubu« mit nach Hause nehmen. Sie zu schreiben, sei die Hölle gewesen. David Thomas weigerte sich, mit der Band zu sprechen. Gitarrist Keith Moliné: »Das letzte Mal, als ich ihn in Brighton besuchte, hatte er sein Wohnzimmer ausgeräumt und zwei konzentrische Ringe aus mindestens zwanzig Jahre alten Mac-Computern aufgebaut. Irgendwie war es ihm gelungen, die zwanzig Kisten miteinander zu verkabeln. Die Hitze und der Takt der alten Maschinen kam einem Faustschlag gleich. Das da ist Mr. Ubu, meinte David. Er schreibt das Album.« Es ist ein elektronisches Gräuelmärchen geworden. Eine Satire, die Jarry recht gibt. Der meinte, das Polen Ubus sei »Nirgendwo«, aber: »Das ist überall, und es ist vor allem das Land, wo man sich befindet«. Gefragt, ob sie nicht noch Jarrys andere Ubu-Dramen vertonen wollen, sagt David Thomas übrigens: »Das hieße, daraus eine Karriere zu machen«.



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