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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




5. Oktober 2009
Thomas Backs, Wolfgang Buchholz
Tina Manske und Christina Mohr
für satt.org

Short Cuts-Logo
Oktober 2009, erster Teil


  Jochen Distelmeyer: Heavy
Jochen Distelmeyer: Heavy
Columbia/SonyBMG


Jochen Distelmeyer: Heavy

In Zeiten, in denen sich jeder hinter seiner ach-so-ironischen Haltung versteckt (wenn's hoch kommt selbstironisch), ist es ein Labsal jemandem wie Jochen Distelmeyer zuzuhören, der keine Angst vor den großen, oft gebrauchten Worten hat: der Regen macht die Erde nass, die Liebe kommt nicht mehr zurück, man singt sein Lied und lässt die anderen reden, sieht die Kinder spielen, die Sterne scheinen für uns usw. usf. Jochen Distelmeyer ist mit Anfang Vierzig zum ersten mal Vater geworden, und ganz offensichtlich ist er am Ziel angenommen, das Glück und gesättigte Lebenserfahrung dringen ihm aus jeder Pore. Jetzt hat er sein erstes Soloalbum als 'Ex-Sänger von Blumfeld' aufgenommen und schenkt uns damit ein wichtiges Brückenglied für den Weg in die dunkle Jahreszeit. Am besten ist Jochen Distelmeyer immer dann, wenn er ganz einfache Lieder vom Alltag singt – wie das großartige „Bleiben oder gehen“, ein Morrissey-Song, der diesem nie einfiel, oder „Murmel“, eine Hymne auf das kleine Glück im Hier und Jetzt.

Aber richtig rocken kann er auch immer noch, davon zeugen „Wohin mit dem Hass?“, „Er“ oder „Hinter der Musik“. Ach ja: Jochen Distelmeyer ist wahrscheinlich einer der virtuosesten Sänger, die die deutsche Popmusik je hervorgebracht hat. Produziert wurde das Album von Andreas Herbig, der den Songs einen richtig schönen Wumms verleiht. „Am Ende ist es nur ein Song“ („Murmel“) – das bescheidenste „nur“ des Jahres. (Tina Manske, Review erschien zuerst bei titel-magazin.de)


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  Ja, Panik: The Angst and the Money
Ja, Panik:
The Angst and the Money

Staatsakt


Ja, Panik: The Angst and the Money

Es gibt Bands, die bringen die eigene Stimmung ebensogut zur Geltung wie die der Gesellschaft – für Leute jedenfalls, die ein Ohr haben für sowas und nicht bösartig vorbeihören. So eine Band sind Ja, Panik aus dem Burgenland, ansässig in Wien. Wer sich von der Hamburger Schule entweder angewidert oder enttäuscht abgewendet hat (davon wird im Oktober noch zu reden sein), der hat eigentlich gar keine andere Wahl als sich begeistert diesen Österreichern zuzuwenden. Nach „The Taste And The Money“ kommt jetzt „The Angst And The Money“. Die erste Single „Alles hin, hin, hin“ hat denn auch gleich den passenden Chorus zur kriselnden Wirtschaft: „Ohne Geld keine Angst, ohne Angst kein Geld, kein Geld ohne Angst“, so gehen die einfachen Gleichungen ohne großes Von-der-Kanzel-Reden, auf die sich jeder einen Reim machen kann, die Hartz-Quattros ebenso wie die Mallorca-Flüchter. Das Schöne dabei ist, dass sich die Band um Sänger, Gitarrist und Texter Andreas Spechtl (der mindestens ebenso Schriftsteller und Philosoph ist wie Musiker, siehe Cohen und Regener) niemals dem Massengeschmack andient, sondern ganz im Gegenteil die eigene Befindlichkeit nach draußen schreit – „Als habe ich...“ ist dabei ein großer Höhepunkt, bei dem im Refrain die Luft explodiert, dass sich die Haare aufstellen. Auch groß: wie dem Ich „der Nebel bis zum Kinn“ steht („Die Luft ist dünn“). Und? „Wer reißt jetzt hier noch was rum?“ Das Ganze erinnert mit seinem Gesang, mäandernd zwischen Deutsch und Englisch, an die neueren Einstürzenden Neubauten oder an Dirk von Lowtzows und Thies Mynthers Phantom/Ghost, dazu Gitarrenwände wie bei Pavement, großartige gechantete Refrains à la „Das wird bald alles uns gehören“ („Nevermore“, wo sich „gehören“ dementsprechend auch auf „Chören“ reimt). Ja, Panik sind übrigens gerade begriffen im Umzug nach Berlin, wo sie sicherlich auch auf viele Gegebenheiten stoßen dürften, die ihnen Begriffe für neue Songs geben. Es fängt also gerade erst an. Keine Frage, dass diese Österreicher eine der ernstzunehmenden deutschsprachigen Bands sind. Es bleibt das Gefühl, dass man die immense Bedeutung von „The Angst And The Money“ erst in ein paar Jahren wird ermessen können – wenn sich der Staub des Zusammenbruchs gelegt hat und wir hoffentlich wieder klarer sehen. (Tina Manske, Review erschien zuerst bei titel-magazin.de)


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  Mika: The Boy Who Knew Too Much
Mika: The Boy Who
Knew Too Much

Universal


Mika: The Boy Who Knew Too Much

Als ich die Single „We Are Golden“ zum ersten Mal im Radio hörte, war ich beeindruckt: endlich mal wieder ein Mika-Song, der nicht sofort unter seiner ADHC-Überkandideltheit zerbröselt und einfach nur nervt, nervt, nervt – endlich mal wieder Glam-Pop. Zwar muss man immer noch Mikas Falsett mögen, um nicht daran zu verzweifeln, aber absprechen kann man ihm sein virtuoses Spiel mit der Spielerei nicht. Am schlechtesten ist Mika immer dann, wenn er versucht die überproduzierte männliche Madonna zu geben („Rain“, sicherlich die nächste Single), am besten dann, wenn er sich andere Musiker ins Boot holt (ähm, auch „Rain“).

Ein überraschender Moment ist zum Beispiel das Gastspiel von Owen Pallet an der Geige in ebendiesem Track. „I See You“, dieser Michael-Jackson-Song, der sicher zur übernächsten Single erkoren wird, hat einen nach dem dritten Hören erbarmungslos in ihren Krallen, diese Hookline („Rain“ aber auch, davon mal abgesehen). „Touches You“ ist wieder so ein King-of-Pop-Moment. Den Höhepunkt aber bildet „By The Time“, eine grandiose Ballade, bei der Imogen Heap an den Drums sitzt und Backing Vocals beisteuert. Dass Mika einige Songwriter-Fähigkeiten hat, macht er in der Mitte des Albums mit Songs wie „Blue Eyes“ klar, wo er sich an Calypsobeats vergreift und daraus einen vor Optimismus strotzenden Titel bastelt. „The Boy Who Knew Too Much“ ist tatsächlich ein ziemlich perfektes Popalbum geworden, dazu muss Mika im neuen Video gar nicht halbnackt vor der Kamera rumhampeln. Wer braucht bei all dem noch Robbie Williams? (Tina Manske, Review erschien zuerst bei titel-magazin.de)


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  Brendan Benson: My old, familiar friend
Brendan Benson:
My old, familiar friend

Cooperative


Brendan Benson: My old, familiar friend

Brendan Benson? Ist das nicht einer von den als All-Star-Band bezeichneten Raconteurs? War der vorher wirklich auch schon angesagt? Ist im Prinzip ja auch egal. Er ist jedenfalls schon länger im Geschäft, mit drei Alben im Gepäck, erschienen zwischen 1996 und 2005, liegt jetzt nach zwei Raconteurs-Alben sein viertes Solowerk „My old, familiar friend“ vor.

Als Power-Pop mit durchaus 70er Jahre-Mainstream-Rock Einschlag würde ich die Musik kategorisieren. Künstler wie Cheap Trick und Boston von früher bzw. The Posies und Badly Drawn Boy von heute fallen einem ein. Das Album ist sehr eingängig, opulent produziert und mit exquisiten Gesangsharmonien, „Gonowhere“ klingt gar wie die Carpenters. An der einen oder anderen Stelle aber etwas zu glatt gebügelt. Die Melodien sind manchmal einfach zu rund, ein-zwei Ecken und Kanten mehr hätten der Platte durchaus gutgetan.

Progmäßig geht das Album los, um in eine überschwängliche Hymne zu kippen: „A whole lot better“ heißt der Opener, sicherlich einer der einfallsreichsten Tracks. Zum mit Synthie-Geigen zugekleisterten „Garbage day“ kann man sich hingegen gut Discofox tanzende Ü-40er vorstellen. Auch Balladen dürfen nicht fehlen „You make a fool out of me“ erinnert an den Billy Joel der 70er, den man sich zu dieser Zeit durchaus noch anhören konnte. Insgesamt dominieren aber eher Uptempo-Lieder. Das ist auch gut so. Uhhs, BaBas, Dubdudus verleihen den Songs ab und an etwas Bubble-Gum-Flair, was ebenfalls durchaus nicht unpassend ist. Insgesamt ein Album mit abwechslungsreicher wohlklingender Gute-Laune-Musik, aber ohne nachhaltige Überzeugungskraft. Gut für die Heimfahrt mit dem Auto vom Büro oder auch die Beschallung beim Doppelkopf-Abend mit den Nachbarn. (Wolfgang Buchholz)


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  Ólafur Arnalds: Found Songs
Ólafur Arnalds:
Found Songs

Erased Tapes/ Indigo
» erasedtapes.com
» myspace


Ólafur Arnalds: Found Songs

Neue Wege ist Ólafur Arnalds mit den „Found Songs” gegangen: Im April hieß das Motto des jungen Komponisten aus Island „Sieben Songs in sieben Tagen“. Jeden Tag komponierte Arnalds ein Musikstück, das via Twitter online gestellt wurde. Fans konnten dann über Flickr ein persönliches Artwork zu diesen verträumten Kompositionen beisteuern. Getragen von Klavier und Streichern mit dezenten elektronischen Elementen sind sieben meist kurze Stücke voller Schönheit entstanden, die nun auch als remasterte, limitierte Editionen auf CD, 10“ Vinyl und hochwertige Downloads erhältlich sind. Ólafur Arnalds beschreibt seinen Ansatz so: „Die klassische Szene ist denjenigen verwehrt, die nicht ihr Leben lang Musik studiert haben. Ich würde gerne meine klassischen Einflüsse Leuten näher bringen, die sonst nicht diese Art von Musik hören, und sie dadurch aufgeschlossener für sie machen.“ Bereits mit seinem Debütalbum „Eulogy for Evolution“ (2007) hatte Arnalds mit diesem neoklassischen Weg für Aufsehen gesorgt. Mittlerweile feilt er mit seinem Co-Produzenten Bardi Johannsson (Bang Gang) in Reykjavik bereits am nächsten Album. Wer sich für die Kompositionen des Isländers begeistert, dem sei hier auch das Londoner Musiklabel Erased Tapes des gebürtigen Deutschen Robert Raths empfohlen, dessen musikalisches Spektrum von alternativer Popmusik über Neoklassik bis zu Electronica reicht. Anlässlich der zehnten Veröffentlichung des Labels steht über die offizielle Website die „Erased Tapes Collection I“ als Gratis-Download zur Verfügung. (Thomas Backs)


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Fünf Empfehlungen von Frau Mohr in einem Satz:

Richard Hawley: Truelove´s Gutter (Mute/EMI)

Richard Hawley: Truelove´s Gutter (Mute/EMI)
Wunderbar traurige, dunkle Liebeslieder – versoffen und schwermütig.
» richardhawley.co.uk


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Nick Cave & Warren Ellis: White Lunar

Nick Cave & Warren Ellis: White Lunar (Mute/EMI)
Zwei Männer mit Bart und langem Haar machen Filmmusik, die mehr ist als nur Untermalung für bewegte Bilder.


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Gordon Gano & The Ryans: Under the Sun

Gordon Gano & The Ryans: Under the Sun (Yep Roc/Cargo)
Die Nörgelstimme der Violent Femmes ist zurück – macht sehr viel Spaß!


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Moneybrother: Real Control (Our Choice/Rough Trade)

Moneybrother: Real Control (Our Choice/Rough Trade)
Abwechslungsreicher als gedacht – eine der Herbstüberraschungen!
» moneybrother.net


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The Wave Pictures: If You Leave It Alone

The Wave Pictures: If You Leave It Alone (moshi moshi records/cooperative)
Für den schönen Satz „I Cut my hair and you grew yours“ („Tiny Craters in the Sand“) – kann man besser ausdrücken, wie sehr man sich im Lauf der Zeit verändert hat?
» thewavepictures.com