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15. November 2009
Wolfgang Buchholz
für satt.org

3 x auf der Gästeliste:
Dear Reader, Fiery Furnaces
und Die Goldenen Zitronen

In ihrem äußerst kurzweiligen und empfehlenswerten Buch „Das schöne Leben“ hat Christiane Rösinger (Sängerin der formidablen Britta) ein Kapitel der Gästeliste gewidmet. Sie berichtet hier über Gästelistenschmarotzer, das selbsterniedrigende Insistieren des vermeintlich sich auf der Liste Vermutenden, von modernen Jubelpersern als Füllmenge vor der Bühne und schließlich stellt sie die These auf, dass das gesamte Konzertwesen ohne Gästelisten zusammenbrechen würde. Ein interessanter Aspekt des Gästelistenplatzes wird allerdings von Christiane Rösinger nicht thematisiert. Gästelistenplätze können quasi als Naturalien zur Aufbesserung von Musikergagen von Veranstaltern an konzertinteressierte Musiker vergeben werden. So geschehen im hiesigen Fall, so dass der Rezensent sich aus dem prallen Füllhorn des Gleis 22-Herbstprogrammes gleich drei Perlen heraussuchen darf. Was liegt näher als darüber zu berichten.

  Dear Reader


Ramona Falls



Dear Reader und Ramona Falls

Ein gut gefülltes Gleis 22 am Wahlsonntagabend, über 140 Tickets sind bereits im Vorverkauf über den Tresen gegangen - hoffentlich haben die Konzertgänger auch alle gewählt. Vorwiegend junge Menschen drängen sich vor der Bühne, eher ungewöhnlich in dieser Vehemenz, sonst wird bei kleineren Konzerten gerne mehr Abstand zu den Künstlern gewahrt. Der Booker spricht von „Kuschelpublikum“.

Indie-Pop-Musik aus Südafrika, nicht unbedingt die Hochburg für dieses Genre, steht heute auf dem Programm. Die Band heißt Dear Reader, soll beim Haldern-Festival gepunktet haben und steht heute zusammen mit Ramona Falls in Münster auf der Bühne. Bei Ramona Falls handelt es sich ebenfalls um eine Band, die personell identisch mit Dear Reader ist, lediglich Frontman bzw. –woman wechseln bei den beiden Shows. Die Künstler sind sogenannte Multiinstrumentalisten, d.h. sie können verschiedene Instrumente spielen, was oft zu Recht aber auch zuweilen zu Unrecht eine gewisse musikalische Qualität vermuten lässt. Heute Abend gilt diesbezüglich der positive Zusammenhang.

Eröffnet wird der Abend von Ramona Falls, dem Bandprojekt von Brent Knopf, sonst aktiv mit der Band Menomena und sowohl Produzent als auch Mitglied von Dear Reader. Komplexe, durchaus opulente Arrangements mit Geige, fetten Keyboards und Elfen-ähnlichem Background-Gesang prägen die sphärisch-verhuschten Lieder von Herrn Knopf. Irgendwie muss man an Lokomotiven und die kanadischen Stars denken. Feine Melodien mit Hookline-Charakter lassen sich aber immer wieder aus dem Sounddickicht heraushören, sich bewegend zwischen zarten sparsamen Akustikgitarren und kollektiv lärmenden Passagen. Ich finde es ziemlich gut, mein Konzertbegleiter ist schier aus dem Häuschen. Guter Einstieg in den Abend jedenfalls.

Als der Vorhang sich zum zweiten Mal öffnet hat Brent Knopf seinen Platz am vorderen Mikro mit Cherilyn Macneil getauscht, einer sympathischen teilweise in deutscher Sprache plaudernden Dear Reader-Sängerin. Manchmal klingen Sängerinnen jüngeren Alters so sirenenhaft, häufig übermotiviert, betont gewollt aber nicht richtig gekonnt. Nicht so bei Frau Macneil, ihre Stimme kommt weich aber doch bestimmt und durchdringend rüber.

„Replace why with funny“ heißt das Debut der Band, dessen Lieder im Prinzip das Programm ausmachen. Auch hier ein breites Dynamikspektrum zwischen leisen Geigen- und Pianopassagen und „more noisy“-Teilen, wie z.B. beim Opener „Never goes“. Danach folgt schon der Hit „Dearheart“. Sehr abwechslungsreich mit Gesangs-Loops, A-capella-Parts und einem von der Sängerin eingestreuten Huster, wie mal ihn weiland von Peter Frankenfeld aus „Musik ist Trumpf-Zeiten“ kennt. Sehr schön gegen Ende „Great white bear“, ein trauriges Lied über einen Eisbär, und ganz zum Schluss „What we wanted“. Wie oft bei Bands dieses Genres findet man eine Diskrepanz zwischen Platte und Show. Dear Reader überzeugt live mehr als auf Platte, die in der zweiten Hälfte doch etwas an Spannungsmomenten verliert. Live kommt die Musik prägnanter, kräftiger und dynamischer rüber. In Kombination mit dem sehr sympathischen Auftreten von Cherilyn Macneil ein wirklich lohnender Konzertabend.

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  The Fiery Furnaces


Daniel Benjamin



The Fiery Furnaces und Daniel Benjamin

Genau einen Tag später liefern „The Fiery Furnaces“, eine prima Alternative zum „Münte-Wahlergebnis-Schönrede-Programm“ im Fernsehen. Nur ca. 40 Unentwegte haben sich am Montagabend ins Gleis verirrt und diesmal ist es beileibe kein Kuschelpublikum. Trotz einiger gelobter Alben im Gepäck und Präsenz in den Musikgazetten zieht die Band in Münster nur ein kleines aber feines Publikum im Gegensatz zu den Newcomern aus Südafrika.

Eröffnet wird heute von Daniel Benjamin mit Band, einem Singer-Songwriter aus Stuttgart. Von den drei Liedern, die ich noch mitbekomme finde ich das vorletzte richtig schön. Eine dahin geschlonzte Ballade, wenn man das mal so nennen darf, leicht aus dem Takt und etwas windschief aber mit tollem zweistimmigem Gesang. Dann noch etwas Krach hinterher und Schluss – das kann man sich in jedem Fall beim nächsten Mal länger anschauen.

Die Friedberger Zwillinge, Matthew an der Gitarre und Eleanor am Gesang, sind dann in Begleitung von Bassist und Schlagzeuger. Im Gegensatz zum üppigen Sound von gestern spielen The Fiery Furnaces in einer eher spartanischen Besetzung. Das hat den Vorteil, dass alles was man hört auch von den Instrumenten auf der Bühne produziert wird. Ich hätte eigentlich mit mehr technischem Schnick-Schnack gerechnet, bin aber positiv angetan von den „Rough-Versions“ am heutigen Abend. Krachig ist es trotzdem, Papiertaschentuchkügelchen im Ohr schaden heute nicht.

Eleanor Friedberger ist das, was man eine spröde Schönheit nennen würde. Sowohl im Aussehen als auch in der Stimmlage erinnert sie an die junge Patti Smith, wobei sie eher schüchtern wirkt. Stakkato-Gitarren mit vertrackten Rhythmen, die dann in einen straighten Beat übergehen stehen am Anfang, dazu der eher in Richtung Sprechgesang gehenden Beitrag der Frontfrau. „Leaky tunnel“ vom Debutalbum erscheint als nächstes eher zugänglich, bevor es mit Liedern weitergeht, die erklären warum dann und wann der Name Zappa bei musikalischen Referenzen von The Fiery Furnaces genannt wird. Komplexe Rhythmuswechsel mit abgefahrenen Gitarrenlicks ziehen sich durch das Konzert. Trotzdem sind feine Songstrukturen gut zu erkennen. Von sehr eingängigen Gesangsmelodien zu sprechen wäre vor dem Ohr des gemeinen Pop-Konsumenten zwar übertrieben, nichtsdestotrotz sind für das offene Ohr immer wieder pfiffige Hooklines zu entdecken. Der sehr reduzierte Sound ist wohltuend und lässt die Virtuosität der Musiker sich gut entfalten. Kraftvoll und punktgenau arbeitet die Rhythmusgruppe, wobei wieder eine interessante Bassisten-Kategorie zu beobachten ist. Starrer Blick in Richtung Boden bzw. zur linken Hand mit Rücken zum Publikum. Wenn nicht das präzise Spielen wäre, könnte man mutmaßen der gute Ex-Sebadoh Jason Loewenstein wäre lattenstramm. Interessiert aber nicht, da der musikalische Unterhaltungswert immens ist. Auch die Vielfalt der Gitarrensounds, nicht erzeugt durch High-end-Effektgeräte sondern durch Handarbeit, hebt sich wohltuend von den Materialschlachten der vermeintlichen Gitarrenheroen ab. Sogar Frau Friedberger taut im Laufe des Konzertes etwas auf und schenkt dem Publikum gar ein Lächeln. Das ist heute und hier absolut passend und stimmig, denn wer will auch immer nur Rampensäue sehen. Am Ende dann noch Wunschkonzert auf Publikumszuruf. Der Abend hat zur Konsequenz, dass sich der Rezensent intensiver mit dem Back-Katalog der besprochenen Band auseinandersetzen wird. Was will man mehr – und das sogar noch für lau.

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  Die Goldenen Zitronen: Die Entstehung der Nacht





Die Goldenen Zitronen

Eigentlich war Cracker als drittes Event in dieser Gästelisten-Trilogie geplant. Soll auch sehr gut gewesen sein berichtet der Booker, der Chronist hatte aber wichtigeres zu erledigen, so dass es etwas später zu den Goldenen Zitronen geht.

Die „Goldies aus Hamburg“, so angekündigt vom Sänger Schorsch Kamerun, sind nun auch schon über zwanzig Jahre im Geschäft. Zunächst der Kategorie Fun-Punk zugerechnet, gelang es ihnen sehr schnell, sich ein Image als wichtige deutsche Band mit linker politischer Attitüde zuzulegen. Das Kramen im persönlichen Archiv fördert die SPEX vom September 1988 zu Tage mit der Band auf dem Titelblatt, wirklich ganz schön lange her. An wen erinnert mich Schorsch Kamerun bloß?

Im Gleis 22 ist heute nicht das übliche Publikum, eher weniger Studies und Indie-Mädchen, kein Dresscode erkennbar. Die Leute sind dunkler, älter, es herrscht eine hohe Wollmützendichte, vereinzelte richtige Punks und sogar Heavy Metal-Typen – eher Hamburg als Münster. Das Rauchverbot scheint heute auch nicht zu gelten, geraucht wird allenthalben und nicht nur Tabak.

Ohne Vorband, auch eher unüblich für’s Gleis 22, geht es kurz vor 10 los. „Die Entstehung der Nacht“, das Titelstück des neuen Albums eröffnet mit weißer Leinwand und Filmeinspielungen das Konzert. Danach „Mila“ vom Lenin-Album und erst zum dritten Stück, des auf der Platte von Mark Stewart (The Pop Group) gesungenen „Drop the stylist“, hier in Deutsch, fällt der Vorhang. In seltsame Gewänder gehüllt, einer Mischung aus Village People und Grobschnitt, wechseln die sechs Zitronen munter die Instrumente. Der Sound ist bescheiden, sehr laut und krachig, auf Platte klingt das irgendwie besser. Ist aber heute auch der erste Abend der Tour, das Zusammenspiel ist gewiss noch steigerungsfähig.

Die neue Platte ist im Übrigen sehr gelungen, einige Stücke hiervon kommen zum Einsatz. Das nach meinem Geschmack originellste Stück „Bloß weil ich friere“, eine Ansammlung von intelligenten Gegenwartsbeobachtungen, etwas an die tolle vor zwei Jahren erschienene Platte „Fortpflanzungssupermarkt“ der Zimmermänner erinnernd, fehlt leider heute Abend. Dafür gibt es aber das nicht minder gelungene, treibende „Des Landeshauptmann’s letzter Weg“. Daneben auch immer Wortbeiträge von Kamerun, an wen erinnert der mich bloß, Gaier und Reents, die teilweise ernst oder auch witzig sein sollen, aber nicht immer sind. Beispiel: „Merkt euch: Die Goldies aus Hamburg, die Beatles aus Liverpool“? Der Gig endet nach einer guten Stunde mit dem eher belanglosen „Wir verlassen die Erde“, Codo von DÖF oder Major Tom Schilling fallen einem hierzu ein. Zwei Blockflöten spielen bei diesem Lied auch noch mit. Wohlwollender Applaus und zwei Zugabenblöcke runden den Gig ab.

Ich fand’s ok aber kein Muss, hatte irgendwie mehr erwartet. Vielleicht sind mir die Goldenen Zitronen etwas zu viel Diskurs und etwas zu wenig Pop. Und was diese seltsamen Gewänder mit Kunst zu tun haben, hat sich mir nicht erschlossen. Immerhin ist mir dann noch eingefallen, an wen mich Schorsch Kamerun erinnert: Er sieht aus wie der kleine Bruder des allseits geschätzten und immer wieder gerne gesehenen Rolf Zacher.

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