Spirale der Erinnerung Winter 2009
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Morrissey:
The HMV/Parophone
Singles '88 – '95
3-CD-BoxSet, EMI » amazon
Len Brown:
Im Gespräch mit Morrissey
Übersetzt von
Henning Dedekind und Karin Lembke
Hannibal Verlag, 422 Seiten, geb. € 29,90 » amazon
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Das Phänomen MORRISSEY
2009 ist Morrissey-Jahr: Der Mozzfather feierte im Mai seinen 50. Geburtstag, veröffentlichte sein bisher erfolgreichstes Soloalbum “Years of Refusal”, das sogar in den deutschen Charts Rang vier erreichte, tourte ausgiebig (was sein Körper mit einem Schwächeanfall im Oktober auf offener Bühne quittierte); zudem wurde das 1995'er Album “Southpaw Grammar” wiederveröffentlicht, die B-Seiten-Kollektion “Swords” erschien und jetzt packt EMI auch noch die Singles inklusive B-Seiten aus Morrisseys Zeit mit HMV/Parlophone zusammen. Trotz runden Geburtstags, Schwächeanfall und nostalgischer Wiederveröffentlichungen besteht aber wohl keine Gefahr, dass sich Steven Patrick M. aufs Altenteil zurückziehen könnte: Während seines Hamburg-Konzerts im November verwies er mit zickiger Geste einen Fan des Saals, der ihm ein herzhaftes “Go Fuck Yourself” zugerufen hatte – für den Spiegel-Online-Schreiber, der über das Konzert berichtete, “einer der größten Rock'n'Roll-Momente” ever.
Jede Menge mehr oder weniger rock'n'rolliger Momente aus dem Leben Morrisseys hat der ehemalige NME-Journalist Len Brown in seinem Buch “Meetings With Morrissey” zusammengetragen, das jetzt auf Deutsch bei Hannibal erschienen ist. Brown interviewte Morrissey im Zeitraum von 25 Jahren viele Male, das erste Treffen fand im Cadogan Hotel statt – selbstredend im selben Zimmer, in dem Morrisseys großes Vorbild Oscar Wilde 1895 verhaftet wurde. Dass Morrissey stark von Wilde beeinflusst ist (auch einige Smiths-Songs wie z.B. “Oscillate Wildly” beziehen sich auf Wilde) und er sich als Wiedergänger des britischen Dichters fühlt, ist bekannt. Auch in Browns Buch gibt es kaum ein Interview, in dem Oscar Wilde nicht Thema ist, sich Mozza nicht mit Wilde vergleicht. Da Brown großer Morrissey-Fan ist, tritt er seinem Idol nicht auf die Füße – und lässt ihn sich nach Herzenslust als missverstandenen, ausgestoßenen Poeten in der Nachfolge Wildes stilisieren. Neben Oscar Wilde pflegt Morrissey noch eine Reihe weiterer Obsessionen, allen voran die TV-Serie Coronation Street, die in seiner geliebt-gehassten Heimatstadt Manchester spielt. Außerdem verehrt er die New York Dolls, James Dean, Marc Bolan, Billy Fury, britische Sängerinnen wie Cilla Black (die indirekt schuld an der Trennung der Smiths ist, nachzulesen bei Brown), Sandy Shaw und Dusty Springfield. Viele von Morrisseys Idolen landeten auf Smiths-Plattencovern – die Band kreierte so einen ganz neuen Stil: im Mittelpunkt standen nicht die Musiker, sondern unbekannte oder vergessene KünstlerInnen. Häufig wählte Morrissey schwule/queere Ikonen wie Andy Warhols Superstar Candy Darling, womit er den großen Unmut der schwulen Community auf sich lud: bis heute wird Morrissey vorgeworfen, sich der Wirkung schwuler Stars zu bedienen, selbst aber nicht zu seinem eigenen (mutmaßlichen) Schwulsein zu stehen. Len Brown widmet der unklaren sexuellen Orientierung Morrisseys ein ganzes Kapitel, in dem die Frage aller Fragen aber auch nicht gelöst wird – zum Glück, möchte man hinzufügen, besteht doch ein großer Teil der Faszination Morrisseys gerade aus dieser Uneindeutigkeit. Auch wenn Brown wie bereits erwähnt offensichtlicher Mozza-Fan ist, bemüht er sich dennoch, alle Facetten des Mancunians zu zeigen, auch die weniger schönen: z.B. Morrisseys konservative Haltung in punkto Musik (er hasst HipHop und Rap), den unschönen Rechtsstreit um ausstehende Tantiemen mit Smiths-Schlagzeuger Mike Joyce, seine allgemeine Miesepetrigkeit, die nie wirklich ausgeräumten Nationalismus-Vorwürfe und und und.
Len Brown interviewte fast ausschließlich Morrissey, aber sein Buch ist natürlich auch ein Buch über The Smiths; jene Band, die der junge Morrissey 1982 mit dem noch jüngeren Johnny Marr gründete und die vor einigen Jahren vom NME noch vor den Beatles zum “Most Influential Artist” ernannt wurde. (An dieser Stelle kurz auf die Bedeutung der Smiths einzugehen, ist unmöglich, deswegen lassen wir es lieber gleich.) Browns Buch lohnt die Lektüre trotz einiger Schwächen (viele Wiederholungen; deutlich spürbar, dass zwei ÜbersetzerInnen daran gearbeitet haben, unterschiedliche Schreibweisen des gleichen Songtitels, ärgerliche Rechtschreibfehler wie “Fokuhila”, sic!) - wem noch unterstützendes Songmaterial fehlt, kann hier zugreifen:
Mit dem BoxSet “The HMV/Parlophone Singles '88 – '95” lässt sich nachverfolgen, ob und wie Morrissey im Alleingang das Vermächtnis der Smiths weiterführte. Die ersten beiden Solosingles, “Suedehead” und “Everyday Is Like Sunday”, erschienen bereits 1988, nur wenige Monate nach der Trennung der Smiths und sind Perlen der Prä-”Britpop”-Ära. Morrissey klingt, als brauche er die Smiths nicht – und doch benötigt er starke musikalische Partner an seiner Seite. Nachdem Johnny Marr diese Funktion nicht mehr wahrnahm, arbeitete Mozza hauptsächlich mit Stephen Street, Boz Boorer, Mark Nevin und Alan Whyte zusammen und schrieb großartige Songs wie “The Last of the Famous International Playboys”, “November Spawned A Monster”, “The More You Ignore Me The Closer I Get” oder das fantastische Duett mit Siouxsie Sioux (“Interlude”). Doch nicht immer war Morrissey brilliant, Singles wie “Piccadilly Palare” oder “Ouija Board, Ouija Board” ließen Kritiker und Fans ratlos zurück. Musikalisch gelungen oder nicht, bis heute verarbeitet Mozza höchst unpoppige Themen in seinen Songs – wie er es auch schon bei den Smiths tat: Vegetarismus, Kindsmorde, Behinderungen, Übergewicht (“You´re the One for me, Fatty”), etc.pp. Auf den B-Seiten der Singles hingegen frönt er häufig seiner Leidenschaft für großen Pop, z.B. mit der zu Herzen gehenden Version von Henry Mancinis “Moon River”, den Coverversionen von “East, West” (Herman´s Hermits), “That´s Entertainment” (The Jam) oder “Cosmic Dancer” von Marc Bolan.
Morrissey lässt auf seiner Homepage verlauten, dass er diese Compilation nicht autorisiert hat und auch keine Tantiemen dafür bekommt. Er bittet seine “wahren” Fans, den Sampler nicht zu kaufen. Uns hingegen fällt kein Argument dagegen ein; wer fürchtet, Morrissey mit dem Kauf zu hintergehen, kann ihm ja per Western Union ein paar Euro zukommen lassen.
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Duran Duran:
The Singles 81 – 85
3-Cd-BoxSet, EMI » amazon
* Stephen „Tin Tin“ Duffy verließ die Band bereits 1979 und startete eine Solokarriere; 1985 gelang ihm der Hit „Kiss Me (With Your Mouth)“, dessen Erfolg er nicht mehr wiederholen konnte. Man hörte erst in den Nullerjahren wieder von ihm, als er unter anderem für Robbie Williams Songs komponierte.
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Duran Duran: The Singles 81 – 85
Yes, I confess: An der Wand meines Jugendzimmers hing ein Duran Duran-Poster! Allerdings, das möchte ich hinzufügen, nur ganz, ganz kurz während einer geschmacklich wackligen Phase circa 1984 und auch nur wegen des schönen Bassisten John Taylor. Womit wir beim Thema wären: Fans und Gegner interessierten sich nur für Frisuren, Outfits und Hintern der Bandmitglieder, kaum jemand für ihre Musik. Duran Durans Look war wirklich spektakulär, Simon Le Bon und co. erschienen als androgyne New Romantic-Märchenwesen am Pophimmel, elegant und stilvoll, nicht so prollig wie Spandau Ballet und weniger bubihaft als Depeche Mode damals. Die Musik der 1978 in Birmingham von Nick Rhodes und Stephen Duffy* gegründeten und nach einer Figur aus dem Film „Barbarella“ benannten Band wurde von Rockkritikern erwartbar als oberflächlich und gehaltlos gescholten. Aber Duran Duran traten in Post-Punk-Zeiten mit dem Anspruch an, eben keine ausgetretenen Punkrockpfade zu beschreiten und nutzten die Chance, ähnlich wie z.B. Human League, den Sound der Achtziger zu bestimmen: Überkandidelt und synthie-lastig mit großspurigen Refrains und dem unmißverständlichem Willen, die Charts zu erobern. MTV tat dann ein übriges, um Duran Durans Erfolg zu mehren, die Videos zu „Girls on Film“ oder „Wild Boys“ sind Eighties-Classics. Ob sich Duran Duran mit ihrem Aussehen im Weg standen und die Akzeptanz verbauten, die ihnen eigentlich gebührte, kann man jetzt mit dem fetten 3-CD-BoxSet nachprüfen, das alle Singles inklusive B-Seiten bis 1985 beinhaltet. Und mal ehrlich, Duran Duran hatten schon tolle Songs, die man auch heute noch hören kann, ohne dass einem Schulterpolster aus der Jacke wachsen: „Girls on Film“, „Rio“, „Hungry Like the Wolf“, „Wild Boys“, „Planet Earth“, „Is There Something I Should Know“, „Union of the Snake“und natürlich der James Bond-Hit „A View To A Kill“. Ab '85 sank Duran Durans Stern allmählich und auch wenn die Band noch immer besteht und dann und wann ein Album veröffentlicht: so schön wie damals wird’s nicht mehr.
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Blondie Singles Collection:
1977 – 1982
Doppel-CD, Chrysalis/EMI » amazon
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Blondie Singles Collection: 1977 – 1982
“Blondie is a Group” - diesen Slogan ließen Debbie Harry und ihre Bandkollegen Ende der siebziger Jahre auf T-Shirts drucken. Harrys optische Präsenz war so überwältigend, dass viele Fans und Journalisten Band- und Sängerinnennamen gleichsetzten und die männlichen Musiker schlichtweg ignorierten. Klar war aber auch, dass Blondie ohne die sexy, charismatische und dabei höchst ironisch mit ihrem Image umgehende Deborah Harry niemals den Erfolg gehabt hätten, der sie bis Anfang der Achtziger zu einer der größten US-amerikanischen Acts machte. Blondies Karriere begann im New Yorker Club CBGB´s, wo auch die Talking Heads, Ramones und Patti Smith ihre ersten Gehversuche starteten. Blondie hoben sich aber nicht nur durch ihre Sängerin von anderen Bands ab, wie niemand sonst verbanden sie punkrockige Attitüde mit Popappeal; und trotz ihrer Underground-Herkunft hatten Blondie keine Angst vor Disco, was ihnen Welthits wie “Heart of Glass” und “Atomic” bescherte. Bis 1982 gelang ihnen Hit auf Hit: “Sunday Girl”, “Rapture”, “Dreaming”, “The Tide is High”, “Call Me” vom “American Gigolo”-Soundtrack und viele mehr. Alle Singles bis '82 inklusive B-Seiten sind auf einer Doppel-CD vereint, die durch die zeitliche Eingrenzung suggeriert, dass Blondie nicht mehr existieren – tatsächlich lösten sich Blondie 1982 auf, sind aber seit 1997 in veränderter Besetzung wieder aktiv. Und Debbie Harry ist wieder blond.
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The Stranglers:
The UA Singles
1977 – 1982
3-CD-BoxSet, EMI » amazon
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The Stranglers: The UA Singles 1977 – 1982
Man schrieb das Jahr 1974, als Hugh Cornwell im südostenglischen Guildford die “Guildford Stranglers” gründete – Punk war noch nicht mal als leise Ahnung vorhanden. Die rüden Jungs aus Guildford werden ungeplant zu Paten einer Bewegung, die kurze Zeit später mit Johnny Rotten und den Sex Pistols ihre Vorzeigestars bekommt. Punkig an den Stranglers waren in erster Linie ihre grenzwertigen Sprüche, wobei nie ganz klar war, was ernst gemeint und was typisch britischer Humor sein sollte. Dazu kam eine, sagen wir “gewaltbereite” Gefolgschaft (z.B. die berüchtigten “Finchley Boys”), die aus jedem Gig der Band eine Massenschlägerei machte und fertig war das Image der perfekten Bürgerschrecks. Die Stranglers waren nicht nur ein bisschen älter als die meisten anderen Punkbands, ihre Musik war eigentlich gar kein Punk: besonderes Merkmal des Stranglers-Sounds war die psychedelisch schlingernde Orgel, kombiniert mit düsteren Basslinien und der grollenden Stimme Cornwells, die aber auch ganz sanft und einschmeichelnd klingen konnte. Songs wie “No More Heroes”, “Nice 'n' Sleazy” und “(Get A) Grip (On Yourself)” unterstreichen das rüde Bandimage, ganz im Gegensatz dazu stehen die Stücke, mit denen die “Men in Black” in den Charts landeten: “Duchess”, “Golden Brown” oder “Strange Little Girl” - melodisch und beinah poppig, jedenfalls ziemlich unpunkig klingen ihre Hits aus den Siebzigern; gute zehn Jahre später werden die Stranglers mit “No Mercy” und “Always the Sun” sogar mainstreamtauglich. Von 1976 bis '82 waren die Stranglers bei United Artists unter Vertrag, die Früchte dieser Kooperation sind jetzt auf einem aktuell erschienenen 3-CD-Sampler versammelt, der auch die B-Seiten der jeweiligen Singles beinhaltet.
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