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21. Dezember 2009
Martin Jankowski
für satt.org

  Charlie Winston (Foto © Warner)
Charlie Winston
(Foto © Warner)
» charliewinston.de


Charlie Winston
live im FRANNZ

Er ist die europäische Songwriter-Entdeckung des letzten Sommers. Bei mir war es zunächst die nächtliche TV-Übertragung eines Straßenkonzerts irgendwo aus Paris (?) irgendwann Anfang August: Ein mir bis dato unbekannter Musiker mit abgeschabtem Mafia-Hut sang und spielte begleitet von Mundharmonika, Bassgitarre und Schlagzeug so leidenschaftlich und frisch auf, dass die Passanten erfreut stehen blieben, um spontan mitzutanzen und schließlich ihre Handys zückten, um Bilder von diesem überraschenden Ereignis zu machen und ihre Freunde anzurufen, damit sie auch noch hinzu kommen sollten... Auch ich blieb trotz großer Müdigkeit beeindruckt auf dieser nächtlichen TV-Straßen-Mucke hängen.Leider erfuhr man weder den Namen der Band noch des Sängers. Mit Hilfe von Textfetzen, die mir im Gedächtnis hängen geblieben waren, konnte ich am nächsten Morgen einen Mann ermitteln, der in Deutschland noch niemand kannte, während er anderswo bereits auf dem Weg zu Platin war: Der in Frankreich lebende englische (studierte) Musiker Charlie Winston.

Mit einer Mischung aus handgemachtem Rhythm & Blues, Mittelmeermusik und Straßenstaub zaubert der charmante Gitarrenheld, aufgewachsen in einer musikalischen Hippiefamilie, mitreißende New Folk Songs mit kritischem Blick auf die Welt. Stets mit einem kecken Hütchen auf den kurzen Locken, immer in Hemd, Weste und Schnürschuhen, erinnert er an die gewitzten Landstreicherfiguren aus Romanen und Filmen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. „Like a hobo“ hieß folgerichtig auch der erste große Hit des Vollblutmusikers. Die abgeschrammelte Akustikgitarre verleiht der Figur die nötige street credibility; mehr noch tut dies allerdings die ungestüme, energievolle Stimme, die mit einer nicht enden wollenden Spiellust die Oktaven auf und ab turnt. Als hätten Manu Chao, Frank Zappa und Django Reinhardt endlich doch noch zueinander gefunden oder als hätte der heimliche Sohn von Yussuf Islam und Ginger Rogers intensiv Flamenco, Chanson, Blues und HipHop studiert... Bester paneuropäischer Folkrock des einundzwanzigsten Jahrhunderts! Selbst die ruhigeren Balladen Charlie Winstons fahren einem über den Kopf ins Herz bis hinunter in die Beine.

  Charlie Winston: Hobo
Charlie Winston: Hobo
Warner Music
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Beim Anhören der Anfang September in Deutschland erschienen CD „Hobo“ wurde rasch klar, dass ich diesen Mann und seine Band vor allem live spielen hören wollte.

Auch wenn sich gegen seine Studioarbeiten nichts sagen lässt – besonders das Video zu Winstons Song „In your hand“ gehört zum Besten, was es in den letzten Jahren zu sehen gab – die offensichtliche musikalische Spielwut dieses Mannes würde man am besten bei der freien Performance direkt erfahren. Da mir der Berliner Postbahnhof als zu groß erschien und das Konzert Ende September schon ausverkauft war, entschied ich mich für den intimen Gig im bedeutend kleineren FRANNZ Club, der für die Vorweihnachtszeit angesetzt war. Es war die richtige Entscheidung! Mit Hut, Hemd und Weste, rotem Hemd und besagter abgeschrammelter Akustikgitarre betrat Winston in Begleitung von Mundharmonikaspieler, Bassgitarristen und Schlagzeuger bestens gelaunt die Bühne des seit Wochen ausverkauften Clubs. Und dann ging es ab – von der ersten Minute an sang und tanzte das sonst oft so kühle Berliner Publikum mit, was das Zeug hielt. Offenbar war auch Winston bewusst, wie gut sein „In your hand“ mit seinem treibenden Rhythmus und der kargen Melodie gelungen ist; als einziger kam dieser Song zweimal zur Aufführung – einmal als Aufwärmer am Anfang des Programms, ein zweites Mal am Schluss in einer Zugabe, die als fulminantes Rhythmusset aller vier Musiker endete. Doch schon vom ersten Takt an brodelte der Saal.

Über „Like a Hobo“, „Kick the bucket“, bis zu „My life as a duck“ steigerte sich der Abend entlang der Lieder des Albums (das inzwischen auch in Deutschland die Top 20 erreichte) und nicht selten staunte der Sänger lachend und überließ den Fans die nächste Zeile: Berlin hatte seit September den Text gelernt. Es lohnt sich offenbar. Winston und seine Mannen zeigten frisch entschlossen, was handgemachte Musik vermag: Leute zu begeistern und in Bewegung zu versetzen. Mit einer wohlproportionierten Mischung aus formeller Disziplin und euphorischer Improvisation, Folktradition und wilder Freude am Spiel der Genres bewiesen sie, dass gute Musik weder Technik noch große Theorien braucht, sondern nur eines: Musiker, die selbst begeistert sind von dem, was sie machen. Ob Beat-Boxing oder Disco-Kopfstimme, ob soulig, folkig, funky oder im jazzigen Duell mit der meisterhaften Mundharmonika – Winstons Stimme tanzte auf den Songs wie ein Zigeuner auf einer Horde freigelassener Pferde. Der Bass lieferte immer neue, wunderbar funky Grundlinien; das Schlagzeug blieb kraftvoll und basic, ohne jede Spur von Routine.

Doch vor allem machte der Abend im Berliner FRANNZ Club eines klar: Winston ist ein mit allen Wassern gewaschener Songschreiber, der seine Kunst bis in die kleinsten Details beherrscht. So wurde die ruhige Ballade „Boxes“ mit Winston solo am Piano an diesem Abend zu einer Jazzimprovisation, die auf beeindruckende Weise das romantische Ausgangsmaterial zu einer komplexen Musikperformance steigerte, die als musikalischer Höhepunkt des Abends weit über das hinausreichte, was man aufzeichnen kann.

Selten habe ich nach einem Konzert so viele Gesichter noch auf dem Weg nach draußen sprachlos lächeln sehen. Charlie Winston sollte man live spielen hören. Der Abend im Berliner FRANNZ war definitiv ein ganz großes Vergnügen.


Charlie Winston - In Your Hands (official video)