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24. Februar 2010
Christina Mohr
für satt.org

Doctorella

DOCTORELLA
Interview mit den
Grether-Schwestern

Die Spatzen pfeifen es schon seit einiger Zeit von den Dächern: Sandra und Kerstin Grether haben eine Band! Doctorella heißt sie, es gab auch schon einige Auftritte mit Jens Friebe, Andreas Spechtl und Herman Herrmann, die zum ersten Line-Up der Band gehörten.

Bis jetzt gab es noch keine Platte, doch das ändert sich in Kürze: auf Thomas Venkers „Fieber“-Edition erscheint die erste Doctorella-Single „Lass uns Märchenwesen sein“, eine golden-verwegene Aufforderung, sich von allem Hässlichen im Leben zu befreien; das Cover hat Cosima von Bonin gestaltet.

Am kommenden Samstag, den 27.2.2010 treten Doctorella mit neuem Line-Up in Berlin im nbi auf; neben den Grethers werden Sandras ehemaliger Weggefährte bei Parole Trixi, Jakob Groothoff, Elmar Günther und Sebastian Janata (Ja, Panik) auf der Bühne stehen. Und bestimmt so gut aussehen wie auf der Doctorella-Website!

satt.org hat Kerstin und Sandra über ihre Band und die neuen Songs ausgefragt:

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Was hat es mit der Künstler-Edition von Cosima von Bonin auf sich, in der im Frühjahr eure erste Vinyl-Single "Lass uns Märchenwesen"/"Dream tomorrow's next dream" erscheint?

Sandra Grether: Die Idee bei dieser neuen Edition auf "Fieber 7" Series": berühmte Künstler suchen sich zwei Bands oder Acts aus, die sie schätzen und gestalten das Cover. Heraus kommt eine Doppel-Vinyl-Single. Es geht dabei um das Zusammenkommen von Musik und Bildender Kunst und das Stärken dieser Verbindung. Außer uns hat sich Cosima noch Justus Köhncke ausgesucht. Das Ganze ist natürlich eine schöne Ehre für uns, da wir Cosima als Künstlerin sehr schätzen! Das Ding wird ziemlich teuer, da es ja eine Kunst-Edition ist. Wir finden das lustig, dass unsere Debütsingle wahrscheinlich die teuerste Debütsingle einer neuen Band ever ist. So als wäre unser Ruf "Lass uns Märchenwesen sein" von der Künstlerin bereits erhört worden!

Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, das Volkslied "Es klappert. die Mühle am rauschenden Bach" neu zu interpretieren bzw. in einem Popsong zu verarbeiten? Ist der Song „Lass uns Märchenwesen sein!“ eine "Flucht" aus dem grauen Alltag, oder ein Pop-Versprechen?

SG: Exakt beides! „Märchenwesen“ handelt davon, wie grauer Alltag und Pop-Versprechen in eins fallen. Weil man ja in einer Welt lebt, wo alle ständig in Prüfungssituationen sind und sich zwangsläufig andauernd zur Schau stellen müssen. Wo also der „Alltag zur Bühne“ wird, wie es in dem Song heißt. Auf einer untergründigen Ebene handelt der Song auch von Mobbing auf dem Schulhof. Also von dem ganzen kranken Gewalt-Stress-Druck der Gegenwart, dem sich so viele ausgesetzt sehen. Schulhof ist dafür meine Lieblingsmetapher. Und dann kommt die Sehnsucht nach all den erlösenden Kicks, die das Ausgeliefertsein ans Scheußliche ins Wundervolle, Supertolle drehen wollen. „Märchenwesen“ macht den Vorschlag, sich wenn schon, dann richtig zu befreien! Sich in einer Welt der Pseudo-Popversprechen, wenigstens richtig zu wehren, und wirklich so zu leben wie man will. Wenn schon alles brutal stressig ist, dann doch wirklich gleich das zu machen, was man will. Und vor allem natürlich, ganz romantisch, ein Märchenwesen werden. Sich befrein mit einem Kuss. Also „Märchenwesen“ nicht als narzisstischer, langweiliger Prinz- und Prinzessinnentraum, sondern als romantische Hymne auf Solidarität und Überschreitung und Dekadenz und Schutz (durch die Liebe.)

Kerstin Grether: Die Zeile: „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ ist mir freestyle-mäßig in den Text reingerutscht, und ich hab dann weiterassoziiert und gedacht: das ist ja voll lustig, dass mir zu einem Song, der vom Alltag unter verschärften neoliberalen Bedingungen handelt, jetzt das Volkslied vom Müller einfällt, der 24 Stunden rund um die Uhr wach ist und Brot backt. „Bei Tag und bei Nacht ist der Müller stets wach“, heißt es ja in dem Volkslied, und weiter: „es klappert die Mühle am rauschenden Bach“. Das zu zitieren, gibt dem Ganzen eine Drehung ins Natürliche, auf jeden Fall Anachronistische. Das fühlt man auch: wenn alles elektronisch und überwacht und überdreht ist, dann rufen die Leute plötzlich nach Naturgesetzen. Wenn die Industrien verblühn, fühlt man die Schöpfung. Und wenn sie alle hinter einem her sind, dann braucht man den Kuss von dem einen, der einen rettet, halt umso mehr. Das hochhackige „Klipp Klapp“ in der Bridge fasst diesen Kreislauf unserer Meinung nach zusammen.

Warum hat sich das Line-Up von Doctorella verändert? Und wie habt ihr die neuen Leute gefunden? Zuerst waren ja Jens Friebe, Andreas Spechtl von Ja, Panik und Herman Herrmann in der Band.

KG: Ja, wir waren also ganz verwöhnt mit echt guten Musikern/interessanten Typen auf einem bestimmten Interpretationsniveau zu sein. Da gibt man dann natürlich keine Anzeige mehr auf: „Lead-Gitarrist, Schlagzeuger und Bassist gesucht!“

SG: Stimmt doch gar nicht. Einmal haben wir's doch versucht. Und da kam einer, der meinte, er hätte unsere Musik gehört und Angst mit so durchgeknallten Drogentypen wie uns auf die Bühne zu gehen. Da müsste er wohl vor jedem Konzert zwölf Schmerztabletten nehmen. So wie D'Arcy bei den Smashing Pumpkins...

KG: Und einer rief an und meinte, er macht seit dreißig Jahren Bluesrock. Und was wir meinen mit „Bitte keine Mucker“... Also genau so, wie man sich das „Musiker sucht Band“-Anzeigen-Elend halt vorstellt.

Warum habt ihr euch denn überhaupt von Friebe, Spechtl und Hermann getrennt?

KG: Nach zwei Jahren war klar, dass das erste Line-Up fallen würde, weil es auf Dauer nicht lebbar ist, eine Band zu haben, die nur aus ausgeprägten Singer/Songwriter-Typen bestand. Ich glaub', wir waren da schon auf 'nem ziemlichen Velvet Underground-Trip... Aber es wurde mir und Kerstin immer klarer, dass wir ja ohnehin nur in der ersten Phase der Band sind und dass da noch was anderes kommen wird, was dann die wirkliche Band sein wird.

SG: Wir haben ein Jahr lang rumgesucht und uns mit verschiedenen Musikern getroffen und jetzt haben wir unsere Traumbesetzung. Das Wichtigste ist, neben dem Menschlichen natürlich und dass die Chemie halt stimmt; ein möglichst ähnlicher Musikgeschmack und ein ausgeprägter eigener Stil. Auf diese Weise kann jeder an seinem Instrument das machen, was er ohnehin will und es passt meistens verblüffend gut. Und es entsteht trotzdem was Neues. Sebastian, der Schlagzeuger von Ja, Panik, spielt bei uns Leadgitarre. Andreas Spechtl hat ihn vorgeschlagen. Er spielt automatisch die Riffs, die ich auch mag. Dann ist zum Glück Elmar Günther wieder dabei, der auch schon bei Parole Trixi unersetzbar war. Und Jakob Groothoff am Bass, der anscheinend auf die selbe Art Musik hört wie wir und auch einen starken Sinn für deutsche Texte hat. Es war nicht leicht, diese Besetzung zu finden, mit der wir das Album aufnehmen können; der wir die Songs anvertrauen mögen und die sogar noch was Eigenes draus macht. Gott segne sie!

Wird es auf dem Album auch englischsprachige Songs geben oder textet Ihr ausschließlich auf Deutsch?

SG: Wir texten nicht ausschließlich auf Deutsch. Wir haben in vielen Songs englische Strophen, auch mal Refrains. Aus ästhetischen Gründen. Weil das den Songs nochmal einen anderen Schmiss gibt. Wir haben zuerst nur aus Spaß rumprobiert, mal für einen Song, und dann gesehen, wie geil das klingt und dass man damit ganz übermütig die Bedeutungen erweitern oder vertiefen kann. Wenn man z.B. die eher brave deutsche Zeile „Aber Du - bist wie Tinte auf dem Herz“ durch das drastische Englische „Only you - tattooed into my veins“ ersetzt. Eine Freundin von uns, Lilan Petri, die auch Dichterin ist, ist zweisprachig in New York aufgewachsen, ihre Familie kommt aus Süddeutschland. Es hat uns irre viel Spaß gemacht, mit ihr zusammen einzelne Passagen zu übersetzen.

KG: Oder „Träum den übernächsten Traum“ in „Dream tomorrow's next dream“ weil es im Englischen kein Wort für „übernächsten“ gibt. Ran Huber, der Veranstalter unseres Vertrauens, meinte neulich, das sei ja ein klasse Slogan für die Avantgarde. Wir sind jedenfalls froh, dass wir durch Lilans Vorschläge auch im Gebrauch des Englischen eine Auswahl haben. Und nicht die erstbeste Wendung nehmen müssen, die uns zwangsläufig einfällt. Die englischen Passagen müssen ja mindestens dieselbe poetische Kraft haben wie die deutschen. Besser noch, sie sind drüber.

Sandra hat mit Parole Trixi ja schon eine wegweisende Band gehabt; warum ist es auch für Kerstin reizvoll, auf der Bühne zu stehen und eigene Songs zu singen?

KG: Ich bin ja schon die letzten fünf, sechs Jahre ständig mit den Büchern auf Tour gewesen. Da gabs nur mich und den Text, d.h. der Sound, alles was man hörte, war der Vortrag der Worte. Ich kam mir auf der Bühne so vor, als müsste ich ein spontanes One-Woman-Theaterstück aufführen. Einfach nur mit weihevoller Stimme Text aus Buch ablesen, kam für mich nie in Frage. Da hätte ich das Gefühl, die Leute um ihr Eintrittsgeld und ihre Zeit zu betrügen. Es muss ja einen Grund geben, warum ich ein Buch vorlese. Es ist schließlich nicht Teil des Genres „Roman“, dass der Autor ihn vor Publikum vorträgt. Ich hab also viel stand-up-comedy-mäßig in meine eigenen fertigen Texte reingeredet, die Weltlage kommentiert, improvisiert oder auch mal 'n Lied gesungen und das Publikum war wirklich baff, und hat sich zum Glück gut unterhalten gefühlt. Das hatten sie von einer Dichterinnenlesung nicht unbedingt erwartet. Meine eigenen Songs zu singen und sogar meine eigene Band dabei zu haben, erscheint mir jetzt wie eine Erlösung von dem unglaublich komplexen Textirrsinn, den ich da jahrelang ganz allein aufgefahren habe. Es macht mich glücklich, auf diese Weise Teil des Sounds zu werden und mit dem Publikum zu kommunizieren.

Ist es schwierig, auf "beiden Seiten" zu agieren, also als KünstlerIn und JournalistIn/Autorin?

KG: Ich bin in allem Künstlerin, was ich mache. Ich bin für alle drei „Berufe“ geboren. Und es gibt für mich nur eine Seite. Oder mehr als zwei. Ganz gleich, ob ich einen journalistischen Text schreibe, einen Roman oder einen Song singe.
Ich schreib seit immer auch kleine Songtexte oder Gedichte, und denk mir dazu Melodien aus. Und hab mich halt immer obsessiv mit den Songtexten und Gedichten anderer beschäftigt. Das ist eine riesige Leidenschaft von mir. Während ich „Zuckerbabys“ und „Zungenkuss“ schrieb, hab ich intensiv Gesangsstunden genommen. Und mich mit dem Klang meiner Stimme beschäftigt. Das hat die Bücher auch beeinflusst. Es war mir und Sandra immer klar, dass wir eines Tages zusammen eine Band machen! Wir wollten aber zuerst unsere eigenen Sachen machen, um nicht so zwillingsbedingt voneinander abhängig zu sein. Wir mussten uns nach der SPEX-Phase voneinander emanzipieren, ganz banal. Da fährt man nicht gleich alles auf, was man als Potential in sich fühlt. Wenn man eine Zwillingsschwester hat, muss man sich irgendwann entscheiden: entweder wir trennen uns jetzt, und leben auch in verschiedenen Städten. Oder wir machen weiter so ziemlich alles zusammen. Wir haben uns damals, unserem Temperament entsprechend, für die Autonomie entschieden. Sandra hat in Hamburg Parole Trixi gemacht und ich hab in Berlin Bücher geschrieben und für Zeitungen und MTV gearbeitet. Das war nicht leicht. Wir wollten uns das gemeinsame Musizieren aber für den Moment aufheben, wo wir beide dafür bereit sind, wieder zusammen zu arbeiten und uns täglich zu sehen, denn darauf läuft es ja hinaus. Wir sind ja beides Künstlertypen, also trotz aller überschießenden kollektiven Utopien, auch rückzugsorieniert, und jede braucht viel Raum für sich. Dann haben wir mit der Madonna-Anthologie, die wir 2008 zusammen herausgegeben haben, zum ersten Mal wieder gemeinsam was veröffentlicht. Das war wie ein Rausch. Und wir hatten das Gefühl, wir haben uns jetzt plötzlich wieder viel zu geben, anstatt dass wir uns gegenseitig was nehmen.

Sandra, Ist Parole Trixi eine Bürde? Das meine ich so: Parole Trixi war ja eher Riot Grrrl, erwarten deshalb die Leute von Doctorella dasselbe?

SG: Bisher habe ich das Gefühl eigentlich nicht, zum Glück. Die Leute merken offensichtlich auf Anhieb, dass Doctorella etwas Anderes ist. Das ist mir auch wichtig, denn sonst hätte ich Parole Trixi ja nicht auflösen müssen.

KG: Ich sag ja immer, die Utopie von Parole Trixi bestand darin, den Albtraum zu formulieren und ihn entsprechend heftig auszuagieren. Bei Doctorella geht´s eher darum, mal wieder einen Traum zu jagen!

SG: Insofern ist Parole Trixi wie so ein ungezogenes Kind, das man an der Hand hinter sich herzieht und dem man zurufen möchte: hör auf zu schreien! Aber dann schaut man in seine wütend funkelnden Augen und denkt: es hat ja recht! Es hatte allen Grund sich aufzuregen. Es ist also keine Bürde, sondern eine Geschichte, auf die ich, nach allem Hadern, auch stolz bin. Weil Parole Trixi zu diesem Zeitpunkt die ersten und einzigen waren, die eine bestimmte Art von Riot Girl-inspirierter Power hatten. Also wirklich auf der Bühne durch Traumata hindurch gehen und trotzdem die sozialen Verhältnisse genau zu benennen. Das fällt mir schwer zu beschreiben...

KG: Präzise-wütend halt. Enstprechend visionär war ja der Parole Trixi-Hit „Seid gegrüßt junge Frauen von heute, ich hoffe irgendwann bereut ihr's, wenn alles was ihr seht, nur noch aus Klischees besteht.“ Wie die letzten paar Jahre beweisen: ich glaub die Ladies bereuen hierzulande jetzt wirklich, dass sie so lange darauf verzichtet haben, für berufliche und private Gleichberechtigung zu kämpfen.

Wie schreibt Ihr Eure Songs, was kommt zuerst: Text oder Musik?

SG: Der Text ist immer zuerst. Und darauf kommt dann die Musik. Ich schreibe fast nur auf der Gitarre, nur ab und zu für die Melodie, auch ein bisschen mit Keyboard. Durch die Musik ändert sich dann meistens nochmal was am Text. Wenn man das Lied nämlich erstmal hat, ist man eine Zeitlang total damit beschäftigt, es zu performen, zu proben, nachzufühlen. Zumal man den dann ja noch mit der Band zusammen arrangiert und umsetzt. Der Text muss also eine Hürde nehmen; auch wenn auf ihm der Song basiert. Jeder Song entsteht anders. Im Moment schreibe ich am liebsten Songs ganz alleine, Ich fühle mich dabei wie ein Secret Agent und genieße es, die Lieder für das Album zu schreiben, von denen ich finde, dass das Album sie noch braucht. Ich fand es auch sehr reizvoll und absolut unerlässlich, Stücke mit Jens Friebe zusammen zu machen oder ihn auch einfach mal die Musik allein machen zu lassen. Das Schöne am gemeinsamen Komponieren ist ja, dass man dadurch ständig seinen Horizont erweitert und einen Blick von außen bekommt.

Welches Lied würdest du Sandra, du Kerstin, gerne covern?

SG: "The Colors and the Kids" von Cat Power. Da hab ich auch schon mit angefangen, es ein bisschen zu verändern und zum Beispiel ein paar Zeilen ins Deutsche übersetzt und so. Weil Cat Power ja auch die Lieder, die sie covert, immer total verändert.

KG: Um ehrlich zu sein: "Love is a losing game" von Amy Winehouse. Aber wir machen ja keinen Soul.