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Tocotronic: Schall und Wahn “The Sound and the Fury” gäbe einen klasse Titel für ein Rockalbum ab - Tocotronic texten aber auf Deutsch, deshalb heißt ihr aktuelles Album auch wie William Faulkners Roman in deutscher Übersetzung, “Schall und Wahn”, der wiederum auf ein Zitat aus Shakespeares “Macbeth” zurückgeht... und schon sind wir mittendrin in der Referenz-, Verweis- und Zitat- tja, -Hölle? Tocotronic tun seit Jahren, spätestens seit “Pure Vernunft darf niemals siegen” (2005) alles dafür, eben nicht mehr Teil einer Jugendbewegung zu sein. Vielmehr beharren sie in Bartleby'scher Manier („I prefer not to“) auf ihrer Verweigerung gegen Vereinnahmungen aller Art – bis hin zur Manieriertheit. Tocotronic wehren sich mit literarischen, romantischen und manchmal seltsamen Lyrics gegen das Image des “authentischen” Künstlers, das viele meist männliche Indierockfans so trotzig einfordern und gehen dabei mit heiligstem Ernst vor, über den man lächeln kann. Trotzdem sind Tocotronic immer noch irgendwie eine Indierockband, die auch ihre alten Fans in großer Zahl hinter sich weiß. Wie gelingt ihnen das? Der Begriff “Dialektik”, von Dirk von Lowtzow häufig ins Feld geführt, heißt in Bezug auf Tocotronics letzte Platten, dass immer alles geht – bruchlos und selbstverständlich gehen Schrammelpunk und mäandernder Progrock ineinander über, Pogo-Kurzeruptionen und Neunminuten-Hymnen schließen sich nicht aus, sondern verweisen aufeinander. Tocotronic sind inzwischen – nach siebzehn Jahren „ gut funktionierender Homo-Ehe“, wie Lowtzow sagt – und auch dank des vierten Mitglieds Rick McPhail eine so gute Band, dass sie sich in allen Stilen tummeln und sich überdies eine rock-untypische Zartheit in Text, Gesang und Musik leisten können. Das reicht von psychedelischer Versponnenheit („Gift“, „Gesang des Tyrannen“) bis zu sehr konkretem Dagegensein (der Anti-Marke Eigenbau-Selbstversklavungs-Befreiungsschlag „Macht es nicht selbst“) und ist auf Albumlänge ein Manifest* künstlerischer Freiheit, oder, um es mit Tocotronics poetischen Worten zu sagen, „eine Lanze für den Widerstand“. (Christina Mohr) ◊ ◊ ◊
Birdy Nam Nam: Manual for successful Rioting Die vier Turntablisten aus Frankreich haben sich vom Hiphop entfernt und passen ihren Sound dem Zeitgeist an. Überzeugten ihre vorherigen Werke vor allem dadurch, dass sie an vier Plattentellern zusammen gestellt wurden und eine beeindruckende Liveperformance ablieferten, ist das „Handbuch für einen erfolgreichen Aufstand“ nun auch als ganzes Album interessanter. Als Produzent ist Yuksek dabei, außerdem gibt es passend zum neuen elektroideren Gewand zwei Kooperationen mit Justice. Birdy Nam Nam waren live immer am spannendsten, nun gelingt ihnen endlich, die Spannung ihrer Sets auch auf Tonträger zu bannen. Hat man den Sound von Electro á la Ed Banger eigentlich ziemlich über, gelingt es dem Turntable-Quartett dennoch, dem Genre neues Leben einzuflößen. Hier wird nicht einfach mit billigen Effekten auf die Nuss produziert und den Club geschielt, es schillert immer wieder eine Verspieltheit durch, die noch am ehesten mit Mark Pritchards Projekten wie etwa Harmonic 313 vergleichbar ist. Auch die Livesets mit angeschlossener Jazzband haben ihre Spuren hinterlassen. Dass die Crew auch als DJs arbeitet, merkt man dem deutlich härteren Album auch an. Dabei ist es aber so, dass sie bei allen Parts, die nach vorne gehen, im richtigen Moment die Kurve bekommen. Mir wird ja nach zwei Stunden Electro schnell langweilig, in Berlin hört man das an allen Ecken in schlechter Qualität. Ein Birdy Nam Nam–Set würde mich aber doch von der Couch holen. An Fähigkeiten mangelt es den Vieren wahrlich nicht, alleine die Scratches sind hier ganz vorne. [Tobi Kirsch] ◊ ◊ ◊
Eels: End Times Das Cover, gezeichnet von Comic-Star Adrian Tomine, zeigt Mark Oliver Everett alias E als abgebrannten, alten Typen. Nichts könnte der Wahrheit ferner und gleichzeitig näher sein, denn in Everetts Familie ist man mit Mitte 40 schon ganz schön alt - der Älteste, um genau zu sein. E ist der letzte seiner Mischpoke, er bildet sozusagen das lose Ende eines Genstrangs. Dieses Ende ist aber gar nicht gemeint, wenn er von "End Times" singt. Das neue Album, das weniger als ein Jahr nach "Hombre lobo" erscheint, handelt von einer gescheiterten Beziehung und um den Schmerz, den sowas nach sich zieht. Es ist ein klassisches Trennungsalbum. Und wie es Everetts Art ist, erspart er uns nichts. "End Times" ist, bei allen mitreißenden Rhythmen, die es ebenfalls enthält, eine enorm traurige Platte, die E zum Großteil zuhause auf einem alten 4-Track-Aufnahmegerät eingespielt hat. Da ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass man jemanden vermissen kann, selbst wenn man versucht ihn zu hassen ("In My Younger Days"). Da ist das Eingeständnis, dass man zu lange der Daddy in der Beziehung war, wo man doch eigentlich eine Mutter sucht ("I Need A Mother"). Da ist "Little Bird", vielleicht der Schlüsselsong des Albums, bei dem sich E nur von seiner Gitarre begleitet an einen Vogel wendet, der auf seiner Veranda herumpickt: "Right now you're the only friend I have in the world". Und da ist der nicht unschlaue Versuch, das eigene Elend mithilfe des globalen Elends zu relativieren: "I take small comfort in an dying world/ I'm not the only one who's feeling this pain" ("Gone Man"). "End Times" ist, anders als "Hombre lobo", wieder ein äußerst persönliches Album. War "Electro Shock Blues" damals die Bewältigung der frühen Tode von Mutter, Vater und Schwester, ist "End Times" jetzt auf gleicher Höhe bei der Bewältigung von Liebeskummer. Es wäre vermessen zu sagen, dass man beim Hören dem Menschen hinter dem Künstler ein wenig näher käme, deutlich fühlbar ist der Schmerz jedoch schon, und keine Rahmenhandlung mit fiktionalem Charakter dämpft den Aufprall der Kiste, die hier gegen die Wand gefahren wird. Aber Everett wäre nicht er selbst, würde er nicht am Ende schon wieder den neuen Anfang im Blick haben: "One sweet day I'll be back on my feet/ and I'll be alright". Spätestens dann werden wir wieder ein neues Album von ihm in den Händen halten. (Tina Manske, Review erschien zuerst bei titel-magazin.de) ◊ ◊ ◊
Vampire Weekend: Contra Wie fühlen sich Musiker, die hauptsächlich über ihre Klamotten definiert werden? Buchstäblich jeder Artikel über die New Yorker Band Vampire Weekend beschäftigt sich verlässlich zuerst mit dem „Preppy“-Look der Vier, um erst danach auf die Musik einzugehen. Man darf vermuten, dass die Band um Sänger und Gitarrist Ezra Koenig weiß, dass man in Vintage-Lacoste-Polos, Bootsschuhen und Bermudas keine Revolution startet und dass deshalb das Cover des neuen Albums mit Poppermädchen im Ralph Lauren-Shirt und der Titel „Contra“ ironische Kommentare zur eigenen Rezeption sind. Denn ob das Tragen von Polo-T-Shirts heutzutage nun ein subversiver Akt oder modische Gleichgültigkeit ist, ist eigentlich egal: man mag Vampire Weekend wegen ihrer Musik, oder, in seltenen Fällen, vielleicht auch nicht. Die vordergründig unbekümmerte, musikalisch jedoch hochversierte Melange aus Afrobeat, Wave, Reggae und Pop, mal eingängig wie Paul Simons Erfolgsalbum „Graceland“, mal kompliziert wie die frühen Talking Heads, überzeugte auf dem Debüt von 2008 und tut es auch auf „Contra“. Die Band hat ihr Konzept kaum geändert, nur hier und da ein bisschen verfeinert - oder vergröbert wie in „Cousins“, das beinah wie aus der Garage daherkommt. Afrikanisch inspirierte Rhythmik dominiert weiterhin, Koenigs helle Stimme und der Einsatz von Flöten, Spinett und anderen unrockigen Instrumenten verbreiten eine angenehm schwerelose, sommerliche Stimmung, die aber nirgends in Jubel-Trubel-Heiterkeit umkippt. Und trotz aller Liebe zur Weltmusik sind Vampire Weekend in erster Linie Großstädter, was man Titeln wie „Taxi Cab“, „White Sky“ und „California“ nicht nur textlich-thematisch deutlich anmerkt – hier wird die Percussion atemloser, Gitarren und Gesang idiosynkratisch. Und wenn man sich beim überschwänglichen „Holiday“ den dicken Schal vom Hals reißen und die (Bundfalten-)Hosen hochkrempeln will, spielt die Kleidung dann doch noch eine Rolle... (Christina Mohr, Review erschien zuerst bei titel-magazin.de)◊ ◊ ◊
Gruenewald: II Wenn nach der literarischen Speerspitze Deutschlands (Suhrkamp) auch die des Black Metal (Secrets of the Moon) nach Berlin übersiedelt, beginnt man allmählich zu befürchten, dass die im Mainstream schon länger zu beobachtenden Zentralisierungsbestrebungen auch die Subkultur zersetzen könnten. Gut, dass es feine kleine Zusammenschlüsse wie Zeitgeister gibt, die sich dem Zeitgeist widersetzen und vom vielen als verschlafen geltenden Bonn aus Musik vertreiben, die vor allem eigen, vor allem obskur ist. Klabautamann, Valborg und Island haben sich im Underground so längst ihre Meriten verdient; Gruenewald, das zumindest ist der Eindruck, den das schlicht „II“ betitelte Werk des Soloprojektes vermittelt, steht das unmittelbar bevor.Obgleich Christian Kolf auch bei Valborg aktiv ist – mit deren sehr geradliniger, gleichermaßen an Death Metal und Rock geschulten Musik hat „II“ wenig gemein. Doom Metal und Drone, Post- und Prog-Rock-Elemente, Ambient und Folk spielen zwar eine Rolle bei Gruenewald, sind aber allenfalls vage Anhaltspunkte für die atmosphärische Stoßrichtung der vier neuen, episch langen, kunstvoll arrangierten Stücke. „Hello, darkness, my old friend!“, möchte man mit Simon and Garfunkel schon nach den ersten minimalistisch instrumentierten Minuten von „Geist“ rufen. Das verstörend-dunkle Cover entpuppt sich beim Einsetzen des sonor-beschwörenden Gesangs als passende Klammer um die Musik: Hier zapft jemand Klänge an, die in der Tat aus einer orphischen Ursuppe stammen. „Funeral Winds“ ist mit einer Spielzeit von elf Minuten nicht das, was man landläufig als Hit bezeichnet; die schaurig-schön inszenierten, weitschweifigen Gitarrenläufe lassen jedoch gerade in diesem Stück an die verträumten Momente der ja auch für ein breiteres Publikum goutierbaren Pink Floyd denken. „Tails“ greift das zwar auf, entlässt den Hörer am Ende des Albums aber so, wie „Geist“ ihn empfangen hat: erschüttert! (Marcel Tilger) ◊ ◊ ◊
Er France: Pardon my French, Chéri! Zuerst die Formalitäten: Er France sind kein Duo mehr. Die aus Lyon stammende Sängerin Isabelle Frommer und der Düsseldorfer Gitarrist André Trebbe sind jetzt mit Daniel Decker (Bass) und Janosch Brenneisen (Schlagzeug + Produktion) als Quartett unterwegs. Die personelle Verdopplung führt auf dem neuem Album „Pardon my French, Chéri!“ dazu, dass die Beat-Chanson-Pop-Mixtur auch ungefähr doppelt so rockig klingt wie der Vorgänger „Ex Saint“ von 2007. Das kommt gleich am Anfang mit „I Hate That Part“ sehr gut: der Song klingt wie eine Mischung aus frühen Blondie und Franz Ferdinand, dynamisch treibende Gitarren treffen auf melodischen Mitsing-Pop mit lässig-laszivem Gesang. Ebenso mitreißend sind „Cheapo Bar“ und „This Is Not A Test“, hier stehen 60's-Garagensound und Oldschool-Rock'n'Roll im Mittelpunkt, rau und ungeschliffen geht es zur Sache und Mme. Frommer röhrt, als hätten sich die Ronettes mit den Runaways verbrüdert, bzw. -schwestert. Zwei weitere Höhepunkte gibt es zu vermelden, „Sing Song Girl“ dürfte vielen vom Soundtrack des aktuellen Fatih Akin-Films „Soul Kitchen“ bekannt sein; das auf Deutsch und Französisch gesungene Frommer/Trebbe-Duett „Mit Namen und mit Bildern“ ist ein schönes, unkitschiges Chanson, das an Achtzigerjahre-Paarungen wie Stefan Waggershausen und Alice (remember „Zu nah am Feuer“?) erinnert. So, und jetzt der Wermutstropfen: „Pardon my French, Chéri!“ ist mit seinen dreizehn Songs einfach zu lang geraten. Die oben genannten Stücke bleiben im Ohr, die anderen nicht – sie bleiben blass, trotz eingestreuter Tango- und Rockabilly-Elemente. Beim nächsten Album sollten sich Er France im positiven Sinne einschränken, die neuen Mitglieder müssen dafür ja nicht gleich wieder rausgeworfen werden. (Christina Mohr) ◊ ◊ ◊
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