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Gorillaz: Plastic Beach „Will Pop eat itself?“ ist eine Frage, die ja bereits lange vor der allgemeinen Vernetzung gestellt wurde. Zum Beispiel vom englischen Autor Jeremy J. Beadle, der unter diesem Titel mit seinem Sachbuch 1993 die Entwicklung der Popmusik durch die Sampletechnik untersucht hatte. In Anlehnung an eine damals gar nicht so unbedeutende Formation, deren Name PWEI keine Frage, sondern Feststellung oder zumindest These war. Samples und HipHop spielten für die Poppies damals bereits eine große Rolle. Im Jahr 2010 klingt das jetzt beinahe wie eine Erzählung aus der musikalischen Steinzeit. Damon Albarn veröffentlichte in jenen Tagen mit seiner Band Blur Singles wie „Popscene“ und Alben wie „Modern Life is rubbish“, zum Start in die Zeit des „Britpop“ der 1990er. Und? Hat sich die Popmusik seitdem selbst gegessen? Fernsehzuschauer berichten ja öfter mal von einem weit fortgeschrittenen Verdauungsprozess. Ihren Erzählungen kann zum Glück öfter eine Antithese entgegengehalten werden. Zum Beispiel mit dem dritten Album der von Damon Albarn und Tank Girl-Zeichner Jamie Hewlett geschaffenen Gorillaz. Dieser „Plastic Beach“ ist ein Gesamtkunstwerk, das auf gorillaz.com mit einem Abenteuerspiel besucht werden kann. Eine Südseeinsel aus Wohlstandsmüll, auf der Comicheld Murdoc lebt. Musikalisch findet sich hier Albarns Vorstellung von moderner Popmusik. HipHop, Dub, Elektropop und 80er-Disco haben in dieser trashigen Mixtur genau so Platz wie typische Albarn-Balladen (eine heißt hier „On Melancholy Hill“), die sich durch fast alle Projekte des Sängers und Songwriters ziehen. Die Comichelden 2D, Noodles, Murdoc und Russel haben wie immer prominente Begleitung. „Welcome to the world of the Plastic Beach“ begrüßt uns Snoop Dogg nach einem Streicher-Intro. Was folgt, ist oft ganz schön groovy, zum Beispiel die Single „Stylo“ mit Rapper Mos Def und Bobby Womack, die ohne Refrain auskommt. Oder „White Flag“, wo Grime mit Kano und Bashy auf Streicher des Libanesischen Nationalorchesters für Orientalisch-Arabische Musik trifft. Im Allstar-Team spielen zudem Lou Reed, Gruff Rhys, De La Soul und Mark E. Smith. Und nachdem Paul Simonon bereits auf Albarns Meisterwerk „The Good, The Bad & The Queen“ mitwirkte, ist der Bassist auf dem Titelstück „Plastic Beach“ nun zum ersten Mal seit dem Ende von The Clash wieder mit Mick Jones vereint. Danger Mouse, den hatte Damon Albarn diesmal nicht mit am Strand. Viel gelernt hat er von dessen Recyclingkünsten aber schon. (Thomas Backs) ◊ ◊ ◊
Portico Quartet: Isla Es geschieht nicht allzu oft, dass Jazz-Formationen in Pop-Publikationen besprochen werden – Till Brönner fällt einem da ein, oder das Esbjörn Svensson Trio um den viel zu früh verstorbenen schwedischen Pianisten. Vier junge Jazzer aus London haben es jetzt ebenfalls geschafft, in Popzirkel vorzudringen, vielleicht auch deswegen, weil sie von Anfang an in ungewöhnlichen, publikumsträchtigen Räumen wie Kunstgalerien, Chillout-Lounges und Kirchen (!) auftraten. Das Portico Quartet, bestehend aus Jack Wyllie (Alt-Saxophon, Elektronik), Milo Fitzpatrick (Kontrabass), Nick Mulvey (Percussion) und Duncan Bellamy (Schlagzeug), veröffentlichte 2007 das Debütalbum "Knee-deep in the North Sea“, das für den renommierten Mercury Music Prize nominiert wurde; die aktuelle Platte „Isla“ ist in den legendären Abbey Road-Studios aufgenommen worden und erscheint auf Peter Gabriels Label Real World. Was macht die Musik des Portico Quartet so besonders – und popkompatibel? Zum einen ist es der jugendliche Entdeckergeist, der durch „Isla“ weht: Die vier Musiker sind technisch hoch versiert, Kenner werden Bezüge zu Steve Reich, Philipp Glass und dem Jazz der frühen 60er-Jahre ausmachen. Dazu kommt der pure Spaß am Ausprobieren; afrikanische Grooves, elektronische Loops, flächige Ambient- und Trancesounds, Weltmusik greifen in- und spielen miteinander. Nick Mulvey bringt mit dem elektronischen Schlaginstrument Hang, das vor erst zehn Jahren erfunden wurde, einen unverwechselbaren Klang ein. Das pulsierende „Paper Scissor Stone“ verströmt quecksilbrige Aufbruchstimmung, idealer kann ein Opener nicht gewählt sein; der Titeltrack ist druckvoll arrangiert, beinah poppig eingängig. Das flirrende Saxophon von Wyllie kontrastiert spannungsreich mit dem erdigen Kontrabass, dazu fordernde, drängende Percussion – das Portico Quartet bietet Überraschungen für Jazzfreaks und ist für Popfans dennoch nicht zu verkopft. Also für alle was dabei, und das auf ziemlich hohem Niveau. Wo gibt’s das schon? Portico Quartet ist ab Anfang April auf Tournee in Deutschland, Frankreich und der Schweiz; im Sommer auf einigen Festivals zu Gast. ◊ ◊ ◊
Kaki King: Junior Kaki King, 30-jährige Gitarrengöttin aus Atlanta, Georgia, stellt mit ihrem fünften Album "Junior" ihre enorme Vielseitigkeit unter Beweis: bestand die Sensation des Vorgängers "Dreaming of Revenge" darin, dass Miss King erstmals ihre Stimme zum Gesang erhob, präsentiert sie sich auf der neuen Platte als souveräne, spielfreudige Multi-Stilistin. Kaki King, die laut eigenem Bekunden gerne eine Spionin zur Zeit des Kalten Krieges gewesen wäre, verabschiedet sich auf "Junior" fast vollständig von ihrem charakteristischen "Slapping", sprich Gitarrenklopfen. Der Verzicht auf dieses prägende Stilmittel führt zu immenser Vielfalt, Kaki King kann alles und bringt das auf einem einzigen Album unter: "Falling Day" und "Death Head" sind Riot Grrrl-/Punkrock-inspiriert, erinnern an die Breeders, Throwing Muses und Belly. Gut tanzen kann man zu "Spit It Back In My Mouth", das sie als "ihren" Cure-Song verstanden wissen will; "My Nerves that Committed Suicide" und "Hallucinations from My Poisonous German Streets" mäandern psychedelisch-traumgleich mit viel Hall und üppigen Soundgeweben. Kaki Kings Lyrics sind nachdenklich, melancholisch, schon die Songtitel erzählen Geschichten: "Everything Has An End, Even Sadness" und "I´ve Enjoyed As Much As I Can Stand" sprechen für sich. Dreißig Sekunden bräuchte man, um zu wissen, ob man "Junior" mag oder nicht, sagt Kaki King – diese dreißig Sekunden sollte man investieren. (CM/Review erschien zuerst bei melodiva.de) ◊ ◊ ◊
LoneLady: Nerve Up Man darf ja durchaus skeptisch sein, wenn einschlägige Musikmagazine mal wieder den neuen (weiblichen) Hype aus Großbritannien verkünden. Was ist zum Beispiel aus der in 2009 so euphorisch abgefeierten Victoria Hesketh a.k.a. Little Boots geworden? Auch die nicht minder gehypte La Roux ist längst nicht so populär wie Lady Gaga aus den USA. Der neuesten Entdeckung des geschmackssicheren Labels Warp ist zu wünschen, mehr als nur eine Zeitschriftenausgabe lang interessant zu sein: Julie Campbell alias LoneLady hat mit „Nerve Up“ ein Debütalbum veröffentlicht, das aus der Zeit gefallen scheint, das trotz (oder gerade wegen) klarer 80er-Jahre-Referenzen eine Lieblingsplatte für die Ewigkeit sein kann. Vorausgesetzt, man hat ein Faible für melancholisch-distanzierten, dabei emotionalen Elektro-Postpunk-Wave im Geiste von Anne Clark, A Certain Ratio, Joy Division und New Order. Wie die letztgenannten stammt auch Campbell aus Manchester und das ist nicht ganz unwichtig. Sie schickt ihre Kunstfigur LoneLady durch die musikalischen Trümmer der verfallenden Industriestadt und ja, ihre Stücke leben auch von den Bildern, die man von Manchester im Kopf hat, inklusive schwarz-weiß-grauer Plattencover. Aber nicht nur: LoneLadys Songs sind minimalistisch und punktgenau arrangiert, pulsierende Funk-Wave-Beats puckern zu eleganten, eingängigen Synthie-Melodien, manchmal besteht der Beat nur aus knallenden Handclaps, dazu diese „mitten ins Leben schneidenden Gitarren“, wie Musikjournalist Paul Morley schreibt. In den Lyrics Einsamkeit wie in „Army“ und „Marble“. Kein Ton zuviel, keiner zuwenig – und Julie Campbells Stimme, die locker einige Oktaven umfasst, damit aber nicht hausieren geht. Wie gut sie ist, zeigt sie quasi nebenbei in der nackten, mit Geigen unterlegten Ballade „Fear No More“ und dem vergleichsweise fröhlichen „Cattle Tears“. Zu LoneLadys Musik kann man heulen, tanzen und beides am besten gleichzeitig – wie zu Joy Divisons unsterblichem Hit „Love Will Tear Us Apart“. Womit wir dann doch wieder in Manchester wären. (CM/Review erschien zuerst bei melodiva.de) ◊ ◊ ◊
Fehlfarben: Glücksmaschinen Back to the roots – aber zeitgemäß Das Album: Die neue Fehlfarben bei Tapete, kurz, schmerzlos, krachig, wichtig! Die Musik: Maschinen- und Gitarrenmusik, schärfer, rauer und genauer als zuletzt, authentisch produziert, danke Schneider. Die Texte: Stringent, auf dem Punkt, Slogans wie lange nicht: „Wir haben Angst, aber leider keine Zeit dafür“. Die Band: Schwebel ist weg, von Klitzing rumst ganz gewaltig, Pyrolator zirpt und schraubt am Synthi, Fenstermacher auch, Kemner bollert durch, Jahnke feedbackt und Hein beobachtet, beschreibt passend und kottert kraftvoll in die richtige Richtung. Das Cover: „Der Plan-mäßig“. Glücksmaschinen: Synthi-Genudel zum Anfang, dann kommt die Band, dann Hein, was sind wir glücklich, dass wir noch nicht ausgeschieden sind. Stadt der 1000 Tränen: Wie früher, nicht ganz so ruppig, etwas glatter, der Text ein typischer Hein, Highlight. Neues Leben: Klingt nach dem alten Leben in den 80ern, durchtanzte Nacht mit Delgado-Lopez, der Boden schwankt, Stroboskope, links den roten Blitz, rechts den schwarzen Stern. Aufgeraucht: Etwas ruhiger, textlich bissiger, das Lied für Westerwelle: ausgesaugt – aufgebraucht – ausgelaugt – aufgeraucht, schon bekannt aus: „Peter Hein – Die Songtexte 1979-2009“. Im Sommer: Eiscreme, Sonnenöl, Schwachpunkt, Durchatmen. Vielleicht Leute 5: Blockwart Internet geht’s an den Kragen, der Bass treibt, das Schlagzeug prügelt und Hein kommentiert und lamentiert zum Freundezähler: Oh wie schön. Wir warten (Ihr habt die Uhr, wir die Zeit): Die noch bessere Strategie als „Mach es nicht selbst“, Hein ist auch irgendwie glaubwürdiger als von Lowtzow. Respekt: Das Buschgespenst, im Griff der schwarzen Hände...oder so ähnlich, very groovy. Fazit: Niveau locker gesteigert, Vergangenheit gut eingearbeitet, neue Akzente gesetzt, die beste der drei letzten – die Tour kann kommen. Punk macht doch keinen dicken Arsch. (Wolfgang Buchholz) ◊ ◊ ◊
The Lucy Show: ...undone Spectrum, Anyway, Logo oder Ausweg hießen die Läden in denen wir Mitte der 80er schwarz-gewandet wie die Indianer um den Marterpfahl zu dieser Musik getanzt haben. „...undone“ von The Lucy Show ist eine Wiederveröffentlichung aus der Zeit und lässt einen in Erinnerungen schwelgen. Die Gitarren perlen, der Bass hämmert gnadenlos, darüber hallgetränkter Gesang: „This is no heaven“. Sisters of mercy, The Cure aber auch Martha and the Muffins oder A Flock of Seagulls fallen einem als Referenzen ein. Up-Tempo-Nummern wechseln mit sphärischen, eher düsteren Liedern. Der morbide Charme von The Cure’s Seventeen Seconds schimmert bei „Come back to the living“ und “The white space” durch. Später wabert auch noch der eine oder andere Synthie. Sehr schön anzuhören für den Nostalgiker. Warum ist mir die Band eigentlich nicht schon 1985 über den Weg gelaufen? Vielleicht fehlte dann doch etwas die eigene Note und am Ende werden die Songs auch schwächer. Die Platte könnte auch als 80er-Wave-Hits-Cover-Album durchgehen. Egal, macht aber durchaus Spaß zu hören. (Wolfgang Buchholz) ◊ ◊ ◊
For Against: Never Been Diese Platte ist ein schönes Beispiel für das Zusammenwachsen früher unvereinbar nebeneinander stehender Genres: Progressive-Rock und Alternative-Pop. Zwei Assoziationen hatte ich beim Hören der Platte. Das klingt wie Rush in den 80ern, eine kanadisches Trio und in den 70ern und 80ern eines der Flaggschiffe der Prog-Rock Fraktion. „Grace under pressure“ aus 1984 kommt mir in den Sinn. Nur nicht ganz so verspielt und virtuos. Das muss beim Prog-Rock ja immer deutlich gezeigt werden. Dann meine ich Death Cab For Cutie herauszuhören. Hallo, passt das zusammen? Ich meine ja. Wikipedia sagt mir, dass die Band schon sein 1984 zu Gange ist und als Post-Punk/Proto-Shoegaze Rock Band einzustufen ist – aha. Überzeugend sind insbesondere die etwas „beweglicheren Lieder“ wie Antidote und Sameness. Auch die schönen Gesangsharmonien fallen auf. Die Instrumentals plätschern hingegen etwas uninspiriert vor sich hin. Auch das fast acht Minuten lange „OfATime“ macht auf Dauer doch etwas schläfrig. Danach geht’s vernebelt sphärisch weiter, das ist wohl Shoegaze. Insgesamt eine ganz nette Neuentdeckung, aber eher für den Winterabend. (Wolfgang Buchholz) ◊ ◊ ◊
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