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Festland: Welt verbrennt Die „Welt verbrennt“ verkündet der Albumtitel der Essener Band Festland. Das Artwork gemahnt an Sommer. Die Reggae-Rhythmen des Openers lassen zaghaft nach der Sonnenbrille greifen. Doch schon hier greift eine feine Melancholie um sich. Spätestens nach dem vierten Track steht die Stimmung dank dunkler lyrischer Bilder auf Spätherbst. Mit „vereist“ ist der Hörer dann endgültig im Winter angekommen. Die Welt (ver-)brennt nicht, sondern erfriert. Angenehme Housebeats, gekonnt arrangierte Loops und eine gewisse Hamburger-Schule-Attitüde unterstreichen den poetischen Spaziergang durch die kalten Jahreszeiten. Ein Intermezzo auf der eher loungig anmutenden Reise stellt „Tannhäuser Tor“ dar. Finsteres Gewubbere, bedrohliche Schlagzeugbeats und ein unaufhörlich im Hintergrund klingelndes Telefon lassen einen Angst und Bange werden. Das ist dann wohl der Hit für die Winterdepression. Aber der ist klasse, wenn man so was mag! Allen anderen sei der zweite Teil von „Menschen reden“ zur Aufmunterung ans Herz gelegt. Bei halber Orchesterbesetzung und schnittigem Groove kann schon mal das Tanzbein geschwungen werden. Nur Vorsicht: Die ersten eineinhalb Minuten und der ans Ende gefügte Einsatz des Violoncellos sollten dabei übersprungen werden. Wer nicht genug von Depressionen bekommt, hört hingegen „Wintertime“. Der deutsch/englische Text bricht ob seiner Skurrilität jegliches ernsthafte Selbstmitleid ironisch auf. Analog dazu bewegt sich die Musik zwischen schweren, gedämpften Segmenten und Disco Funk. Der teils schräg intonierte Gesang tut sein Übriges. Man hätte Band und Album einen Gefallen damit getan, „Welt verbrennt“ im Herbst zu veröffentlichen. Man kann es getrost bis Ende Oktober auf den Stapel „CDs, die ich noch hören muss“ packen. Aber dann könnte das Album ein steter Begleiter werden. (Janine Andert) ◊ ◊ ◊
Nick Cave & The Bad Seeds Re-Releases Manchmal braucht man einfach den Klassiker - und wenn es um Songs geht, die mit Intensität und Rohheit genauso punkten können wie mit melodischen Entwürfen fernab der Klischees, dann muss es eben Nick Cave sein, immer wieder mal. Wie schön, dass gerade drei seiner Alben mit den Bad Seeds als digital überarbeitete Version wieder aufgelegt worden sind, als CD/DVD-Sets. Sie schicken uns zurück in die Jahre 1988 bis 1992. "Tender Prey" entstand in einer Zeit, als Cave noch in Berlin lebte, und wurde damals in den Berliner Hansa-Studios aufgenommen. Mit "The Mercy Seat" ist einer der bekanntesten Songs der Band auf dem Album enthalten, der auch beim zigtausendsten Hören - und nicht nur live, und nicht erst seit dem Remake von Johnny Cash - eine Größe entfaltet, die den wahren Kultsong ausmacht. Insgesamt zeigten sich Cave und die Seeds auf "Tender Prey" allerdings schon etwas milder als auf den eher hysterischen und dissonanten früheren Alben, eine Entwicklung, die sich mit "The Good Son" aus dem Jahr 1990 fortsetzen sollte. Auf dieser Platte stand der deutlich gemilderte Sound im Vordergrund von Songs wie "Sorrow's Child", "The Weeping Song" oder "Lament". Nick Cave hatte gerade eine Entziehungskur und einen künstlerischen Zusammenbruch hinter sich - auch deswegen markiert "The Good Son" einen wichtigen Punkt in seiner Karriere. 1992 dann erschien "Henry's Dream", das bis dahin zweifelsohne lyrischste und zugänglichste Album der Band. Nicht immer fand man damit die Zustimmung der eingefleischten Fans. Sieht man sich die weitere Entwicklung der Band an, so waren die Stilwechsel in der Rückschau jedoch kleine Schritte hin zur großen Kunst von Alben wie "Abattoir Blues/The Lyre Of Orpheus". Viel Stoff also, um sich noch einmal in den Sog der Klassiker zu begeben. Die CDs kommen jeweils mit Lyrics, Liner-Notes und einer DVD mit einer jeweils halbstündigen Dokumentation, die Freunde und Fans von Nick Cave zu den Alben zu Wort kommen lässt oder auch mal interessante Liveversionen vorstellt. (Tina Manske, Review erschien zuerst bei titel-magazin.de) ◊ ◊ ◊
Doves: The Places between – The Best of Doves Ganz schön edel, was hier im Jahr nach der Rückkehr der Doves veröffentlicht wird. Ein Rückblick auf die vier Alben der nuller Jahre von Sänger Jimi Goodwin und den Zwillingen Andy und Jez Williams, als Doppelalbum plus Videosammlung auf DVD. Für viele Menschen nicht nur im englischen Nordwesten gehörten vor allem 14 der 15 hier versammelten Pop-Songs auf Part I dieser Sammlung zum Soundtrack des letzten Jahrzehnts. „There goes the fear“, einer dieser unaufdringlichen Ohrwürmer vom britischen Nummer eins-Album „The Last Broadcast“ (2002) eröffnet diese „Best of“, es folgen die „Hits“ des Nachfolgers „Some Cities“ (2005), also „Black and White Town“ und „Snowden“. Auffällig: Neun der 15 Songs auf dieser Zusammenstellung stammen vom Debütalbum „Lost Souls“ (2000) und von „The Last Broadcast“ (2002). Beide erschienen auf dem Londoner Heavenly-Label, mit beiden waren die Doves für den Mercury Music Prize nominiert. Wer mag, darf diese Musik aus Manchester sicher auch 2010 noch „Britpop“ nennen. Höhepunkte heraus zu suchen, das erübrigt sich bei dieser Songsammlung mit melodieverliebter Gitarrenmusik, die nicht selten in epischer Breite daherkommt. Wie bei „Best ofs“ üblich, wird auch hier eine neue „Single“ serviert. Mit „Andalucia“ („And the world we see/ Belongs to you and me/ If we're lucky – Andalucía“) schließt sich ein Kreis, ausgehend vom Startpunkt einer „Black and White Town“. 19 Songs versammelt CD 2 dieser Compilation, darunter sind mit „Blue Water“ und „Drifter“ zwei weitere bisher unveröffentlichte Songs. Dazu gibt es B-Seiten von der Sammlung „Lost Sides“ (2003) und Demoversionen. Manchesters Gitarrenhelden der nuller Jahre, perfekt verpackt für Musikfreunde, die das Trio vielleicht erst im letzten Jahr mit „Kingdom of Rust“ lieben gelernt haben. (Thomas Backs) ◊ ◊ ◊
Head over High Heels. Strong and Female 1927 - 1959 Amerikanische Screwball*-Komödien wie „Leoparden küsst man nicht“ als Wegbereiter des modernen Feminismus? Das ist vielleicht zu hoch gegriffen, zumal die Regisseure ausnahmslos Männer waren: z.B. Ernst Lubitsch, Howard Hawks und George Cukor. Es stimmt aber, dass diese Filme einen neuen Frauentyp hervorbrachten: Jean Harlow, Katharine Hepburn, Mae West, Carmen Miranda, Doris Day oder Rita Hayworth waren intelligent, schlagfertig, wortgewandt, selbstbewußt, glamourös, dabei schön, sexy und witzig; gaben Ulknudel und Femme Fatale, Geliebte und Kumpelin in Personalunion. Die Stummfilm-Ära war vorüber, der Tonfilm bot ungeahnte Möglichkeiten des Ausdrucks, es wurde gesungen, getanzt und viel geredet – Dialoge gerieten zum rasanten Schlagabtausch der Darsteller, und meistens ging es um... na klar, die Liebe mit all ihren Wirrnissen. Inspiriert durch einen euphorischen Zeitungsartikel von Schriftstellerin A.L. Kennedy** kompilierte die Journalistin Renate Heilmeier den Trikont-Sampler „Head Over High Heels“, der 24 Songs aus Screwball-Comedys versammelt. Musikalisch findet sich hier viel Hollywood-Meterware, meistens quirliger Bigband-Schrumm-Schrumm-Sound, das Besondere sind die Sängerinnen und die Texte: Songtitel wie „You Can Be Replaced“ von Pearl Bailey, Mamie van Dorens „Separate the Men from the Boys“ oder „I´ll Be Hard to Handle“ von Ginger Rogers sprechen für sich. Marilyn Monroe überrascht in der Tat mit dem wundervoll gesungenen „You`d Be Surprised“, Marlene Dietrich singt im Duett mit Rosemary Clooney das bissige „Too Old to Cut the Mustard“, Carmen Miranda schmachtet zusammen mit den Andrew Sisters „Cuanto Le Gusta“, mit Eartha Kitt, Billie Holiday und Shirley Bassey sind großartige Jazzsängerinnen vertreten, die ebenfalls auf der Leinwand reüssierten. „Head over High Heels“ macht fast so viel Spaß wie ein Screwball-DVD-Abend und lässt besagte Filme in neuem Licht erstrahlen. Hat jemand nach deutschen Entsprechungen gefragt? Tja... vielleicht Ilse Werner und Marika Rökk? Ach, lassen wir das.... ◊ ◊ ◊
Lonely Drifter Karen: Fall Of Spring Warum wird immer Tom Waits bemüht, wenn ausgedrückt werden soll, dass ein/e Musiker/in auf irgendeine Weise „ungewöhnlich“ ist? Ein französisches Magazin verkündete, dass Tanja Frinta, Sängerin und Songschreiberin des Trios Lonely Drifter Karen, mit ihrer „süßen und klaren Stimme Tom Waits' imaginäre Tochter“ sein könnte. Hm. Dass sich Waits zu seinen eigenen Kindern noch eine erwachsene Österreicherin wünscht, ist eine gewagte Vermutung, abgesehen davon, dass Lonely Drifter Karen und Tom Waits nicht viel gemeinsam haben, außer dass eben beide Parteien Musik machen. Tanja Frinta ist mit dem Keyboarder Marc Meliá Sobrevias und Schlagzeuger Giorgio Menossi seit 2008 als Lonely Drifter Karen unterwegs; das Debütalbum „Grass Is Singing“, eine liebevolle Mixtur aus Cabaret-, Folk-, Vaudeville- und Pariser Café-Musik, wurde begeistert aufgenommen. Die zweite Platte „Fall Of Spring“ spinnt die angefangenen Fäden weiter, mit satten Bläserarrangements, Pedal Steel-Gitarren und anpruchsvoller Percussion wird die LDK-Palette angereichert und abgerundet. Die Songs erinnern in ihrer Mitpfeif-Leichtigkeit bei gleichzeitig inhaltlichem Tiefgang eher an die formidable Achtziger-Popband Fairground Attraction (ihr Hit: „Perfect“) als an den knorrig-genialischen Waits. „Russian Bells“ und „Ready to Fall“ sind eingängige Popperlen, „Something´s Scorching“ lässt eine leicht maliziöse Note anklingen, bei „A Roof Somewhere“ und „Wonderous Ways“ präsentiert Tanja Frinta die ganze Bandbreite ihrer „süßen klaren Stimme“. „Fall Of Spring“ ist ein zauberhaftes Album für den Frühling, das auch im Herbst noch für ein warmes Herz sorgt. Und Tom Waits lassen wir einfach mal in Ruhe... ◊ ◊ ◊
Stereo Total: Baby Ouh Man muss sich Françoise Cactus und Brezel Göring als glückliches Kreativpaar vorstellen: seit 1993 zusammen (als Stereo Total, über das Private wissen wir natürlich nichts), alle zwei Jahre eine neue Platte, dazwischen ausgiebige Welttourneen, dann wieder Berlin, Wollita-Kunstpreise verleihen, Filmmusik für Buttgereit aufnehmen, dann ins Studio und zackzack, mal eben vierzig neue Songs eintüten. Ideen gehen den beiden begeisterungsfähigen Kosmopoliten nie aus, und falls doch, nehmen sie eben ein Album mit alten Songs auf Spanisch auf (wie kürzlich: “No Controles”). Dass Françoise und Brezel noch Bock auf Stereo Total haben, darf man also voraussetzen. Aber wie ist das mit den Fans? Reißt es sie immer noch zu Entgrenzungsstürmen hin, wenn eine neue Platte des Elektropop-Chanson-Disco-Punk-Duos erscheint? “Baby Ouh” hat jedenfalls das Zeug, eine Stereo Total-Lieblingsplatte zu werden: Beschränkt auf “nur” siebzehn Songs (na ja, mit dem Hidden Track eigentlich achtzehn), um die Geduld ihres Publikums nicht zu strapazieren, noch dazu sind die Stücke ziemlich kurz. Die beiden nennen es ihr “R'n'R'-Album: Romantisch und Rebellisch. Alles Stereo Total-Essenzielle ist dabei: Lieder über Celebrities (Divine und Andy Warhol, dem auch qua Cover gehuldigt wird), Lieder auf Französisch und anderen Sprachen (“Larmes de Métal”, “Elles te Bottent, mes Bottes?”), Sex- und Gendertrouble (Brezel singt “I Wanna Be A Mama”, Françoise dagegen: “Babyboom ohne mich”), Coverversionen (Rita Pavones “Wenn ich ein Junge wär'”/in den späten Siebzigern von Nina Hagen verpunkt; “Radio Song”, Text von Udo Lindenberg), berühmte Freunde an Bord (“Du bist gut zu Vögeln”, Text von Wolfgang Müller), Liebeslieder (“Alaska”). Und die Musik? Cheapo-Elektrofiepen, hysterische Gitarre und Hinternwackel-Beats. Also alles Bestens. Ouh! ◊ ◊ ◊
Los Campesinos!: Romance Is Boring Aktiv, hyperaktiv, Los Campesinos! Das dritte Werk der sieben Waliser toppt in seiner überdrehten Art sogar die Vorgängeralben. Zwar beginnt „Romance Is Boring“ ganz harmlos, aber schnell wird klar: Der Soundteppich ist so dicht gewebt, dass einem der Kopf schwirrt. Der Opener „In Medias Res“ startet mit einer Gitarre, zu der sich harmonisch Synthesizer, klassische Streicher, Glockenspiel und Bass gesellen. Gesang und Schlagzeug sagen gleichzeitig laut Hallo. Dann tritt das Glockenspiel hervor, was vom Rest der Gefährten düster erwidert wird. Ein disharmonischer Tumult folgt, in dem es in erster Linie um die Vorherrschaft geht. Zum Schluss mischt sich gar eine Trompete ein. Gerade das ist das Ärgerliche: Los Campesinos! haben eine Menge drauf, großartige Ideen, sind abwechslungsreich und kreativ bis zum Umfallen. Charmante Indiepop-Hymnen paaren sich mit ganz viel Spiellust. Die Jungs und Mädels kommen nur nicht auf den Punkt und überfordern damit ihre Hörer. Das menschliche Hirn kann die ganzen Groß- und Kleinigkeiten überhaupt nicht fassen. Höhepunkt der Überforderung ist „Plan A“. Soundgewusel, permanenter Takt- und Harmoniewechsel, lauthalses Geschreie und dann doch wieder was zum Mitsingen. Das ist, als hätte man zwei Tassen Kaffee zu viel getrunken und kann nichts gegen den Koffeinschock machen. Zum Glück wird es danach mit „200-102“ ganze 54 Sekunden ruhiger. Fazit: Ein Album fürs morgendliche Wecken. Knallwach und Pulsschlag auf 180 innerhalb von zwei Sekunden auch ganz ohne Kaffee. (Janine Andert) ◊ ◊ ◊
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