Da könnten sich böse Unkenrufe regen, wenn man Anathemas Werdegang unter die Lupe nimmt. Mit der tiefsten Vergangenheit wollen sie nichts mehr zu tun haben, zumindest wehrt sich Vincent Cavanagh beim Interview gegen eine solche Vereinnahmung. Das am 11. Juni erscheinende Album vereinigt die Gitarrenausbrüche von Scheiben wie „A Fine Day To Exit“ mit einer noch psychedelischeren, eigentlich ruhigen Atmosphäre. Ihre Musik setzt nicht auf laute Effekte oder besonders viel Prahlerei. Dadurch gewinnt sie an Kontur. Anathemas Musik kann viele Gemüter ansprechen. Doch allzu bewegt sollten die Herzen der Hörer nicht sein. Auf gut Deutsch: das Faible fürs Melancholische ist den Briten aus Liverpool geblieben, wenn sie dies auch gerne abstreiten, denn Doom (als Präfix des Metalzweigs, dem sie einst frönten) wollen sie durch Love ersetzt wissen. Sehen wir, ob es funktioniert.
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Der Titel eures neuesten Albums könnte als Statement zur Szene verstanden werden: „We’re Here Because We’re Here“.
Vincent Cavanagh: Der Titel spiegelt den Geist und die Freundschaft wider, die zwischen den einzelnen Bandmitgliedern besteht. Wir sind zusammen aufgewachsen, wir sind durch Dick und Dünn gegangen, haben nie aufgegeben. Wir unterhalten zueinander so intensive Verbindungen, dass es einer Familie beinahe gleichkommt. Der Satz an sich stammt aus dem Ersten Weltkrieg, aus den Schützengräben der Alliierten. Sie sangen dieses Lied im Glauben, nicht mehr heil zurückkehren zu können. In ihre Intonation mischte sich eine tiefe Hoffnung aufs Überleben. Sie fühlten sich wie in Ekstase, dass sie immer noch am Leben waren. Aus dieser Euphorie stimmten sie dieses Lied an. (Vincent beginnt, die Liedzeile „We’re Here Because We’re Here“ nachzusingen.) Wir fanden einige Übereinstimmungen mit unserer Bandgeschichte und übernahmen den Titel des Stücks.
Mit diesem Titel betont ihr vor allem auch die Reinheit des Machens, ohne zu viel darüber reflektieren zu müssen.
Vincent Cavanagh: Es kommt ganz auf die Perspektive an. Es geht dabei gar nicht so sehr um Philosophie und definitiv soll es nicht nihilistisch sein. Viele Leute haben mich schon gefragt, ob wir nach dem Sinn unserer Existenz fragen. Nein, ganz im Gegenteil. Wir wollen auf einige Ereignisse, Chancen und Konsequenzen hinweisen. Es gibt Dinge, die uns zusammengeführt haben, bevor wir überhaupt an Anathema gedacht hatten. Es geht um unser erstes persönliches Treffen, als John und ich elf Jahre alt waren. Und ich denke, dass das nicht minder wichtig als zum Beispiel das erste Konzert gewesen ist. Wir sind immer noch die besten Freunde. Der Titel drückt unsere Freundschaft, unseren Willen aus, weiterzumachen.
Ich denke aber, dass die Musik eine genauso wichtige Rolle dabei spielt.
Vincent Cavanagh: Die Musik entwickelt sich ja aus dieser Freundschaft. Wir sind immer Freunde gewesen und die Möglichkeit, unser eigenes Vermächtnis in Musik auszudrücken, ist eine große Sache für uns. Ich denke, unsere Geschichte ist sehr persönlich, geht wirklich tief und daher scheint sie mir einzigartig zu sein.
Anathema durchlief eine ziemliche musikalische Reise. Die Emanzipation von eurer Metalvergangenheit gelang sehr gut.
Vincent Cavanagh: Es ereigneten sich mehrere Emanzipationen in unserer Musik. Die letzte geschah mit unserem jetzigen Album, mit dem wir uns von unserem Management lösten und unabhängig wurden. Wir wurden um einiges bekannter. Durch unsere ganzen Touren verbesserte sich auch unser Zusammenspiel und wurde präziser. Mittlerweile haben wir eine Position erreicht, in der wir nach uns selbst schauen konnten. Wir durchliefen unzählige Wandlungen und Stile. Wir fühlen immer noch eine Verpflichtung zum Progressiven und wollen uns immer wieder von neuem herausfordern. Wir richten uns nicht nach einem spezifischen Genre. Unsere Musik entsteht einfach, wir sehen uns als selbstverständliche Künstler. Wir machen das, was uns gefällt. Jedes weitere Mal suchen wir nach neuen Facetten in unserer Musik. Wenn du etwas mit Liebe machst, willst du nicht zweimal dasselbe machen. Deshalb fordern wir uns als Band stets von neuem heraus.
Einige Gruppen gefallen sich ja in diesen Wiederholungen, da sie sich einer Szene gegenüber verpflichtet fühlen.
Vincent Cavanagh: Das ist schon in Ordnung. Bands wie Rammstein zum Beispiel sind beeindruckend, gerade weil sie immer das wiederholt haben, was sie seit dem Anfang machten. Sie gehen keine Kompromisse ein. Aber wenn du dir dann eine Band wie Radiohead anschaust: Die ganze Welt erwartete ein zweites „OK Computer“-Album und sie sind in eine elektronische Richtung vorgestoßen. Sie fordern sich immer noch selbst heraus, um sich vom Rest abzugrenzen. Radiohead würde ich als wahre Künstler bezeichnen. Unsere Band geht auch in diese Richtung. Wir verfolgen dasselbe Ziel wie Radiohead, da wir es nicht ausstehen können, zurück zu schauen. Wir schauen immer nach vorne. Das stellt heutzutage keine Band mehr vor Probleme, denn es gibt ein großes Publikum für die Bands, die sich immer wieder von neuem herausfordern. Doch Anathema spielen das, weil sie nicht anders können. Wir müssen keinem gefallen, wir wollen nur uns selbst gefallen. Die Leute kommen zu unseren Konzerten und mögen das, was wir dort präsentieren.
Denkst du denn, dass ihr möglicherweise zu einer Szene zwischen den Szenen‘ gehört?
Vincent Cavanagh: Ich glaube eher nicht. Ich mache mir keinen Kopf darüber, wo wir als Band hingehören. Ich bin kein Marketingexperte. Ich weiß tatsächlich gar keine Antwort auf diese Frage. Ich weiß, dass wir Gitarren benutzen, dass wir also offensichtlich eine Rockband sind, aber das ist es auch schon. Der Großteil baut auf diesen Grundelementen auf, aber es kommen noch einige andere Einflüsse hinzu. Ich glaube, es ist nicht einfach, das alles auf einen Nenner herunter zu brechen. Auf der anderen Seite könnte man fragen, was Radiohead sind. Radiohead sind eine Rockband. Sind sie das wirklich? Ich denke, bei uns handelt es sich um eine ähnliche Situation. Ich sage nicht, dass wir wie Radiohead sind, aber wir gehen gewisse Dinge in einer ähnlichen Art an. Ich meine, wir benutzen immer noch Gitarren, spielen viel mit Bildern. Ich kann dir wirklich nicht genau sagen, in welches Genre wir reinpassen. Mit dieser Frage kann ich nur wenig anfangen. Diese Frage geht eher Marketingexperten und Plattenfirmen an. Ich mach einfach das weiter, womit ich angefangen habe.
Ich habe euch letztes Jahr in Osnabrück gesehen und da waren auch noch einige Metalheads im Publikum zu sehen. Ihr habt also eure alten Fans mitgenommen und wohl auch neue gefunden. Was meinst du?
Vincent Cavanagh: Es sind nicht nur die alten Fans, die uns über die Jahre die Treue gehalten haben. Darunter findet man auch viele Hörer, die uns neu entdeckt haben. Besonders auch in England. Es gibt auch Leute, die uns komplett neu für sich entdecken, da unsere aktuellen Alben viel besser als alle vorigen Werke sind. Es besteht momentan ein großes Interesse. Ich bin sehr froh darüber.
Obwohl eure musikalische und lyrische Ausrichtung nicht besonders hart ist, was unter den früheren Fans zu einigen Mißverständnissen führen konnte. In gewissen Szenen tendieren die Hörer zu gewissen Vorerwartungen.
Vincent Cavanagh: Ich gehe davon aus, dass die Hörer viel komplizierter gestrickt sind als du das hier darstellst. Man muss mehr auf die Individuen eingehen. Jeder Metalfan, den ich kenne, hört auch andere Musik, wie zum Beispiel elektronische Musik, Pink Floyd oder sogar Jazz. In den Metal fließt auch viel klassische Musik. Das ist also auch ein großer Einfluß für Metalfans. Aber das spielt hier keine Rolle. Ich denke, dass die Grenzen zwischen den Geschmäckern viel durchlässiger sind. Als Fünfzehnjähriger hörte ich viel Metal, ich war aber von den Beatles und Pink Floyd nicht weniger besessen. Der Grund, warum du mir solch eine Frage stellst, ist, weil wir selbst mal zur Metalszene gehört haben. Aber das ist sehr sehr lange her. Ich denke, dass Anathema keiner bestimmten Szene zugeordnet werden sollte, weil unsere Musik viel mehr bietet.
Um nochmals auf das Konzert in Osnabrück zurückzukommen. Dort zeigte sich auch eure Entwicklung, denn ihr haltet euch mit eurem „Konzept“ nicht an Genre-Klischees.
Vincent Cavanagh: Das läßt sich einfach verhindern, wenn du nur für dich selbst die Songs schreibst. Wir interessieren uns nicht dafür, Texte für ein bestimmtes Genre oder einen Stil zu schreiben. Wir schreiben über sehr persönliche Dinge. Für uns ist das einzigartig.
Gerade Liebe scheint den Mittelpunkt eurer Texte auszumachen.
Vincent Cavanagh: Ja, genau wie in unserem Leben auch.
Ich denke, dass dies eine besondere Ausdrucksweise im Feld der „Doom-Kultur“ darstellt.
Vincent Cavanagh: Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich hier auf den Doom beziehst. [Ich verstand es als musikalische Genre-Bezeichnung; Vincent nahm eher den eigentlichen Wortsinn wahr. -DI] Bei uns geht es viel mehr um das Konzept Liebe als um Untergang. Ich kann das bei uns in einzelnen eher brutaleren Parts der Musik finden. Man kann es auch als eine Haltung der Romantik verstehen. Wir haben uns vor ungefähr zehn Jahren in dieser Bewegung zu Hause gefühlt. Inzwischen bewegen wir uns in anderen Gefilden.
Ich sprach vorhin von der „Szene zwischen den Szenen“. Eine wichtige Person in dieser Szene ist Steven Wilson, der euer aktuelles Album produziert hat.
Vincent Cavanagh: Wilson produzierte nicht unser neues Album. Danny und ich haben unser jüngstes Kind selbst produziert. Wilson hat den Mix übernommen, nachdem schon alles aufgenommen war. Er hat unserem Kind noch den letzten genialen Schliff zukommen lassen. Wilson besitzt ein sehr präzises Ohr und macht sich viele Gedanken. Er arbeitet sehr methodisch und zugleich sehr schnell. Es ist faszinierend, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Ich habe dabei viel lernen können. Er besitzt einen sehr ruhigen und ausgeglichenen Charakter, als Band kann man dementsprechend einfach mit ihm arbeiten. Wir kennen uns nun einige Jahre. Es war eine Freude, mit ihm arbeiten zu können. Gerne greife ich in Zukunft erneut auf sein Können zurück.
Es bestehen ja durchaus Parallelen zwischen euren beiden Gruppen.
Vincent Cavanagh: Es war vor ungefähr zehn Jahren, als ich zu Hause einen Anruf von Steven Wilson bekam. Ich kannte ihn zu dieser Zeit noch nicht. Er sagte mir: Ich habe eure Musik gehört und denke, dass wir mal etwas zusammen machen sollten, vielleicht ein gemeinsames Konzert spielen. Ich antwortete dann: Ja, das hört sich gut an, wir könnten mal CDs tauschen. Wir bemerkten dann, dass wir in eine ähnliche Richtung gehen. Das finde ich wirklich spannend. Wir haben wohl einige Gemeinsamkeiten in unserem Leben.
Würdest du denn zustimmen, dass sich Anathema in einer Traditionsreihe von britischen Spherical Rock-Bands befinden?
Vincent Cavanagh: Wir wandeln uns ständig. In unserer Musik kann man viele verschiedene Einflüsse und Dynamiken finden. Ich finde deinen Vorschlag Spherical Rock gar nicht mal schlecht, denn es bringt unseren Sound gut auf den Punkt. Thom Yorke wurde mal gefragt, welche Musik Radiohead spielten. Er antwortete: „Wir sind wohl eine Art von Rockband?“ Ich möchte dieser Aussage nicht viel mehr hinzufügen. Ich kann aber mit der Bezeichnung „spherical“ gut leben.
Lyrisch unterscheidet ihr euch, wie bereits angesprochen, auch vom Gros der härteren Rockbands, da ein Großteil derselben einen positiven Eindruck hinterlässt.
Vincent Cavanagh: Verfolgt nicht jeder Mensch einen solchen Weg? In kleinen Details die Schönheit der Welt zu entdecken? Wir versuchen das doch seit Beginn unserer Zivilisation. Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen schon immer danach strebten, Kunst zu schaffen, über ihr Leben hinauszukommen. In manchen Augenblicken solltest du dein eigenes Tun betrachten, schauen, was du eigentlich machst. Es hilft den Menschen, für eine kurze Zeit gewisse Dinge zu beleuchten. Wir wollen natürlich niemanden bekehren. Es hängt von einem persönlich ab, wie man sein Leben führt, und man sollte auf keinen Fall Ratschläge von Rockstars entgegennehmen. Das kann nie gutgehen! (Lacht.) Das sollte man nicht zur Regel machen. Es hängt von der jeweiligen Person ab.
Mit dieser Art von Texten macht ihr euch ein Stück weit auch verletzlich.
Vincent Cavanagh: Es spendet dir letztlich mehr Kraft, denn es zwingt dich als Textschreiber auch dazu, dich damit auseinandersetzen. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber im UK ersäuft man besonders als Mann gerne seinen Frust in Alkohol und redet nicht über diese Themen. Mein Vater und viele Bekannte haben es so gehalten. Wenn du in eine Situation gerätst, in der du diese Themen aussprichst, wird es dich sicher weiterbringen. Du verstehst die Dinge zunehmend besser und es hilft dir dabei, selbstbewusster zu werden. Das scheint mir ein positiver Effekt zu sein.
Vielleicht kann Anathemas Musik als eine Anregung verstanden werden, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen?
Vincent Cavanagh: Wir wollen nicht unbedingt anderen Menschen helfen, sondern wir wollen diese Dinge einfach ansprechen, aus uns selbst herausbringen. Wenn die Hörer darin etwas wiederfinden, freut es uns, aber das ist nicht unsere eigentliche Intention.
Dazu fällt mir ein: Man könnte euren Albumtitel „A Natural Disaster“ ja nicht nur auf eine Naturkatastrophe, sondern auch auf persönliche Katastrophen beziehen?
Vincent Cavanagh: Das stimmt. Wir benutzen viel bildliche Sprache in unseren Texten.
Dann musste Vincent zur Fotosession fürs neue Album.