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28. Juni 2010
Dominik Irtenkauf
für satt.org

Sonisphere Festival

Verdroschen,
nicht vermüllt

Es muss mit dem Alter der Musiker zusammenhängen: Warum sollten sich Dave Mustaine (Sänger und Gitarrist bei Megadeth) und Lars Ulrich (Schlagzeuger bei Metallica) noch gemeinsam auf die Bühne wagen, nachdem Mustaine in den frühen Achtzigern bei Metallica recht ungehalten das Handtuch geworfen hat? Metallica, die Superstars des Mainstream Metal, laden drei weitere Bands, mit denen sie laut Selbstaussage im Videointerview die »New Wave Of American Metal« begründeten, auf Tour ein.

Am 22. Juni wird ihr Konzert aus dem Vasil-Levski–Stadion in Sofia in die ganze Welt ausgestrahlt. Und zwar live. Auch Münster ist dabei. Im Cineplex hinterm Bahnhof machen es sich schwarzgekleidete Metaller auf den Parkett- und Logenplätzen gemütlich. Während der Liveübertragung kommt immer wieder ein Mitarbeiter des Kinos in den Saal und fragt, wer Bier möchte. Der Service macht Sinn, denn während des Konzerts seinen Sitzplatz zu verlassen, wäre ein Sakrileg, erlebt man doch einen geschichtsträchtigen Moment. Ja, man richtet sich als Altmetaller (wenn auch erfreulich viele junge Gesichter bei diesem Konzert auftauchen) ein und wartet noch 25 Minuten bis zum eigentlichen Gig. Ein Interview mit Lars Ulrich, Scott Ian (Gitarrist bei Anthrax) und Dave Mustaine überbrückt die Zeit. Sie salmonieren über damals, als Anthrax noch mit Megadeth auf Tour gingen und sich Metallica angeblich noch von Megadeths Scheiben inspirieren ließen. Es fällt auf, daß Slayer außen vor bleiben. Kerry King, seines Zeichens Gitarrist der Thrash-Metal-Combo, kommt anschließend gesondert vor die Kamera. Er antwortet auf die Frage, wann er von dem Plan gehört hat, die vier Speerspitzen des Thrash Metals auf einer Tour zusammenzubringen: »Von unserem Management. Nein, ich glaube, die Journalisten haben davon gesprochen.« Er nimmt diese Aussage gleich wieder zurück. Interessant bleibt doch, wie sich Slayer ein wenig aus diesem »one big family«-Ding raushalten.

Anthrax beginnen den dröhnenden Reigen. Ihre (kommerziellen) Glanzzeiten sind längst vorbei, ihr Deal beim Major Atlantic längst aufgelöst. Jetzt teilen sie ihr Schicksal mit extremeren Metalbands auf Nuclear Blast, einem Independentlabel aus Deutschland, das längst in die Reihen der Großen aufgestiegen ist. Sie ziehen die Klassikerkarte: »Caught In A Mosh« (mit dem sie passenderweise beginnen), »Indians«, »Antisocial« (zu dem die obligatorischen Fangesänge erschallen) und »I Am The LwA«. Obwohl es noch sonnenheller Nachmittag ist, lassen sich die Thrasher nicht beirren. Sie sind spielfreudig und die bulgarische Meute dankt es ihnen. Warum eigentlich die Balkanmetropole? Einerseits wird es steuerliche Vorteile mit sich bringen, andererseits – abgesehen von logistischen Überlegungen – könnte der Osten auch als Region des Metals mit noch großem Fanpotential angesehen werden. Ganz nach dem Motto: We go where no man has gone before! Die Big Four-Tournee macht in Bulgarien unter dem Label des Sonisphere Festivals Station. Eigentlich hätten auch Heaven & Hell mit Ronnie James Dio am Gesang spielen sollen. Leider ist der charismatische Musiker am 16. Mai diesen Jahres an Magenkrebs verstorben. Die Amerikaner zollen dem Heroen des Metal Tribut, indem sie in ihren eigenen Klassiker »Indians« nach dem obligatorischen Wardance, das heißt einem instrumentalen Teil, in dem den Fans die Chance zum Kopfschütteln und wildem Pogo gegeben wird, in Black Sabbath’ »Heaven And Hell« übergehen lassen. Anthrax’ aktueller Sänger Joey Belladonna mit seinem melodischen Gesang kann wie kein anderer Interpret des Festivals dem verstorbenen Dio die letzte Ehre erweisen.

Dass Megadeth direkt im Anschluss spielen, stellt ein kleines Ding der Unmöglichkeit dar: Eigentlich müsste ein neues Drumkit aufgebaut werden. Auch die Kulissen können sich nicht einfach aus dem Nichts realisieren. Ein erstes Anzeichen, daß es sich im Cineplex doch nicht um eine Liveübertragung im reinen Sinne des Wortes handelt. Egal – Dave Mustaine erscheint in schwarzer Cordhose mit leichtem Schlag und weißem Rüschenhemd: Nicht das gängige Bild eines Thrash Metal-Musikers. Im Hintergrund türmt sich hingegen ein einwandfrei thrashiges Repertoire auf: Den Backdrop ziert das Coverartwork des 1990 erschienenen Albums »Rust In Peace«. Neben dem Schlagzeuger und hinter den zwei Gitarristen und Bassisten erheben sich Stellwände, die Frachtcontainer mit den Aufschriften »Top Secret« und »Fragile« zeichnerisch abbilden. Megadeth greifen in die Mottenkiste ihrer Bandgeschichte und präsentieren alte Songs, von ihrem kommerziellen Durchbruch »Countdown To Extinction« Smasher wie den gleichnamigen Titeltrack und »Skin O’ My Teeth«. Mustaine spielte einst bei Metallica, zerstritt sich mit der Band und gründete daraufhin sein eigenes Ding: Megadeth. Wie Metallica konnten sie Anfang der Neunziger Metal in den Mainstream lotsen. Mit der Zeit entwickelte sich Megadeth zu einem eher rockigen Sound. Jetzt spielt Mustaine auf einer Flying V, zeigt also, dass hier der Metal allein zählt. Über seine Probleme mit dem Gesang täuscht das nicht hinweg. Er ist für ein aggressives Knurren seit eh und je bekannt. Bei einem Großteil der Stücke versucht er sich in melodischem Singsang, was aber nicht besonders angemessen im Gesamtverband der Musik scheint. Zugegeben, der Rezensent ist kein ausgesprochener Fan der Band je gewesen. Ein Studienfreund, der mit Freundin auch dem Ereignis beiwohnte, meinte, Mustaine würde heute wohl noch alles schlucken, dieses Mal eben die Pille seiner Frau. Es wäre jedoch ungerecht, Megadeths wesentlichen Beitrag zum Gelingen der Big-Four-Tournee zu negieren. Die Arbeit an der Gitarre beeindruckt und lockert den althergebrachten Thrash-Metal-Einschlag immer wieder positiv auf.

Aber was ist das überhaupt, Thrash Metal? Was macht seinen besonderen Sound, denn es gibt einen solchen, aus? Klären wir das schnell vor Slayers Auftritt. Unbestritten gibt es viele Journalisten, die gerne aus Unachtsam- oder Böswilligkeit das h wegstreichen und den guten alten Thrash Metal zum Müllmetall verkommen lassen. Dabei rührt die Genrebezeichnung vom englischen Verb »to thrash« her und könnte in lautlicher Anlehnung vielleicht am besten mit dreschen übersetzt werden. Bei dreschen denkt ein Landei unter Umständen an die Dreschflügel, mit denen das Getreide bearbeitet wird. Hier paßt der Titel eines Metallica-Liedes gut: »Harvester Of Sorrow«, das auch in Sofia gespielt wurde. Man wird getreten und verdroschen, hat durchweg die Arschkarte gezogen und gibt doch nicht auf. Thrash Metal beruht musikalisch auf einer Rhythmusfokussierung – statt wie in extremeren Richtungen, also Death- oder Black Metal, zuweilen aufs Gaspedal zu drücken, legen Thrash Metal-Bands en gros mehr Wert auf rhythmisch ausgefeilte Passagen, die zum Moshen, sprich Haareschütteln und rhythmischen Bewegen des Oberkörpers, einladen. Ein Großteil der Bands beschäftigt sich in einzelnen oder in allen Texten mit sozialen Missständen und apokalyptischen Endzeiterwartungen. Man betrachte die Titelbilder der Alben der großen Vier und ein erster wesentlicher Punkt des Thrash Metal ist erkannt. Weiterhin auffällig ist, dass sich alle vier Logos der Bands, wie sie sich Ende der Achtziger präsentieren, in ihrem Design ähneln. Der symmetrische Aufbau wie auch besonders die Typographie signalisiert für jeden Metalkenner eindeutig das Bekenntnis zum Thrash. Jeder Buchstabe der Logos ist lesbar – Metallicas Logo darf darüber hinaus wohl als das bekannteste Logo außerhalb der Metal-Kulturwelt bezeichnet werden. Es gab und gibt natürlich auch subtile Abweichungen vom Idealtypus dieses Sub-Genres des Metals. Längst nicht alle Bands sind politisch bewußt. Ein anderer Teil bekennt sich, wie später der Black Metal, zu Okkultismus, Satanismus und ähnlichen Inhalten.

Im Gegensatz zu den anderen großen Drei entstammen Slayer dieser Richtung. Eine riesige Marshall-Verstärkerwand ziert die Bühne, als sie mit »World Painted Blood«, einem aktuellen Song, ihren Auftritt beginnen. Kerry King, Gitarrist, trägt am linken Arm meterlange Nägel, eine Kette hängt an seiner Hose, wahrscheinlich an den Gürtelösen festgezurrt. Jeff Hanneman, anderer Gitarrist, trägt Gladiatorboots. Dann ertönt »War Ensemble«. Aggressiver Klang, vorangetrieben durch die wahnwitzigen Solos von Hanneman und King, Dave Lombardo an den Drums gilt zurecht als einer der besten Drummer der Metalwelt, Tom Araya am Bass und Gesang trägt ein Sportshirt. In sein langes lockiges dunkles Haar schleichen sich bereits graue Strähnen. Er wirkt noch jünger als Belladonna. Anthrax‘ Sänger merkt man das fortgeschrittene Alter im Gesicht deutlich an. Doch beide sind fit und halten die Shows durch, was angesichts des wuchtigen Sounds ihrer Musik schon erstaunt. Wie lange werden sie die Flagge des Metals noch hochhalten können? Gehen sie irgendwann dazu über, Singer-/Songwriter-Folk zu spielen? Slayer-Songs in Akustikversion, interpretiert von Araya & His Handsome Old Fellows? Nach zwei Songs legt King sein Nagel-Armband ab. Macht sich beim Tapping auf dem Gitarrenhals dann doch nicht so gut. Wie dem auch sei, Sofia und dank ihm auch Münster und der Rest der Welt, wissen jetzt: Slayer sind die Thrashhaltigsten ihrer Mitstreiter. Sie modernisieren den Sound gar. »South Of Heaven«, »Seasons In The Abyss«, »Chemical Warfare« und der absolute Knaller: »Raining Blood«. Hanneman und King stehen mit ihren Gitarren vor der Verstärkerwand, zelebrieren das noch undeutliche Riff. Dazu trommelt Lombardo auf den Tom-Toms, bereitet den Ausbruch vor, Araya platziert sich mit seinem Bass vor dem Drumkit. Klassische Ausgangskombination, dann hagelt es Blitzschläge und Araya wie auch Lombardo lächeln über das ganze Gesicht. Alte Herren erleben einen zweiten Frühling. Die Fans vor der Bühne ticken aus, eröffnen den Pogotanz, einen Circlepit. Slayer mögen älter geworden sein. Sie stehen bei einem Sony-Sublabel unter Vertrag. Ihrer prinzipiellen Haarigkeit und Unverträglichkeit tut das keinen Abbruch. Das Publikum kriegt das mit und honoriert es frenetisch. Überhaupt hat man den Eindruck, dass einige der Anwesenden an diesem Abend gefühlte und geschätzte 15 Jahre jünger geworden sind.

Metallica, Superstars der Metal-Mercedes-Klasse, hatten die Idee zur Tour. Zwei gute Gründe, sie den Abend beschließen zu lassen. Kenner wissen: Metallica lassen sich mit ihrem Bühnenaufbau nicht lumpen. Hinter dem Schlagzeug zieht sich eine Leinwand über die gesamte Bühnenlänge, links und rechts sind ebenfalls Leinwände angebracht. Die vielen tausend Besucher können also stets einen Blick auf die vier Musiker werfen. Sie sehen: James Hetfield trägt Bürstenhaarschnitt, Lars Ulrich hat schon längere Zeit keine Matte mehr. Ob das mit altersbedingtem Haarschwund zusammenhängt, darüber mag man spekulieren. Kirk Hammett an der Gitarre hat längst wieder seine Lockenpracht wachsen lassen und Trujillo am Bass ist generell jenseits von Gut und Böse. Wie der Tieftöner in Hocke wie wild über die Bühne fegt, ist beeindruckend. Hetfield begibt sich auch in die Kniebeuge und schäkert mit dem Latino, der einst bei Suicidal Tendencies spielte. Metallica spielen direkt als zweites Stück »For Whom The Bell Tolls« und zeigen klar und deutlich, wer den Thrash Metal erfunden hat. Mustaine ist selber geschichtsbewusst und bezieht sich im gemeinsamen Interview auf die Bay Area-Helden Possessed, die noch heute im extremen Metalunderground als legendäre Urväter des Thrash Metal angesehen werden. Metallica haben ganz andere Dimensionen erreicht: Das schwarze Album schlug ein wie eine Bombe. Auf der letzten Scheibe »Death Magnetic« wagten sie den Schulterschluß mit den späten Achtzigern, mit der eigenen Vergangenheit. Konsequent spielen sie unter den ganzen Klassikern in Sofia auch ein neues Stück: »Cyanide«. Ansonsten bringen sie mit routinierter Leidenschaft »Master Of Puppets«, »Enter Sandman«, »Harvester Of Sorrow«, »One« (mit beeindruckender Pyroshow) und mehr. Das mag ernüchternd klingen, aber selbstverständlich prägten Metallica mit ihren Alben bis »...And Justice For All« Generationen von Metalheads. Von ihrem ungestümen Debüt »Kill Em All« spielen sie »Hit The Lights«. Der Konzertmarathon, den Metallica seit Jahrzehnten hinlegen, macht sich selbstverständlich an diesem Abend bemerkbar. Die vier Musiker beherrschen ihre Stücke aus dem Eff-Eff. Hetfield läuft mehrmals die Rampe hoch, die bereits von früheren Touren bekannt sein dürfte. Hinter Lars Ulrich, der bekanntlich mit den Armen weit ausholt, als spielte er Tennis und seine Toms streichelt, steht Hetfield und greift in die Gitarre. Metallica sind die einzigen, die eine Ballade auf die Bühne bringen. »Nothing Else Matters«, ganz klar. Eigentlich nur eine Halbballade, doch den bulgarischen Frauen kommen die Tränen. Im ersten Zugabenblock bitten Metallica die Kollegen auf die Bühne und intonieren einen Klassiker der New Wave of British Heavy Metal: »Am I Evil« von Diamond Head. Belladonna, Mustaine und Hetfield singen »Your mother was a witch / She was burned alive // Am I evil / Yes I am«. Mustaine und Hetfield nochmals gemeinsam auf einer Bühne zu sehen, grenzt metalhistorisch gesehen an ein Wunder. Ulrich erhält Unterstützung von drei weiteren Drummern. Dave Lombardo bleibt das einzige Mitglied von Slayer , das beim come together mitmischt. Zumindest gesellt sich Sänger Araya noch zum Gruppenfoto, bevor Metallica dem wiederbelebten Thrash Metal die Krone aufsetzen können: Das über zehnminütige »Seek And Destroy« versetzt kurz vor dem Ende die Meute nochmals in heftige Moshaktionen. Danach ist Sense.


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