Manchester – Berlin – Brighton: The Charlatans treffen Crass. Plus Platten von Hurts, !!!, Andreya Triana, The Pipettes und Rose Elinor Dougall.
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Foto: Tom Sheehan
The Charlatans live 2010: 2. November: FZW, Dortmund 3. November: Backstage, München
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Manchester I:
The Charlatans – Who We Touch
The Charlatans stiegen 1990 mit »The Only One I Know« in die britischen Top 10 ein. Es war das Jahr, in dem die Musikindustrie das Format Langspielplatte beerdigen wollte. Zum Glück vergeblich: Unterziehen wir zwanzig Jahre nach Erscheinen ihres Debüts »Some Friendly« das neue Album »Who We Touch«, produziert hat Youth, einem imaginären Vinyltest. Stellen wir uns vor, wir legten eine große schwarze Scheibe auf einen runden Teller und senken die Nadel. Seite A ist eine kleine Hitsammlung, durch entspannt melodischen Gitarrenpop mit »My Foolish Pride« und »Your Pure Soul« an Alben wie »Tellin’ Stories« (1997) erinnernd. Dazu gibt es hier einen Höhepunkt: Das eher kantige, von Gitarrist Mark Collins stammende »Smash The System«. Tim Burgess’ Lyrics können auf verschiedenen Ebenen verstanden werden: »I Know I Should Play Your Games/ But I Don’t Deal With Crooks.« Eingeleitet von der Temponummer »Love Is Ending« und beendet vom wieder sehr entspannten »Intimacy« wird diese A-Seite oft und gerne gehört werden. Vor allem von Musikliebhabern, welche Burgess, Blunt, Rogers und Co. schon immer gemocht haben.
Die Titel 6 bis 10 sind deutlich experimenteller und eigenwilliger. Ein Luxus, den sich eine Legende nach zwanzig Jahren einfach leisten kann. Interessant: Auch die B-Seite beginnt mit einem Abschiedssong. In »Sincerity« (Auszug: »With Care It Comes To Me/ I Have Autonomy And New Possibilities«) klingen auch Krautrock-Elemente und Echos des Band-Klassikers »Sproston Green« an. Nicht alle Fans werden freilich die Nadel bis zum letzten, eher zähen Song »You Can Swim« und dem Hidden Track »I Sing The Body Eclectic« laufen lassen. Denn: Während der beeindruckende Vorgänger »You Cross My Path« ein Manchester-Album und eine deutliche Hommage an New Order war, nutzt Tim Burgess »Who We Touch«, um sich vor dem Anarchopunk-Kollektiv Crass zu verbeugen, das ihn selbst sehr geprägt hat. Auf dem düster morbiden »I Sing The Body Eclectic« sprechsingt Crass-Drummer Penny Rimbaud. Auch das großartige Cover dieses Albums kommt übrigens aus dem Hause Crass: Die Collage hat Gee Vaucher angefertigt. Testergebnis: Jede Platte hat zwei Seiten. Und die Charlatans haben die Bands, die von ihnen selbst beeinflusst wurden, bereits lange überlebt. (Thomas Backs)
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Manchester II:
Hurts – Happiness
Diese Platte kann sich nicht entscheiden, ob sie ihre Hörer zum Gähnen oder zum Weinen bringen möchte. Wo die Charlatans sich verneigen, plündern diese beiden. Sänger Theo Hutchcraft und Keyboarder Adam Anderson alias Hurts treiben das Achtzigerjahre-Revival auf die Spitze, indem sie die eklige Seite besagten Jahrzehnts »wiederbeleben«. Die Anführungszeichen stehen hier, weil wenig Leben in »Happiness« steckt – wobei nicht beklagt werden soll, dass dieses Album kühl durchkalkuliert und von vorne bis hinten zusammengeklaut ist. Das machen viele Bands so und ist im Pop kein Verbrechen, im Gegenteil. Auch die als modisches Stilgefühl verpackte, bei genauerem Hinsehen ziemlich platte Boygroup-Stereotypie (ein geleckter Dandy mit Scheitel und Button-Down-Kragen, ein »Arbeitertyp« mit offenem Hemd und hochgekrempelten Ärmeln) ist nicht der Grund für das unbehagliche Gefühl, das Hurts hinterlassen. Nein, die Kopf- und Bauchschmerzen entstehen beim Anhören: Hurts verkleistern ihre auf dunkel-depressiv getrimmten Elektronikhymnen mit unfassbarem Pomp und Bombast, in etwa vergleichbar mit Ultravox' »Vienna« und »You’re The Voice« von John Farnham – mit dem entscheidenden Unterschied, dass Ultravox und Farnham wenigstens Inbrunst und Pathos an den Tag legten. Hurts wissen nichts von Inbrunst, Hurts sind reine Sounddesigner. Hinter ihren Oberflächen gähnt die Leere. Um das Achtziger-Paket zu komplettieren, dürfen ein paar tanzbare Nummern natürlich nicht fehlen: Hier dienen Bros und Rick Astley als Vorbilder, allerdings ohne deren cheesy Humor. Dazu triggern Hurts mit keyword-artigen Songtiteln kollektive Poperinnerungen an: »Wonderful Life«, »Devotion«, »Water«, »Unspoken«, »Stay«: Klingelt’s? Bis auf Hutchcrafts an George Michael erinnernde Stimme ist »Happiness« durchweg fies und mies. Es sei denn, Hurts wären eine Comedy-Truppe, die den Eighties-Hype persifliert. Das wäre ihnen dann tatsächlich gelungen. (Christina Mohr)
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Warp/Rough Trade »
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Berlin:
!!! – Strange Weather, Isn’t It?
Die vormalige Frontstadt beider Blöcke übt noch immer einen unwiderstehlichen Reiz auf Pop-KünstlerInnen aus aller Welt aus: Die New Yorker Band !!! (oder auch Chk Chk Chk, irgendwie muss man die Zeichen ja aussprechen) tritt in die Fußstapfen von Nick Cave, David Bowie, Iggy Pop, Lou Reed und vielen anderen, die sich zum Musikmachen in die einst doppelte Hauptstadt begaben. Ihre aktuelle Platte »Strange Weather, Isn’t It?« wollen !!! ausdrücklich als Berlin-Album verstanden wissen. Ein gutes halbes Jahr hielten sich die Musiker um Sänger Nic Offer in der Hauptstadt auf, um die Metropole auf sich wirken zu lassen. Das scheint ihnen gut bekommen zu sein, denn bis vor kurzem stand es mehr als prekär um !!!: Drummer Jerry Fuchs starb mit nur 34 Jahren bei einem tragischen Unfall, drei weitere Mitglieder verließen die Band noch vor der Produktion. Das von !!! vertonte Berlin klingt hingegen enorm vital und tanzbar, erinnert dabei streckenweise an das New York der frühen Achtziger und an London zu Rave-Zeiten. Bands wie Konk!, ESG und Liquid Liquid, aber auch die Stone Roses kommen einem in den Sinn: !!! feiern den Eklektizismus mit dick gezupftem Bass, technoidem Elektro-Groove und hypnotischer Perkussion. »Strange Weather...« wirkt weniger verfrickelt als das Vorgängeralbum »Myth Takes«, strukturierter und großräumiger, dabei in langen, dunklen Gängen tanzend – New Yorker Musikforscher auf dem Weg ins Berghain. Kuhglocken-Disco, House, Wave-Funk und Pop sind dabei !!!’s Wegmarken; »AM/FM«, »The Most Certain Sure«, »Wannagain Wannagain« oder »Even Judas Gave Me A Kiss« meistern mühelos den Spagat zwischen körperbetontem Tanzrausch und eingängigem Großstadt-Pop. »Strange Weather, Isn’t It?« ist verwirrend zeit- und ortlos. Ganz wie Berlin. (Christina Mohr)
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Brighton I:
Andreya Triana – Lost Where I Belong
Das britische Label Ninja Tune feiert zwanzigsten Geburtstag und beschenkt sich und seine Fans mit dem Debütalbum von Andreya Triana. Auf den ersten Blick passt die Musik der im englischen Seebad lebenden Sängerin und Komponistin nicht zum restlichen Ninja Tune-Katalog, der in erster Linie für kühne Elektronik-Jazz-Experimentalsounds á la Cinematic Orchestra oder Coldcut steht. Doch Trianas prägnante Soulstimme war schon auf einigen Ninja-Produktionen zu hören, zum Beispiel auf dem letzten Album von Mr. Scruff. Auch mit dem Londoner DJ und Producer Simon Green alias Bonobo arbeitete sie zusammen, gemeinsam mit ihm hat sie jetzt »Lost Where I Belong« aufgenommen und schlägt für Ninja Tune ungewohnte Saiten an: Leise, zurückhaltend, fast spartanisch wird mit Instrumenten und Samples umgegangen, im Mittelpunkt steht Andreyas brüchiger, gleichzeitig kraftvoller Gesang, der, man kann es nicht anders sagen, den modernen Soul neu definieren wird. Keine schnellen, billigen Hits sind hier zu finden, kostbare Songperlen wollen entdeckt werden. Funk, Folk, Blues, Bossa Nova und Jazz verbinden sich entspannt und doch intensiv mit locker groovendem Soul. Stücke wie die Single »A Town Called Obsolete«, der sacht tanzbare Funk von »Up In Fire« und das von Marimbas untermalte »Draw The Stars« gehen unter die Haut und bleiben dort. »Lost Where I Belong« ist mehr als ein modisch-melancholischer Soundtrack für den Herbst. Die neun Lieder sind das selbstbewusste Statement einer jungen Künstlerin, deren Talent sich nicht darin erschöpft, Dekoration für die Werke anderer Leute zu sein. (Christina Mohr)
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Brighton II:
The Pipettes – Earth vs. The Pipettes
The Pipettes, das an den Fifties und Sixties orientierte Damenquartett, schrumpfte zum Duo mit Herrenbegleitung und auch modisch und musikalisch sind sie kaum wiederzuerkennen. Die verbliebenen Schwestern Gwenno und Ani Saunders hängten die Polkadot-Petticoats in den Schrank und warfen sich stattdessen in glitzernde Space-Outfits. Ja, auch sie lassen auf »Earth vs. The Pipettes« die achtziger Jahre aufleben. Neuerfindungen sind ja grundsätzlich nichts Schlechtes, schade nur, dass der Pipettes-Relaunch ein bisschen altbacken daherkommt. Schon das übergestülpte Setting wirkt reichlich abgefrühstückt (Erdenbewohner gegen Pipettes from outer Space, klingelt’s abermals?) und auch das musikalische Konzept von Producer Martin Rushent hätte der Überarbeitung eines, nun ja, moderneren Erdlings bedurft. Die Idee, fröhlichen Discopop á la Abba, Bananarama, Pointer Sisters oder Silver Convention in die Neuzeit zu transferieren, ist an sich sehr hübsch. Songs wie »Ain’t No Talkin«, »Stop The Music« oder »I Always Planned To Stay« reichen in punkto Eingängigkeit auch an die Hits der Vorbilder heran, aber in Gänze klingt Earth vs. The Pipettes“ so, als hätte Mr. Rushent seit Human Leagues »Dare« (1981), seinem Producer-Geniestreich, keine neue Musik mehr gehört. Spätestens hier sollte klar geworden sein: Die Pipetten überlassen älteren Herren viel zu viel. Verschweigen wir es nicht, auch die ursprünglichen Pipettes mitsamt ihres Phil Spector-Ronettes-Appeals entstanden in Männerhirnen, unter anderem dem ihres Managers Bobby Barry. Aber der wimpernbetuschte Charme von Hits wie »Pull Shapes« und »Your Kisses Are Wasted On Me« war unschlagbar, versprühte Spaß und Originalität. Die »neuen« Pipettes kramen zwar weiterhin im Retro-Fundus herum, klingen aber wie eine zweitklassige Abba-Coverband. Dafür sollten sie sich eigentlich zu schade sein. (Christina Mohr)
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Brighton III:
Rose Elinor Dougall – Without Why
Hingegen Ex-Pipette Rose Elinor Dougall! Durchaus nostalgisch, aber kein bisschen altbacken fällt ihr Solo-Debütalbum »Without Why« aus. Die Sängerin und Gitarristin legt eine zeitlos perfekte Platte vor, die so nur aus England, dem Mutterland des Pop, kommen kann. Dass Dougall eine tolle Stimme hat, bewies sie nach ihrem Ausstieg bei den Pipettes vor zwei Jahren zum Beispiel mit gemeinsamen Aufnahmen mit Mark Ronson, am besten aber klingt sie allein: Die elf von Lee Baker produzierten Stücke auf »Without Why« gehören zum Schönsten, was man in diesem Herbst zu hören bekommen wird. »Carry On«, »To The Sea« oder die Vorabsingle »Another Version Of Pop Song« schwingen sich sanft-melancholisch in Ohr. Herz und Hirn, Traurigsein und Heiterkeit gehen Hand in Hand. Dreampop, Chanson, klassischer britischer Pop: Rose Elinor Dougall schöpft aus einem reichen Erbe und erweist sich als würdige Verwalterin, wobei dieser Begriff nicht unpassender sein könnte. Denn als Sängerin kann sich Dougall ohne Weiteres an Stars der sechziger Jahre wie Sandy Denny und Sandy Shaw messen, als Songwriterin mit Legenden wie Joe Meek und Burt Bacharach. Auch Bands wie The Sundays, Stereolab, die frühen Cardigans und ja, sogar THE SMITHS kommen einem in den Sinn – nur dass Rose Elinor eine kräftige, warme Altstimme besitzt, die man einer 24jährigen erstmal nicht zutraut. Reif und erfahren klingen ihre von Harfen, Geigen, Tambourin und Flöten untermalten Songs, die trotz unterschwelliger Dunkelheit vorwiegend schwebend-schwerelos und berückend sind. Vor dem inneren Auge erscheint rotgoldenes Laub, das als erster Herbstbote sanft von den Bäumen fällt, eine Themse-Brücke im Nebel, eine junge Frau mit hochgeschlagenem Mantelkragen und Stiefeln. Yes, lads and lasses, »Without Why« braucht ihr in den kommenden Monaten. Ohne Wenn und Aber. (Christina Mohr)
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