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Timesig
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Kaum eine Atempause
»My So-Called Life«: Aaron Funk alias Venetian Snares veröffentlicht auf seinem eigenen Label ein elektronisches Tagebuch.
Aaron Funk alias Venetian Snares mag Katzen, Béla Bartók und Igor Strawinski. Seit 13 Jahren veröffentlicht der Mann mit der Metalmähne und dem Bart schwer klassifizierbare elektronische Musik. Sie kommt in halsbrecherischer Geschwindigkeit daher, setzt auf Wiederholungen, Samples und ungewöhnliche Taktarten. Breakcore heißt das Genre. Den Anfang machten Kassettenveröffentlichungen. 1999 erschien dann »Fuck Canada // Fuck America« mit dem Geistesverwandten William Flegal alias Stuntrock als CD-Rom. Eine harsche Angelegenheit. 2001 brachte Funk »Songs About My Cats« heraus, eine vertrackte Liebeserklärung an die Pfotentiere. Dabei kann Funks Musik auch sehr atmosphärisch klingen: »Badminton« (7’’, 2003) und »Moonglow« / »This Bitter Earth« (7’’, 2004) verarbeiten Jazz.
Betörend und bedrohlich geht das auch: »Nymphomatriarch« (2003) besteht aus Aufnahmen, die Funk und seine damalige Freundin Rachael Kozak alias Hecate beim einvernehmlichen Spiel machten. 2005 erschien »Rossz Csillag Alatt Született«. Das Album hat mit Ungarn mehr als den Namen gemein. »My Downfall – Original Soundtrack« (2007) war der bewegende Nachfolger. Funks aktuelle Platte »My So-Called Life«, sein neugegründetes Label Timesig vertreibt sie als CD und Doppelalbum, spielte er einem Freund vor. Der befand, sie erinnere ihn an Tagebucheinträge. Funk meinte eher, eine Sammlung von Kurzgeschichten in Musik gepackt zu haben, stimmte aber zu. Die meisten der zehn Stücke sind tatsächlich innerhalb von einem oder von höchsten zwei Tagen entstanden. Über seine Auswahl sagt Funk: »Dies sind die Tracks, die mir am nächsten stehen. Ich kann mir jeden einzelnen anhören und mich genau an den Tag und meine Gefühle erinnern. Wenn ich mir dagegen einige meiner früheren Alben anhöre, taucht gleich eine ganz bestimmte Lebensperiode vor mir auf.«
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Foto © Venetian Snares
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»My So-Called Life«, so hieß Mitte der Neunziger eine US-amerikanische Fernsehserie, die es bis auf RTL2 schaffte, fängt an mit einem Piano, das nach Spielzeugklavier klingt. Verschachtelte Beats setzen ein. Eine Stimme kündet von Glücksseligkeit, die andere von Hass. Der Track heißt »Posers and Camera Phones«. »Aaron 2«, man ist geneigt, das als Kindheitsreminiszenz zu sehen, setzt getragen ein. Bald ist schon wieder von Hass die Rede. Hinzu kommt Verlust. Kindheit ist ein gutes Stichwort: In weite Strecken des Albums sind Sounds gewoben, die klingen, als würde man auf dem Rummelplatz mit dem Autoscooter eine Massenkarambaloge verursachen. Hat schließlich jeder ordentliche Minderjährige mal getan. »Who Wants Cake« lässt eine Surfrockmelodie auf ein waghalsiges Rhythmusgerüst treffen. Den höchsten Schepperfaktor hat »Ultraviolent Junglist«. Man kann nicht anders, als ihm das dazugehörige »I Am« zu glauben.
Zum Ende hin hat Funk einige Ruhepunkte in sein sonst atemloses Album eingebaut. Die erste Minute von »Goodbye9/Hello10« wirkt fast schon verträumt. Die restlichen 3 Minuten und 45 Sekunden bleiben es sogar. »Sound Burglar« hebt an mit einem wuchtigen Orchestersample: Es wäre nicht völlig verkehrt auf einer Laibach-LP. »Hajnal 2« zitiert ein Stück aus »Rossz Csillag Alatt Született«. Der Titeltrack »My So-Called Life« ist der längste des Albums und pendelt zwischen Ruhe und Aufbruch. Aaron Funks neues Album ist definitiv kein Easy Listening und kein Tankstellen-Techno. Das Cover hat der aus Southern California stammende Künstler Christopher Umana gezeichnet. Er malt anthropomorphe Figuren. Man kann diese Platte hören, wenn man vor Wut schäumt, Erinnerungen bannen oder aber über sie lachen möchte. Und übrigens: Was die einen schwierig nennen, ist den anderen lebensnotwendiger Soundtrack.
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