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9. Oktober 2010
Dominik Irtenkauf
für satt.org

Enslaved - Axioma Ethica Odini

Wertewandel in Walhall

Latein gilt lange Zeit als lingua franca, mit der man sich im Römischen Reich und seinem Nachfolgegebilde, dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, verständigte. Skandinavische Musikgruppen des Black Metals haben längst die Allgemeingültigkeit dieser Sprache für sich oder vielmehr zur Betitelung ihrer Werke entdeckt. »Axioma Ethica Odini« nennen die Norweger Enslaved ihr aktuelles Album. Bereits zwei Monate vor Veröffentlichung verbreiten sie die Meldung über die Presse. Ich werde aufmerksam: Sind die Extrem-Metaller zu Philosophen mutiert?

Das sind sie sicher nicht über Nacht, denn bereits auf dem vielgepriesenen Vorgänger »Vertebrae« verbanden sie ihre hymnische Musik mit tiefgehenden Texten. So weit, so gut. Angesichts einer Bewegung der Underground Literatur-Szene, die sich an einer Theorie des Black Metal versucht, lädt »Axioma Ethica Odini« zu einer genauen Betrachtung ein. Musikalisch setzt es den Weg fort, der sie aus einer Black Metal-Vergangenheit in progressiv-rockige Ausdrucksformen führte. Das Album überzeugt durch die Treue zum eigenen Talent: Wüste gekreischte Vocals mit vorantreibenden Gitarren zu paaren, so dass daraus Musik entsteht, die nicht eindeutig dem Metal oder dem Rock zuzuordnen ist. Eigentlich schon, denn das generelle Problem beim Metal aller Art ist, dass seine Schlagzeugarbeit und die harten Gitarren aus tausenden Klängen erkannt und klassifiziert werden. Bedient sich eine Band dieser Elemente, so gehört sie unweigerlich dem Metalkosmos an. Das Universum ist jedoch ausufernd genug, dass sich Enslaved vom Gros ihrer Mitstreiter unterscheiden. Das machen sie sowohl musikalisch wie konzeptionell deutlich.

  Enslaved
Foto: Indie / Soulfood

In ihrer Musik setzen sich Charakteristika norwegischen Black Metals bis zum heutigen Tag fort. Mittlerweile macht sich, wie bereits auf dem Vorgänger, der Einfluss des Progressive Rocks der siebziger Jahre bemerkbar, ohne jedoch jemals in psychedelisierte Hippie-Gefilde abzudriften. Um die richtige Atmosphäre wird im Black Metal ein großes Aufheben gemacht - Enslaved nehmen an diesem Regelwerk Teil, doch haben sich - zum Glück, ist man versucht zu sagen - vom typischen Wikingerbild gelöst, d.h. auf Bandfotos und auch auf den Tonträgern erscheinen die Bandmitglieder nicht mehr mit Fellen und Helmen bekleidet, auch die historischen Waffen bleiben in der Reservatenkammer. Die Orthodoxie könnte Enslaved eine Abirrung vom traditionellen Weg des Viking Metals vorwerfen, doch es bietet sich gerade bei diesem Paradebeispiel - im Sinne einer besonders talentierten und anspruchsvollen Vertreterin dieses Sub-Genres des Heavy Metals - eine Zuordnung zum Black Metal an. Viking Metal exemplifiziert deutlich die zunehmende Zergliederung der Metal-Genres. Da ausschließlich über Wikinger respektive vergleichbare pagane Ethnien und Kulturen gesungen wird, auch ein deutlicher Einfluss der Literatur des Sword-and-Sorcery besteht, musikalisch aber häufig nur geringfügige Unterschiede zum Black Metal auszumachen sind, plädiere ich dafür, Enslaved dem Black Metal zuzuordnen.

Das Konzept, das besonders auf den letzten beiden Alben ausgearbeitet und vertieft wurde, gibt einiges zu bedenken auf. Ausgehend von Elementen der nordischen Mythologie und heidnischer Symbolik verlassen Enslaved eine wie auch immer geartete Nostalgie und verstehen durch ein Zeicheninventar - wie zum Beispiel die Runen - das menschliche Leben. Der Titel der aktuellen Scheibe weist auf einen speziellen Umgang mit der Welt. Es schließt sich im nächsten Atemzug die Frage an: Was macht eine odinische Ethik aus? Also eine Ethik, die nach Odins Grundsätzen strukturiert ist. Kann eine heidnische Philosophie in heutiger Umgebung fruchten?

Ivar Bjørnson, Rhythmusgitarrist, äußert sich in einem Interview zur neuen Scheibe in der Legacy-Ausgabe Nr. 68 vom August 2010: »Es ist ein langer Weg, denn es ist mühsam, sich von seinen eigenen Vorurteilen zu befreien und sich selbst zu hinterfragen. Da sind wir beim Albumtitel, denn wenn wir uns ethisch hinterfragen, dann hinterfragen wir alle Regeln und Werte, nach denen wir leben. Es geht aber nicht nur darum, neue Regeln aufzustellen, sondern es geht vor allem darum, gewisse Werte zu internalisieren und nach ihnen zu leben. Doch wie gesagt, kann das manch schmerzhafte Erfahrung beinhalten, z.B. wenn man sich von den Vorgaben seiner Eltern oder seiner Lehrer verabschiedet, oder wenn man den Medien misstraut und sich selbst auf die Suche nach eigenen Perspektiven macht. Dabei kann man mehr Dunkles und Böses sich in sich selbst entdecken als man zuvor angenommen hat, und das mag verstörend wirken. Ich habe in meinem Leben viel über mich nachgedacht und in mich hinein gehorcht, um zu erfahren, wer ich wirklich bin. Das hat mir zuweilen traurige und deprimierende Einsichten beschert, denn nicht alles an mir ist toll. Aber ich habe auch ermutigende und sogar absolut erfreuliche Einsichten gewonnen, vor allem dann, als ich herausgefunden habe, dass ich derjenige bin, zu dem ich mich selbst entwickelt habe, und eben keine Marionette von irgendjemand anderem. Ich verlasse mich daher am liebsten auf mich selbst.« (S. 37)

Ist diese Unabhängigkeit von der Außenwelt mit dem Chef des nördlichen Götterhimmels, Odin, in Verbindung zu bringen? Der Vatergott gilt als besonders weise, nachdem er dreimal drei Tage und Nächte mit dem Kopf nach unten an der Weltenesche Yggdrasil gehangen und dadurch die Runen gefunden hat. Um seherische Kräfte durch einen Schluck aus Mimirs Brunnen zu erlangen, opfert er ein Auge. Erst nach einer Leidensphase erlangt der Gott sein Wissen. Salopp gesagt hat also Odin einiges durchgestanden. Es gehört zum Black Metal, sich vermeintlich veralteter Themen anzunehmen und sich nicht absolut politisch korrekt zu verhalten. Enslaved ist als Band jedoch zuzutrauen, dass sie sich Gedanken über ihre Wahl gemacht haben.

Im sogenannten Pagan Metal wird – dem Namen entsprechend – auf das heidnische Erbe zugegriffen. Der Metal wird durch folkloristische Instrumente aufgelockert, um dadurch die Simulation eines mittelalterlichen Lebensgefühls zu erwirken. Verkannt wird hierbei häufig, daß dies selbstverständlich eine historische Rekonstruktion und manchmal mehr noch Fabulation darstellt. Ähnlich wie Tacitus die Germanen in seinen Schriften als unverbraucht dem dekadenten Beispiel seiner römischen Landsleute entgegenstellte, greifen die Pagan Metaller die Vorfahren auf, um an ihnen eine Utopie zu konkretisieren. Ein Gros der Scheiben in diesem Bereich feiert täglich ein Mittelalterspectaculum, so kommt es einem Anhänger der etwas ausgefalleneren Metalkost vor. Textlich zeigt sich zuweilen Haarsträubendes, wenn von Schlacht, Blut, viel Feind – viel Ehr, Heldentod, Wotanskrieger und so weiter gesungen wird. Der Grat zu einer Totalisierung dieser Weltsicht ist ziemlich schmal.

Enslaved pflegen einen anderen Umgang mit diesen Themen, die sich für eine norwegische Band allemal anbieten. Aus der Geschichte des Black und auch Pagan Metals haben Enslaved gelernt und sich zu einem symbolischeren Umgang mit der Mythologie entwickelt. Das zweite Stück »Raidho« bezeichnet die Rune für Reisen und unterhält zugleich einen Bezug zum Rad. Postmodern werden die Runen nicht allein als Kommunikationszeichen der Wikinger verstanden, wenn sie auch in der späten Antike und im frühen Mittelalter vorwiegend für magische und religiöse Zwecke benutzt wurden. In der esoterischen Deutung stehen Runen für ein ganzes Feld von Bedeutungen und Interpretation. In ihnen akkumuliert sich eine Vorstellung: eben bei Raidho die des Reisens. In einem Track-by-Track-Kommentar auf der Webseite ihres Labels Indie Recordings erklärt Ivar, dass er das Reisemotiv musikalisch durch das Riffing umsetzen wollte. Sowohl musikalisch, textlich wie auch konzeptionell wird hier ein Bezug auf die Inspirationsquellen genommen.

Enslaved haben die Signale der Zeit gelesen: Sänger und Bassist Grutle Kjellson meint zu dem sehr vorwärtstreibenden »The Beacon«, dass sich der Text Signale annimmt, die in der eigenen Wahrnehmung gezündet werden, um vor Gefahren zu warnen. In einem Film hatte er gesehen, wie Lichter angezündet wurden, um Unterstützung im Angriff zu erhalten. Auf diese Weise wurden befreundete Dörfer benachrichtigt. Enslaved haben auf »Axioma Ethica Odini« die Signale der Zeit sehr gut verstanden. Statt sich in Orthodoxie zu üben, öffnen sie sich soweit, wie es noch statthaft ist, ohne sich selbst und die eigene Vergangenheit zu verleugnen.

(Ein Interview mit der Band zur odinischen Philosophie wird noch nachgereicht.)


Enslaved@myspace