Die Ramones aus New York schwärmten 1977 gutgelaunt von der »California Sun«, zwei Jahre später veröffentlichten die Dead Kennedys aus San Francisco das zynische »California Über Alles« – in Punkrockkreisen herrschten offenbar unterschiedliche Auffassungen über den sunny state an der Westküste der U.S. Of A. Vielleicht sorgte die Distanz von der Ostküste für das verklärtere Bild der Ramones, Jello Biafra und die toten Kennedys ließen jedenfalls kein gutes Haar an Kalifornien. Die Dead Kennedys mit ihrem atemberaubend schnellen Gitarrensound und dem unverwechselbaren Kreischen ihres damaligen Sängers Biafra sind nur eine von vielen kalifornischen First Wave-Punkbands, die unser liebster Lieblingsjournalist, der britische Autor, Kulturhistoriker und Musikgelehrte Jon Savage auf der Compilation »Black Hole« versammelt hat. In der Zeit von 1976 bis ungefähr 1980 spielten Westküsten-Punkbands wie The Dils, The Screamers, The Zeros, die legendären Germs mit dem tragisch früh verstorbenen Darby Crash, X, The Avengers oder The Weirdos wesentlich kompromisslosere, härtere, rebellischere, schnellere Musik als die New Yorker Gruppen, die häufig aus dem Kunsthochschulenumfeld stammten und einen experimentelleren, auch humorvolleren Stil pflegten. Für Jon Savage erklärt sich dieser Unterschied durch härtere Lebensbedingungen in den Westküsten-Großstädten wie Los Angeles und eine rigide Kulturpolitik, die Punkbands komplett außen vor ließ – die Bands befanden sich sozusagen in einem schwarzen Loch, dem »black hole«, das die Urinals 1979 mit minimalistischen Haiku-artigen Lyrics beschworen. Anders standen die Dinge in NYC, wo sich Plattenfirmen in Goldgräbermanier auf die bunte, verrückte Szene Manhattans stürzten und fast jede Band ihre Chance bekam. Jon Savage will mit dieser Compilation den kalifornischen Punks endlich die verdiente Aufmerksamkeit zuteil werden lassen – auch wenn die meisten Tracks auf »Black Hole« schon Ende der Siebziger aufgenommen wurden. »Black Hole« ist ein sehr überzeugender Beweis dafür, dass Punk nicht tot ist. Jedenfalls nicht diese 26 Stücke, die unter kalifornischer Sonne entstanden sind.
satt.org: Warum erscheint diese Compilation mit über dreißig Jahre alten Songs ausgerechnet jetzt?
Jon Savage: Es gibt keinen wirklichen Grund, außer den, dass alle Songs und Bands es wert sind, dass man sich an sie erinnert. Die Zeit war reif – aber das war sie auch schon vor ein paar Jahren. Die Stücke sind einfach gut, sehr klar, sehr direkt.
Was unterscheidet den Westküsten- vom Ostküstenpunk? Bei amerikanischem Punk denken alle immer zuerst an die Ramones, aber die kamen ja aus Queens/NYC.
Jon Savage: Ich war 1976/77 in San Francisco und Los Angeles und habe viele Bands wie The Dils und The Germs live gesehen – unfassbare Energie! Ich habe auch Fanzinemacher wie Claude Bessy von Slash kennen gelernt, und alle Leute, mit denen ich damals sprach, berichteten das Gleiche: Kalifornischer Punk erfuhr überhaupt keine Unterstützung, die Majorlabels wollten mit diesen Bands nichts zu tun haben. Die Bands lebten in einem Vakuum, einem schwarzen Loch. Die amerikanischen Medien kaprizierten sich hauptsächlich auf britische Punkbands, frei nach dem Motto »the grass is always greener on the other side«.
Andererseits hatten die kalifornischen Punkbands nichts zu verlieren und konnten deshalb machen, was sie wollten. Wahrscheinlich sind diese Bands deshalb einfach schneller, lauter, aggressiver und kompromissloser als die New Yorker Gruppen, die ja fast alle einen Majordeal sicher hatten. Die New Yorker Punkbands kamen aus einem sehr künstlerischen Umfeld, was bei den kalifornischen Bands nicht so war, schließlich gab es dort keine Factory, sondern Hollywood. Bei Los Angeles kommt noch eine sehr düstere Seite dazu, die man in dieser Stadt förmlich spüren kann. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind wesentlich krasser als in New York, über Los Angeles schwebt etwas Unheimliches, Unangenehmes. Das kann man in unzähligen Filmen sehen, die über Los Angeles gedreht wurden, zum Beispiel David Lynchs »Mulholland Drive«. Dieses unerklärbar Dunkle schlägt sich natürlich auch in der Musik nieder.
Gilt das später auch für HipHop?
Jon Savage: Da bin ich mir sicher!
Was ist Dein Lieblingsstück auf »Black Hole«?
Jon Savage: »Los Gatos« von The Sleepers – sehr wild, sehr seltsam, sehr unbekannt. Leider. Und ich liebe die Band The Middle Class, die sehr gute Texte hatten. Kann ich nur empfehlen!
Aus amerikanischem Punk á la Dead Kennedys entstand bald Hardcore mit Bands wie Black Flag und etwas später die Straight Edge-Bewegung mit zum Beispiel Fugazi. Wie stehst Du dazu?
Jon Savage: Well... trotz der exponierten nackten Oberkörper hat mir als schwulem Mann Hardcore nie gefallen. Für meinen Geschmack war das alles viel zu macho, auch wenn ich es begrüße, dass die Straight-Edge-Leute den Alkohol verteufeln. Alkohol ist eine verdummende Droge, genau wie Tabak! Aber das nur am Rande. Mir gefiel am Westküsten-Punk, dass dort sehr starke Frauen mitmischten wie Exene Cervenka von X und natürlich Penelope Houston von den Avengers...
Vor ein paar Jahren spielten die Avengers ein paar Konzerte in Deutschland, meistens vor einem sehr jungen Publikum – und Penelope war fantastisch: unglaublich energiegeladen und immer noch so zornig.
Jon Savage: Gefällt mir, das zu hören!
Aber warum ist Punk alter Schule heutzutage immer noch so attraktiv für junge Leute? Warum schmücken sich 16-jährige mit den Insignien einer längst vergangenen Epoche und halten das für Rebellion?
Jon Savage: Sag du´s mir! Woran liegt das?
Ich schätze, dass der Schockfaktor eines Mohawk noch immer recht hoch ist, dass man seine Eltern damit immer noch am stärksten verstören kann. Und dann sind da natürlich die unkaputtbaren Punkrockslogans wie »Legal, Illegal, Scheißegal« von Slime, die sich so wunderbar auf die Lederjacke pinnen lassen. Jedenfalls scheint mir das in Deutschland so...
Jon Savage: Die Siebziger sind für heutige Teenager quasi der Anfang der Rockgeschichte – weiter zurück gehen sie nicht. Die Kids heute hören ja keine Musik aus den Sechzigern. So stoßen sie auf Punk, der natürlich viel Attraktives bietet. Ich kann dieses Rebellische, Aufrührerische heute allerdings nicht mehr nachvollziehen – aber bitte, ich bin 57. Ich höre kaum noch Punk, sondern hauptsächlich elektronische Musik. Meine Meinung ist: Junge Leute müssen ihre eigene Kultur, ihre eigene Protestkultur erfinden. Punk ist 33 Jahre alt – Punk ist Geschichte, eine Schablone.