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Marcel Tilger: Mir gefällt die Vorstellung, dass ihr in den sechs Jahren, die seit »Ein Toter fährt gern Ringelspiel« vergangen sind, gar nicht inaktiv gewesen seid, sondern unbeobachtet von der Öffentlichkeit an diesem neuen, sehr atemberaubenden Album gearbeitet, immer weiter weggelassen, rausgestrichen und zugespitzt habt, bis am Ende dieses tragische und sehr schön klingende Kondensat des Angizia-Sounds stand ... Wie sah die Realität aus? War die Herausforderung diesmal tatsächlich, sich zu zügeln, sich zu fokussieren? Michael Haas: Nach »Ein Toter fährt gern Ringelspiel« waren wir tatsächlich eine richtig lange Weile inaktiv. Ich war zu dieser Zeit – es war im Jahre 2005 – regelrecht satt von allem, was Musik betraf. Das Musikschaffen selbst hat mich generell etwas verärgert, weil sich flächendeckend meist oberflächliche, ja nichtssagende Musik durchgesetzt hat und es im Besonderen innovativen, absolut eigenständigen Bands – gerade in dem Genre, in dem wir existent waren – am schwersten gemacht wurde. Genau zu jener Zeit kam dann mein Sohn zur Welt und ich hatte sehr viel mit familiären Dingen zu tun. Zudem war die Produktion von »Ein Toter fährt gern Ringelspiel« einfach so aufwändig (finanziell, energetisch, organisatorisch...), dass hinterher nichts mehr als eine längere Pause angebracht schien. Es war dann lange Zeit ungewiss, ob wir uns aus dieser Lethargie selbst befreien können, zumal Emmerich Haimer und ich auch über einen längeren Zeitraum keinen Kontakt hatten und – jeder für sich – mit eigenen Dingen beschäftigt war. Angizia lag tatsächlich gute 4 Jahre lang förmlich auf Eis, ehe Emmerich und ich schließlich quasi von einem Tag auf den anderen die Arbeit an einem sechsten Angizia-Stück namens »Kokon« aufgenommen haben. Das war ein von beiden Seiten gesetzter Impuls in die richtige Richtung. Gesang und Stimme haben bei Angizia zwar schon immer eine entscheidende Rolle gespielt, die neue, in ihrer musikalischen Gestalt subtilere, klarere, ja reduziertere Platte lässt beidem jetzt aber noch mehr Raum. Kannst du dir erklären, warum in der Rockmusik Instrumente so wichtig geworden sind und nicht viele sich wie etwa Björk trauen, Stimmen ganz alleine stehen oder dominieren zu lassen? Genau das ist der Reiz. Stimmen können so subtil, ja regelrecht verschlagen sein in ihrer Unmittelbarkeit. Durchdringende, ja unvergleichliche Stimmen, die durchdacht inszeniert sind und Raum haben, gewähren dem Hörer fast immer schiere, integer fassbare Intimität und packen ihn mit voller Wucht. Bei »Kokon« sind so genannte »spoken word passages« und generell exaltierte Stimmen ein brisantes Stilmittel. Sie sind unumgänglich und legen den Charakter des Stücks und der Figuren fest. Mir ist dabei wichtig, dass die Stimmen direkt, ja augenblicklich und intim wirken. Keine Hallfahnen. Keine technische Verzärtelung. Keine künstliche Verborgenheit. Keine Verhüllungen. Dafür aber Tiefe und Schwere, ja rege Identität. Das Gefühl zu haben, dass gehörte Stimmen so sehr intensiv, durchdringend und unübertragbar sind, ja dass man diese in einer Aufnahme an vorderster Front findet und nicht erst zwischen mehreren Instrumenten »suchen« muss, ist ehrlich und aufrichtig. Andererseits ist bei Angizia beides maßgebend: Das Instrumentarium und die Stimmen. Wie geht es dir, wenn du ich mit deiner Stimme in so viele unterschiedliche Charaktere hineinversetzt? Ist es anstrengend, befreiend, setzt es verschiedene Facetten Deiner Persönlichkeit frei? Es ist befreiend, ja! Ich empfinde Befreiung und Genugtuung, Rausch und Taumel, Ekstase, Aufruhr und Leidenschaft. Was ich gesanglich machen will, das habe ich im Kopf. Es muss nur fixiert werden. Grundsätzlich bereite ich mich auf Gesangsaufnahmen nicht wirklich vor. Ich übe und probiere nicht, weil ich mir meine Affektiertheit und die auf Grund der Spontaneität entstehende Wucht gerade bei theatralischen Gesangsaufnahmen nicht nehmen will, arbeite aber extrem detailverliebt an der musikalischen Umgebung, die all den Stimmen zu Grunde liegt. Von wichtigen Grundlinien und Duetten abgesehen, die etwa gemeinsam mit Irene Denner oder in der Vorbereitung für »Live-Aufnahmen« (mit Flügel und Cello) erarbeitet werden, entstehen die allermeisten meiner Stimmeinsätze – vor allem Sprechteile – erst im Studio (manche davon »first take«). Es ist dann eine Symbiose aus einer relativ exakten Vorstellung und purer, ja theatralischer Spontaneität, basierend auf einem sehr guten Instrumentarium. Sprachrhythmus, Intensität und Tonfall entstehen völlig spontan. Das Freisetzen verschiedener Facetten meiner Persönlichkeit ist in keiner Weise anstrengend. Nein, da überwiegt der Anreiz, ja die stete Verlockung, Eigenes auszudrücken und etwas Neues zu machen. Das gehört tatsächlich zu den einfachsten Dingen bei Angizia. Anstrengend, ja förmlich an den Stimmbändern zerrend, sind die Aufnahmen selbst, denn das Ziel ist immerzu dasselbe: Pure Intensität und spürbare Leidenschaft. Mit dem Homunkulus gibt es auf »Kokon« eine Figur, die schon von vielen Autoren und Filmemachern aufgegriffen und neu interpretiert worden ist. Über die Bedingungen von künstlerischer Produktion und Kreativität, über das Verhältnis von Schöpfer und Werk, über Kunst und Moral und über viele, viele andere Themen lässt sich mit ihr viel sagen. Wiegt die Last schwer auf den Schultern, wenn man mit einer Figur, einem Thema arbeitet, das so oft und oft so genial ausgestaltet worden ist? Wie schreiben Angizia den Mythos vom Homunkulus fort? Ich sehe meinen Homunkulus gar nicht so sehr in der Tradition berühmter Kreaturen und literarisch grundgelegter bzw. filmisch inszenierter Antihelden. Vielmehr ging es mir bei »Kokon« um den Verfall und die Zerstörung dieser Figur und der gleichzeitigen Neige innerhalb der Dramaturgie des Stücks. Ich wollte das Scheusal auch verherrlicht sehen, was die Jansens im Stück ja auch bildlich demonstrieren. Das Hässliche faszinierend, ja berückend, verlockend, erregend oder gar berauschend darzustellen, das war mir eine irre Genugtuung. Mein Homunkulus wird verehrt und »gesüßt« – er ist gebenedeit. Das ist z.B. weder bei Mary Shelleys »Frankenstein« noch bei Franz Kafkas »Gregor Samsa« der Fall. Das Theater lebt von Gegensätzen, Angizia zudem von der Affinität zum Tod, zum Drama, zum Sterben, zum lang inszenierten Verfall. Wie macht man sich als Künstler generell frei von dem Druck, innovativ und eigen zu sein? Angizia hat das Glück, nicht zwanghaft und um jeden Preis eigen klingen zu müssen. Es ist sozusagen eine verrückte Innovativität, die sich fast von selbst freisetzt. Nein, diesen Druck, »innovativ und eigen sein zu müssen« haben und spüren wir nicht. Im Grunde sind wir überzeugt davon, dass – egal, was wir für Angizia machen – das Ergebnis immer unvergleichlich und eigenständig ist, unabhängig davon, ob nun Tausende Angizia-Fans unserem Endresultat frenetischen Beifall spenden oder einige, ja viele überhaupt nichts damit anfangen können. Das Ergebnis bleibt qualitativ, »innovativ« und »eigen«. Es ist genau das, was Angizia ausmacht und gleichzeitig die Konsequenz vieler penibler Prozesse und Entscheidungen, die Angizia so bizarr festschreiben. Gerade was das Stück und die Musik anbelangt garantiert eigentlich alleine die Symbiose Haas/Haimer, dass Angizia einen äußerst hohen Wiederkennungswert hat. Die Zusammensetzung und die Auswahl unserer Instrumente, die Stimmen von Irene Denner, Jochen Stock und mir sowie die spezielle Harmonie all dieser Angizia typischen Elemente – das ist Angizia spezifisch. Mit »Es ist Leidenschaft« habt ihr im Plot gleichsam ein Stück versteckt, das eine Klammer um das Schaffen von Angizia zu setzten scheint: »Es ist Leidenschaft, die mich trägt [...]«, heißt es da beinahe bekenntnishaft. Wie schwer fällt es dir, diese (enorme) Leidenschaft immer wieder aufzubringen? Genau das ist es was mich und uns antreibt: Die Leidenschaft. Solange ich und wir diese innere Begeisterung in uns haben, macht es Sinn, sie zu bündeln. Gerade jetzt denke ich, dass wir eine Phase erreicht haben, in der wir relativ gut damit umgehen können. Es fällt uns nicht schwer, sich auf neue Stücke vorzubereiten, diese zu entwickeln und umzusetzen. Wir freuen uns und brennen darauf. In dem Interview, das wir für das The Sunset-Fanzine geführt haben, hast du mir vor Jahren gesagt, dass du dich im Kompositionsprozess primär als Hörer Angizias siehst. Gelingt es dir so, den Überblick zu behalten und die ja mitunter komplexen Handlungsstränge so prägnant zusammenzuführen? Ja, völlig richtig. Gerade bei »Kokon« war es ja so, dass ich immerzu Kompositionen von Emmerich Haimer bekommen habe, die ich dann auf mein Stück und den Plot hin auszurichten hatte. Ich sehe mich eigentlich immer primär als Hörer Angizias, weil die Musik, die wir machen, grundsätzlich für unsere eigenen Ohren bestimmt ist. Unsere Arbeitsweise bei »Kokon« war jedenfalls so angelegt, dass ich selbst weniger komponiert habe und mich vorrangig um die Adaption von Stück und Musik bzw. primär um die theatralische Entwicklung Angizia, ja um die Dramaturgie des Stücks gekümmert habe, während Emmerich Haimer einen Großteil der Kompositionsarbeit erledigt hat. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang deine Arbeit für und mit Kindern – als Lehrer und als Komponist von »Das Vögelchen«? Was nimmst du davon für Angizia mit? Kinder sind das ehrlichste Publikum, das es gibt. Ihre Meinung ist ungeschönt und frei von Neid und Ehrfurcht. Ich arbeite seit zehn Jahren täglich bis zu sechs Stunden mit Kindern. Das prägt. Für Angizia selbst nehme ich von den Kindern eher wenig mit, denke ich – ausschließlich eben die Erkenntnis, dass Kinder das offenste und unverblümteste Auditorium sind, das man sich wünschen kann. Sie hören Satyricon, Tango, Flamenco und Damien Rice ebenso bis zum Schluss wie Chopin, Schumann, Kurt Weills »Dreigroschenoper« oder Carl Maria von Webers »Wolfsschluchtszene«. Mittlerweile wissen Kinder ganz genau, dass Musik mehr ist als flacher Pop und schnöde Hits. Umgekehrt ist Musik ein ganz wichtiger Bestandteil in meinem Unterricht. Wer waren die Helden Deiner Jugend? Eine sehr interessante Frage. Ich selbst bin – seit ich denken kann – ausgeprägter Cineast und extremer Fußballfanatiker. Das Eine hat mit dem Anderen zwar nicht viel gemein, doch die Helden meiner Jugend kamen vorrangig aus den Bereichen Musik, Film (Programmfilm, Filmtheorie, Filmkultur), Kunst, vor allem Fußball und Literatur. Bereits als Kind hatte ich eine extreme Vorliebe für den französischen Film. Gerade Filme mit Louis de Funés habe ich wohl über 50 gesehen. Das lag vor allem auch an der Machart der Filme (etwa von Jean Girault oder Claude Zidi) und an der so fesselnden Vermittlung französischer Kultur, französischer Städte und französischer Lebensfreude. Gerade als Kind wollte ich nichts mehr, als in Frankreich leben. In meiner Jugend dann verschlang ich extrem viele Filme abseits des Mainstreams, daraus ergab sich eigentlich ein aus der neutralen Sicht anderer Jugendlicher wenig prominentes Heldentum. Gary Oldmans Dracula-Darstellung in der Version von Francis Ford Coppola z.B. habe ich als damals 16-jähriger bis zur absoluten Selbstzerstörung der Videokassette gesehen. Das ist mir in sehr guter Erinnerung geblieben, ebenso Peter Sehrs »Kaspar Hauser« oder Joseph Vilsmaiers Verfilmung von Robert Schneiders Bildungsroman »Schlafes Bruder«. Gerade die Darstellung des Elias Alder (von André Eisermann) hat mich dazu bewegt, diesen Film immer und immer wieder anzuschauen. Für mich war »Schlafes Bruder« zu dieser Zeit so etwas wie ein nostalgisches Filmgemälde meines Heimatlandes. Gerade auch Klaus Kinski, den ich immer als außergewöhnliche Kunstfigur verstand, hat mich schon als Jugendlicher sehr beschäftigt. Er war für mich der Inbegriff des Theater spielenden Filmschauspielers. Du hast oft betont, dass Filme eine große Wirkung auf dich haben. Steht am Anfang eines Angizia Albums demnach etwas, das du sehen kannst, ein visueller Impuls? Ja. Exakt. Immerzu. Ein Ausgangsbild. Ein visueller Impuls, der alles ebnet. Das ist die Basis. Und dann kommt der Rest. Der Regisseur Michael Haneke hat einmal gesagt, die oberste künstlerische Tugend sei die Exaktheit. Wenn man deine Arbeit mit Angizia überblickt, könnte man sehr gut zu den Eindruck kommen, dass Du diesen Satz unterschreiben würdest. Auf Haneke selbst trifft das einmal zweifelsohne zu. Er ist ein Meister irrer Details. Ich habe Making of-Szenen zur Entstehung der Jelinek-Verfilmung »Die Klavierspielerin« gesehen. Da ließ er Isabelle Huppert schlichte Drei-Wort-Sätze gut 20 mal einsprechen, weil er das Gefühl hatte, dass die Stimmfarbe und die Betonung Hupperts nicht zum Klang der Schubert-Sonate »Scherzo Allegro vivace« passten. Hanekes Zugang zur klassischen Musik ist von großer Wertschätzung geprägt. Gerade auch seine optische Detailarbeit von »Das weiße Band« war unglaublich. Für diesen Film ließ Haneke 7000 Kinder casten und extra Bauern aus Rumänien einfliegen, weil er wusste, dass deutsche Bauern aus dem Dorf Eichwald zur Zeit um 1913/1914 nur mit jenen bräunlich gegerbten rumänischen Gesichtern realistisch darzustellen waren. Haneke sagt darüber hinaus z.B. auch, dass es die primäre Aufgabe jedes Schauspielers ist, seine Figur zu verteidigen und, was mir noch als sehr wichtig erscheint, »dass es keinesfalls die Aufgabe eines Künstlers oder Filmemachers sein kann, seine eigenen Werke und Filme zu erklären«. Das widerspräche seiner Auffassung von Kunst. Ich denke, dem ist nichts hinzuzufügen. Mit »39 Jahre für den Leierkastenmann« habt ihr euch 2001 noch um eine Plattenfirma bemüht. »Kokon« ist nun das dritte Album, das ihr in Eigenregie produziert und finanziert habt. Weniger ambitioniert ist es in textlicher, musikalischer und gestalterischer Hinsicht trotzdem nicht geworden. Wie blickst du auf diese Jahre der Unabhängigkeit zurück? Ist es nur so möglich, als Künstler absolut keine Kompromisse einzugehen oder könnt ihr auch oft etwas nicht realisieren, weil der finanzielle Rückhalt einer Plattenfirma fehlt? Ich denke, für uns war es schlussendlich die richtige Fügung, dass Angizia über all die Jahre hinweg für bestimmte Labels scheinbar nicht interessant genug war. Natürlich haben wir verglichen mit Bands, die eine nahezu uneingeschränkte Labelunterstützung genießen, klare finanzielle, aber auch organisatorische Nachteile, weil wir unsere doch recht aufwändigen Produktionen selbst finanzieren müssen und freilich auch nicht in der Lage sind, ein weltweites Vertriebsnetz aufzubauen oder in großen Magazinen mit einem außerordentlichen Labelbudget per Direktsponsoring Interviews oder grandiose Reviews zu sichern. Auch was etwaige Konzerte, Tourneen, Musikergagen, Marketingfragen, Public Relations, CD-Herstellungskosten, das Merchandising, die Promotion, ja die Vertriebsarbeit im Besonderen betrifft, sind wir ausschließlich auf uns selbst angewiesen, was aber auch viele Vorteile mit sich bringt.
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