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18. Juli 2011
Thomas Backs
für satt.org

Wie »Man Of Aran« nach 75 Jahren
zu einem neuen Soundtrack kam

»Valhalla Dancehall« ist der Titel des aktuellen, fünften Albums, mit dem die Post-Punk-Band British Sea Power im Oktober für drei Konzerte in Deutschland gastiert. Thomas Backs hat sich davor für Album Nummer 4 interessiert, den neuen Soundtrack für den »Man Of Aran«. Denn: Robert J. Flahertys Doku-Fiktion entstand vor 75 Jahren, also vor einer halben Ewigkeit. Die Filmbranche machte während der Premiere gerade ihre ersten Schritte in Richtung Tonfilm. Und Pop und Rock, wie wir sie heute kennen, die gab es 1934 noch lange nicht. Wie faszinierend muss da ein fiktionaler Dokumentarfilm aus eben jenen Tagen sein, damit er in den Nullerjahren des dritten Jahrtausend mit einem neuen Soundtrack als DVD auf den Markt kommt? Und auf den Filmfestivals dieser Welt zu Live-Konzerten gezeigt wird? Martin Noble, Gitarrist und Keyboarder bei British Sea Power, erklärte im Gespräch die Rückkehr des »Man Of Aran«.

British Sea Power am Strand von Eigg, Innere Hebriden, Schottland. Foto: Rough Trade
British Sea Power am Strand von Eigg, Innere Hebriden, Schottland. Foto: Rough Trade


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  British Sea Power: Man Of Aran
British Sea Power: Man Of Aran
CD & DVD, Rough Trade (Indigo) 2009

British Sea Power: Valhalla Dancehall
British Sea Power: Valhalla Dancehall
Rough Trade (Indigo) 2011
» Band
» Label


British Sea Power live 2011:
  • 09. Oktober: Luxor, Köln
  • 10. Oktober: Lido, Berlin
  • 11. Oktober: 59:1, München

»’Man Of Aran’ ist gleichzeitig heroisch, atemberaubend, kitschig und lächerlich. Das sind genau die Eigenschaften, die auch eine Rockband haben muss.« Diese so treffende Feststellung ist auf dem Cover der im Jahr 2009 veröffentlichten DVD/CD der englischen Post-Punk-Band British Sea Power zu lesen. Im Jahr davor hatte das Sextett den neuen Soundtrack zu Robert Flahertys Film erstmals beim Edingburgh Film Festival mit einem Live-Auftritt vorgestellt. »Ich liebe diesen Film. Er ist sehr impressionistisch, bewegend und hat wunderbare Aufnahmen«, sagt uns Gitarrist und Keyboarder Martin Noble im Interview. Zusammen mit den Brüdern Yan Scott und Neil Hamilton Wilkinson hat er die neue Version des Soundtracks komponiert. Das Ergebnis ist keine Musik für die Massen, welche die im Bereich Alternative/Independent anzusiedelnde Band mit ihren Alben und Singles in den Jahren vor dieser Veröffentlichung ansatzweise erreicht hatte. Platz 68 belegten BSP mit »Man Of Aran« als ihrem vierten Tonträger 2009 in den offiziellen UK Albumcharts. Ein kleiner Achtungserfolg, mehr nicht.

Filmfestivals: Jersey und Perth

»Viele haben uns schon für verrückt erklärt, weil wir direkt nach einer Nominierung für den Mercury Music Prize einen Instrumental-Soundtrack für einen alten Film veröffentlicht haben«, erinnert sich Noble. »Do You Like Rock Music?« hieß der Longplayer, mit dem die Band im Jahr 2008 für einen der wichtigsten europäischen Branchenpreise im Bereich Musik nominiert worden war. In Hinblick auf den kommerziellen Erfolg war »Man Of Aran« für die sechs Musiker nach dem erwähnten Top Ten-Album also wirklich ein Wagnis. Rückblickend sicher eines, das sich gelohnt hat. Zahlreiche Einladungen und Auftritte bei Filmfestivals sind Teil der Anerkennung, die die Band bis heute für ihren neuen, experimentellen Soundtrack des fiktionalen Dokumentarfilms erhält. Das Branchage International Film Festival auf der Insel Jersey (2009) und das Perth International Arts Festival (2010) gehörten zu den umjubelten Auftrittsorten mit der Kombination Leinwand/Live-Konzert. »Wir lieben es, den Soundtrack live zu spielen. Vor allem auch, weil das so anders ist als bei normalen Auftritten«, erzählt Martin Noble. Einen Auftritt in Irland, den gab es mit dem Film bisher noch nicht, auf eine Gelegenheit hofft das Sextett natürlich. Wie ist es überhaupt zur Aufnahme des Werks gekommen, wer hatte die Idee zu diesem Soundtrack? Die Spur führt zurück in das Irland des Jahres 2003. Die Band aus Brighton war damals gerade mit ihrem Debütalbum »The Decline Of British Sea Power« unterwegs in Europa. Eine junge Frau namens Angela überreichte den Musikern in Irland die Originalversion des »Man Of Aran« mit dem Soundtrack des englischen Filmkomponisten John D.H. Greenwood. »Bis dahin kannten wir den Film noch nicht, hatten aber schon einmal von Flahertys anderem Film, Nanook of the North’, gehört«, so Noble. »Nanook of the North«, deutscher Titel »Nanuk, der Eskimo« (1922), ist Robert J. Flaherty bekanntestes Werk. Ein ebenfalls fiktionaler, inszenierter Dokumentarfilm, in dem der Filmemacher aus Michigan das Leben der Eskimos in der kanadischen Provinz Québec zeigt.

So oder so: Die Musiker von British Sea Power zeigten sich von Flahertys Aran-Film begeistert. Jahre später wurde das Sextett von den Machern des renommierten Edinburgh Film Festivals gebeten, einen Soundtrack für einen Film zu schreiben. Kein Zufall, dass die Wahl der Engländer dabei auf »Man Of Aran« fiel. Martin Noble: »Die Doku-Fiktion stellt ein sehr verzerrtes Bild des wirklichen Lebens auf den Inseln dar. Aber der Film ist sehr impressionistisch, die Aufnahmen wunderbar. Also hatten wir die Möglichkeit, ähnlich impressionistische Musikstücke zu komponieren. Ein Vorteil war natürlich, dass es nur sehr wenige Dialoge gibt. Also mussten wir uns beim Komponieren nicht danach richten. Ich denke es ist auch uns gelungen, an einigen Stellen mit der Musik die Aussage des Films zu ändern. In der Originalversion unterstreicht diese doch sehr die verzerrenden Eigenschaften einer Doku-Fiktion.« Es ist die Original-Musik des Film-Komponisten John D.H. Greenwood, die der BSP-Gitarrist hier anspricht. Der Irish Folk der Aran Islands soll den Engländer bei diesem Werk beeinflusst haben, heißt es offiziell. Mag sein, dass dieses in der fiktionalen Dokumentation ansatzweise zu hören ist. Nur: Wer sich den Originalfilm ansieht, der hört vor allem einen Soundtrack, der in seiner musikalischen Leichtigkeit für die Idylle eines Heimatfilms bestimmt zu sein scheint. »Mit dieser Musik sieht der Zuschauer die Inselwelt durch eine rosarote Brille, er betrachtet ein glückliches Leben«, meint Martin Noble: »Insofern kann man schon sagen, dass uns der Original-Soundtrack beeinflusst hat. Wir wollten die Atmosphäre mit der Musik verändern und das Leben der Menschen härter wirken lassen. Ich bin mir sicher, dass es das damals definitiv gewesen ist.« Zum Hintergrund: In der zeitgenössischen Rezeption stand zunächst weniger die Musik, dafür aber Flahertys Arbeitsweise in der Kritik. Die Handlung um die im Film gezeigte, dramatisch Jagd nach Riesenhaien (basking sharks) vor der irischen Westküste war komplett inszeniert. Riesenhaie wurden zum Zeitpunkt der Dreharbeiten bereits seit 60 Jahren nicht mehr gefangen, die Jagd mit Speeren musste von den Insel-Bewohnern gegen einen Hungerlohn komplett neu erlernt werden. Im Rückblick war das alles auch dem Filmemacher selbst sehr unangenehm. Zitat Flaherty: »I gehöre erschossen für das, was ich den freundlichen Menschen von Aran angetan habe. Und das alles für ein Fässchen Portwein sowie den Betrag von fünf Pfund für jeden.«

Raue Inselwelt: Ohne rosarote Brille

Die angesprochene rosarote Brille, sie verschwindet in der Tat für den Zuschauer, der die knapp 74 Minuten des Flaherty-Films in der neuen Version mit den zwölf Stücken der englischen Musiker genießt. 74 Minuten, die auch zeigen, dass die Musik für einen Film wie »Man Of Aran« eben die Rolle des ersten Erzählers hat. Auch, wenn Regisseur Flaherty für den Plot noch Zwischentitel und Erzähltafeln als Relikte der gerade endenden Stummfilmzeit eingebaut hatte. Ruhig und bedächtig beginnt die Musik der Eröffnungsszene. Zum Piano, ergänzt durch Cello- und Violinenklänge, begleitet der Zuschauer Mutter Maggie Dirrane, Kinder und die Fischer auf Inishmore, der größten der drei Aran Islands. Dem Intro »Man Of Aran« folgt im Film und auf der beiliegenden Audio-CD das zunächst ebenfalls entspannte Stück »The South Sound«. Das Tempo, es steigert sich mit dem Peitschen der Wellen, dem Einholen der Netze. Elektrische Gitarren und Schlagzeug, der typische experimentelle Sound der englischen Band, sie bestimmen die Atmosphäre vor allem, wenn die Dramatik der Jagd nach den Riesenhaien und dem berüchtigten »Sunfish« im Mittelpunkt stehen. Neu komponiert hat das Sextett fast alle Songs speziell für den Soundtrack. Zwei Stücke sind allerdings neu eingespielte Versionen bereits veröffentlichter Songs. »North Hanging Rock«, ein Song vom zweiten Studio-Album »Open Season« (2005) heißt im Film nun »Boy Vertiginous«. Zu hören ist der Titel in der Szene, in welcher der kleine Michael auf den Klippen stehend mit der Angelschnur auf die Jagd geht. Und »No Man Is An Archipelago«, jener glanzvolle, majestätische Schlusspunkt, der die eindrucksvolle Brandung der Wellen im Sturm am Dun Aengus und den Puffin` Holes der Küste untermalt, er ist auch auf dem bisher erfolgreichsten Album »Do You Like Rock Music?« zu hören. »The Great Skua« heißt das Epos dort.

Ein Song sticht aus den zwölf Stücken des »Man Of Aran« heraus, ist als gesungene Coverversion ein echter Exot in diesem Instrumental-Werk. Was hat die Engländer auf die ziemlich abgedrehte Idee gebracht, ausgerechnet den Klassiker »Come Wander With Me« (Jeff Alexander) aus der US-amerikanischen Fernsehserie »The Twilight Zone« der 1960er-Jahre in den Soundtrack einzubauen? Martin Noble hat dafür eine plausible Erklärung: »Textlich passt der Song zunächst einmal nicht wirklich zum Film, auf einer abstrakten Ebene aber schon. Als wir ihn zu den Bildern gespielt haben, da klang es einfach großartig. Der Song sorgt für die melancholische Grundstimmung zu den Bildern der schwer arbeitenden Menschen auf der Insel. Er unterstreicht, wie rau das Leben dort ist.« Wer die neue Version des Streifens sieht, der wird Nobles Eindruck wahrscheinlich teilen können. Wie eine mystische Traumwelt wirkt das von Flaherty eingefangene Leben der Menschen auf Inishmore zu den Klängen des Klassikers. Überhaupt, die Arbeit am Soundtrack war für die sechs Musiker ein großes Vergnügen, das nachzuvollziehen ist, wenn Martin Noble berichtet: »Für die Aufnahmen eines Soundtracks hat ein Künstler doch viel größere Freiräume. Die Stücke müssen nicht eine bestimmte Länge von drei oder vier Minuten haben. Es muss auch keinen Refrain geben. Es geht darum, die richtige Atmosphäre und Grundstimmung zu schaffen. Man könnte auch sagen, dass es darum geht, die Bilder zu vervollständigen.«

Eine große Aufgabe, die die Engländer eindrucksvoll gemeistert haben. Die Musiker selbst waren bei ihren Irland-Besuchen trotz »Man Of Aran« noch nicht auf Inishmore. Das soll bei bei nächster Gelegenheit endlich nachgeholt werden. Die irische Kultur übt aber natürlich auch auf das Sextett eine große Faszination aus. Und wenn man Martin Noble nach seinen Favoriten unter den irischen Künstlern fragt, dann fällt vor allem ein Name auf. James Joyce, George Bernard Shaw, Seamus Heaney, na klar. Dazu einflussreiche Musiker wie Thin Lizzy, The Undertones, Ash, Van Morrison und The Pogues. Wenn der Musiker uns außerdem Martin McDonagh nennt, dann horchen wir besonders auf. Martin McDonagh, das ist eben der irischstämmige Regisseur und Dramatiker, der in der jüngeren Rezeption des »Man Of Aran« neben den englischen Musikern ebenfalls eine ganz besondere Rolle spielt. Am Broadway und mit dem Spielfilm »In Bruges« (dt. Titel: »Brügge sehen...und sterben?«, 2008) ist der Autor von Theaterstücken wie »The Beauty Queen of Leenane« mittlerweile erfolgreich. Auch der Film »Man Of Aran« wurde auf den Bühnen dieser Welt bereits mit McDonaghs rabenschwarzem Humor verarbeitet. Das Stück »The Cripple of Inishmaan« (1996) gehört zur Aran Islands-Trilogie des Dramatikers. Die Handlung: Der »Krüppel« Billy erfährt auf der Nachbarinsel von Flahertys anstehenden Dreharbeiten auf Inishmore. Auf der kleinen Nachbarinsel ist er ein einsamer Held. Also will der junge Mann unbedingt das Filmteam überzeugen und im Man Of Aran mitwirken. Fazit: Ein neuer, faszinierender Soundtrack aus dem Jahr 2009, dazu seit den späten 1990ern eine rabenschwarze Tragikomödie auf den Bühnen dieser Welt. Robert J. Flahertys »Man Of Aran« wirkt noch heute. Und das nicht zu knapp.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Print-Magazin irland journal