Kleine Wellen, etwas Wind
»Overseas« von Overseas
Vor ein paar Monaten habe ich irgendwo vom Erscheinen eines neuen THE NEW YEAR Albums gelesen und schaue nun wieder in regelmäßigen Abständen auf der Webseite der Band vorbei, die manchmal ein ganzes Jahr lang nicht aktualisiert wird. Zwischendurch hatte ich bereits geglaubt, hier sei ein Ende heimlich erreicht und keiner mache sich die Mühe, ein paar Zeilen für diejenigen zu schreiben, die tatsächlich noch warten. Es wäre ja nicht das erste Mal, im angeblich hyperaktuellen Netz auf ein letztes Licht zu stoßen, das vom Verlöschen einer Band berichtet. Oft kann man schließlich nicht mehr unterscheiden, ob man Ruinen gegenübersteht oder den Zeichen echten Lebens.
Zwischen den einzelnen Aufnahmen von THE NEW YEAR klafft allerdings eine meist ziemlich große Lücke, was mich immer wieder beruhigt und hoffen lässt. Das hielt sich bei der Vorgängerband – den als legendär bezeichneten BEDHEAD – noch in Grenzen, um sich während der 2000er Jahre schließlich einzuschleichen, als Bubba & Matt Kadane damit begannen, neue Musik unter einem neuen Namen zu veröffentlichen. Mir gefiel THE NEW YEAR dabei immer ein Stück weit besser als BEDHEAD, auch wenn das zu ewigen Diskussionen mit Indie-Leuten führen kann, eines aber ist sicher: THE NEW YEAR haben mit THE END'S NOT NEAR eines der schönsten Videos der Musikgeschichte aufgenommen, in dem ein Kind (wie ich zuerst dachte) mit einem Fahrrad über den Parkplatz eines Flughafens fährt (auch das hatte ich anfangs angenommen) und dabei zögerlich und dennoch stur versucht, für einige Zeit freihändig auf dem völlig leeren und regennassen Asphalt zu balancieren. Im Hintergrund leuchtet das gesamte Video über ein unwahrscheinlicher Sonnenuntergang.
Von THE NEW YEAR stammt aber auch eine Zeile, die mich gleich beim ersten Hören gefesselt hat und das bis heute tut, weil in ihr irgendwie jener Rest einer alltäglichen Mythologie verborgen liegt, die nach dem angeblichen Zerfall des wahrhaft Religiösen in meinem Leben noch herrscht: »I don’t know about god, but I’m sure there’s a devil«. Als ich diesen Song (»Disease«) einmal einer sporadischen Bekanntschaft nach einer langen Nacht vorgespielt habe – man teilt das Persönlichste ja häufig in den unpassendsten Augenblicken – hat sie nur milde über meinen kleinen pathetischen Anfall gelächelt; immer ist die Kehrseite der Milde ja der unausgesprochene Glaube an die Überlegenheit des eigenen Urteils. Ich weiß nicht mehr, was ich auf ihr Lächeln erwidert habe, doch unser Gespräch ging irgendwann im Morgengrauen verloren, als sie mir lang von ihrem Praktikum im Verbrecher Verlag in Berlin erzählte und dabei immer wieder zum Fenster ihres Zimmers ging, um es zu öffnen und nach wenigen nervösen Sekunden erneut zu schließen.
Bei meinem letzten Besuch auf der Seite der Band war die News-Sektion jedenfalls aktualisiert mit einem kleinen Hinweis, Bubba & Matt Kadane hätten sich mit David Bazan (PEDRO THE LION) und Will Johnson (CENTRO-MATIC) unter dem Bandnamen OVERSEAS zusammengetan und ein gleichnamiges Album veröffentlicht. Um ehrlich zu sein, kannte ich PEDRO THE LION bis dahin nur dem Namen nach, CENTRO-MATIC hingegen waren mir überhaupt kein Begriff, aber da ich THE NEW YEAR mag, habe ich mir das Album besorgt.
Und tatsächlich beginnt der erste Song auf »OVERSEAS« auch genauso wie viele Aufnahmen von THE NEW YEAR mit einem relativ langsamen Gitarrenpicking und sparsamen Drums, die den ganzen Song so ziemlich das gleiche spielen. Nach wenigen Takten allerdings setzt David Bazans tiefe Stimme ein, die einen unüberhörbaren Gegensatz zu dem eher verhaltenen Gesang bildet, den ich von Matt Kadane kenne. Bazan übernimmt gemeinsam mit Will Johnson auch alle übrigen Gesangsparts auf dem Album, so dass sich die beiden Kadane-Brüder ganz auf das Gitarrenspiel beschränken und genau aus diesem Grund hört man auf Songs wie »Old Love« oder »Hellp« auch Melodiebögen, die perfekt auf ein Album von BEDHEAD oder der oben beschriebenen Nachfolgeband passen würden.
Folkrock-Songs wie »Lights Are Gonna Fall« hingegen erinnern mich eher an IRON & WINE, »The Sound of Giving Away« und »Down Below« sind klassische Indie-Rock Lieder, die aber niemals zu eingängig werden. Das liegt auch daran, dass OVERSEAS fast penibel um jeden Refrain herumschippern (den es natürlich hier und da noch gibt), meist drauflos spielen, sich steigern und dann den Song wieder ausklingen lassen. Ohne dass dies ein Nachteil wäre, hört man den Liedern manchmal an, dass sie aus einer Jamsession hervorgegangen sind, welche die vier Musiker 2009 zum ersten Mal ins Studio führte. Mehr als drei Jahre hat es dann gedauert, die anfänglichen Ideen und Skizzen zu überarbeiten und schließlich zu veröffentlichen.
Nach dem ersten Hören auf dem Weg zur Arbeit blieb mir vor allem »Old Love« in Erinnerung, ein relativ treibender Rocksong mit verzerrten Gitarren, moderatem Tempo und perfekten Binnenreimen: »I'm thinking back to a sensual act I enjoyed with a girl in my teens / while me and the Misses exchanged goodnight kisses / rollover, pretend’ we're asleep«. Viele Texte sind etwas kryptisch (»Saw you in the alleyway / sweatin' in your frock / all your own / Stackin' up your hand grenades / eleven to a row / all your own«), bei einigen »Ooooohs...«, die als Füllsel wohl dazu gehören, habe ich mich unheimlicherweise an COLDPLAY erinnert gefühlt, aber kein Song auf »Overseas« artet in Stadionrock oder so etwas aus, auch wenn die Produktion mehr als »clean« ist: das Studio schafft diese eigenartige bereinigte Atmosphäre, die ich nicht leiden kann, weil sie keine Ecken und Kanten besitzt.
Das Album mischt dabei gekonnt eher »rockige« Songs (»Old Love«, »The Sound of Giving Away«, »Redback Strike«) mit langsamen Komplett-Picking-Liedern (»(Here) Wish You Were«, »Hellp«, »Ghost to be«) und der Gesang harmoniert über den manchmal zerbrechlichen Gitarrenpassagen perfekt. Mal wird es melancholisch, schnell aber auch wieder freundlich und das alles im durchgängigen Wechsel, bis nach 10 Liedern und etwas mehr als einer halben Stunde Spielzeit Schluss ist.
Da ich weder PEDRO THE LION noch CENTRO-MATIC kenne, kann ich zu Gemeinsamkeiten zwischen OVERSEAS und diesen Bands nichts sagen. Mit den Veröffentlichungen von THE NEW YEAR zumindest hat »Overseas« einiges gemein, was vor allem am Gitarrenspiel, ähnlichen Tempi und dem Schlagzeug liegen mag. Dass hier aber keine einfache Kopie vorliegt, wird beim Gesang und den Texten klar und auch an manchen Seiten der Instrumentierung: einige Male hört man selbst Klavier und Streicher, was die ersten Aufnahmen von OVERSEAS fast zu einem grundständigen Studio-Rock-Album werden lässt, wenn sich die Band nicht stets auch darum bemühen würde, klassische Klischees zu vermeiden (ewige Soli beispielsweise oder Studiohall auf der Stimme).
Ein eher tastender Song wie »Hellp« zum Beispiel, in dem die HÖLLE gleich dem Titel eingeschrieben ist, zählt aus diesem Grund auch zu meinem Favoriten. Er geht in einem Anlauf durch, das Schlagzeug spielt für Minuten ein ungebrochenes Muster und nur die Gitarren schaffen ein wenig Veränderung, obwohl sie teilweise völlig minimale Akkorde spielen. Dass das Ganze dabei nicht langweilig wirkt, liegt an der Melodie und am Gesang. Schließlich gibt es noch ein paar Beckenschläge samt einsetzenden Streicher und der letzte Vers, den Bazan ausbuchstabiert, setzt für alle Instrumente einen gut platzierten Schlusspunkt. Hier und an vielen anderen Stellen auch wirkt »Overseas« gelassen und unaufgeregt – scheinbar ohne große Mühe beginnt ein Song, steigert sich ein wenig und findet schließlich seinen Abschluss, auch wenn ich jenen Textzeilen, die manchmal aus schwer verständlichen Gründen im Gedächtnis hängen bleiben, bisher nicht begegnet bin.