Der singende Literaturnobelpreis
Mit „Rough and Rowdy Ways“ bringt Bob Dylan, 79 Jahre alt, nach achtjähriger Abstinenz ein neues Werk in die immer noch ziemlich leeren Geschäfte. Schön. Nur die hymnischen Reaktionen auf das Doppelalbum klingen ein bisschen nach „canned laughter“.
In irgendeiner englischsprachigen Kulturzeitschrift.com las ich neulich, Greil Marcus gelinge das Kunststück, immer alles in allem wiederzuentdecken. Was ebenso inspirierende wie enervierende Resultate zeitige. Man gebe Marcus die „Gesellschaft des Spektakels“ von Guy Debord in die Hand, und er kommt direkt mit einer Ausgabe von Adornos „Minimal Moralia“ angelatscht. Die braucht er aber nur, um von den Dadaisten zu erzählen und von Rosa Luxemburgs Leiche im Landwehrkanal. Man liebt das, oder man hält sich die Ohren zu und rennt schreiend davon, um sich für ein E-Technik-Studium einzuschreiben.
Bekanntlich ist Greil Marcus, der ein ganzes Buch über den Song „Like a Rolling Stone“ geschrieben hat, ein Dylanologe, der Michael Gray, den Autor des 1.000-seitigen „Song and Dance Man III“, wie einen Textanalytiker alter Schule aussehen lässt. Nach dem, was ein Musikredakteur mir einmal erzählt hat, hat Michael Gray das Kunststück fertig gebracht, zu Bob Dylan bei einem exklusiven Meet & Greet im Augenblick der gegenseitigen Vorstellung zu sagen: „My name is Gray, and you can take my wife anywhere you want to.“ Woraufhin Dylan ihn konsterniert anblickte, aber ohne weiteren Kommentar weiterschlenderte.
Greil Marcus wäre natürlich sofort klar, wo die Pointe liegt. In dem Song „Idiot Wind“ heißt es: „They say I shot a man named Gray and took his wife to Italy.“ Ob das Bob Dylans beste line ever ist, lasse ich mal dahingestellt, aber wenn man Gray heißt, empfindet man es vermutlich so.
Bob Dylan ist inzwischen 79, und er ist nicht nur eine Legende, sondern er ist die Legende schlechthin. Allein, dass die erste Google-Suchanfrage lautet: „Wann ist Bob Dylan gestorben?“, spricht Bände. Während Peter Handke sagt, er käme von Homer, kommt Bob Dylan wirklich von Homer. Genauer: vom Tee mit Homer. Er ist so sehr Legende, dass niemand daran Anstoß nimmt, wenn er erst den Oscar erhält und dann den Literaturnobelpreis. Er ist U und E, ohne Ü zu sein. Wenn wir ehrlich sind, hätten wir das, wenn überhaupt, Ernest Hemingway zugetraut!
Mit Ernest Hemingway teilt Dylan allerdings das Schicksal, dass er nach einer ungewöhnlich einflussreichen Kreativblüte heute am besten darin ist, Bob Dylan zu imitieren. Die Routine hat übernommen. Wir haben uns an seine musikalischen Manierismen gewöhnt, vor allem aber daran, dass er es liebt, obskure Yakuza-Zitate mit Ovid-Appetithappen zu verschneiden. Weil er das aber auf verlässlich hohem Niveau macht, geraten wir nicht in Schweiß. Wir vertrauen. Auch wenn die Ohren bei Song #5 sagen: „Ist das nicht Song #4?“
Dylans Tourband ist nach der x-ten Never Ending Tour in Folge so souverän, dass sie auch eine Lesung aus dem New Yorker Telefonbuch irgendwie gedeichselt bekäme. Dylan beschränkt sich darauf, in Texten, die er aus fremdem Material kunstvoll und einfallsreich zusammensetzt, zu klingen wie er selbst. Wütend, böse, verknarzt, vergrätzt, kämpferisch, altersmilde, windzerzaust, whiskyzerschlagen – wie auch immer. Ein Flickenteppich von Americana. (Kommen Sie, was fällt Ihnen für ein Adjektiv ein? Oder wollen Sie für den Rest Ihres Leben ein kritikkonsumgeiler Tunichtgut bleiben? Der erwähnte Whisky stammt übrigens aus Dylans eigener Brennerei, und der Meister promotet ihn am liebsten, indem er mit Jimmy Fallon in den Zirkus geht.)
Dylan macht mittlerweile nur noch jene Kritiker glücklich, die darauf lauern, irgendwo in seinem Textgeröll einmal auf eine Passage aus Lautréamont zu stoßen, den Literaturkenner als „Isidore Ducasse aus Uruguay“ in ihrem Zettelkasten führen.
Die Extremphilologen Richard F. Thomas und Heinrich Detering haben Dylans Werke auf literaturgeschichtliche Bezüge abgeklopft, und sie sind überreich fündig geworden: „Why Dylan Matters“ und „Bob Dylans Mysterienspiele“ heißen die Resultate, die man wegen ihrer stilistischen Qualitäten auch dem so halb Interessierten als Lesevergnügen empfehlen kann. (Ob einer der beiden darauf eingeht, dass Bob Dylan James Joyces „Ulysses“ zur Seite legt, weil er den Iren so unerträglich arrogant findet, weiß ich gerade nicht.)
Es gibt, wie gesagt, auch noch Greil Marcus, der sich der Unheimlichkeit der „Basement Tapes“ angenommen hat, es gibt Studien über die wahre Bedeutung von Dylans Stimme, es gibt eine Fundgrube über Dylan von A bis Z, es gibt sicher auch Texte, die nachweisen, dass Dylans unterschwelliger Hang zum Marxismus für seine Genialität verantwortlich ist ... Dylan ist unerschöpflich. Das ist seine Größe, wie die von Hafis. (Oder war es Goethe?)
Kommen wir endlich zum Punkt. (Wir sind hier nicht im Seminar, Mensch!) Die neue Platte, „Rough and Rowdy Ways“, klingt im Durchschnitt sehr nach „Tempest“, dem Vorgänger-Album, mit dem His Bobness, so die stille, nur halb eingestandene Hoffnung der Kritiker, die aus der Titelwahl eine Parallele zu Shakespeare und seinem „Der Sturm“ hätten basteln können, seine Karriere in einen sicheren Hafen steuern würde ... Pustekuchen! Schon segelt der Senior mitten aus der Windstille mit einem 17-Minuten-Song auf die Bühne der internationalen Aufmerksamkeit: „Murder Most Foul“, eine zerrissene Ballade (oder was ist das? Ein „Waste Land“?) über die Ermordung von John F. Kennedy.
Der Song ist so anspielungsreich, als hätte Greil Marcus dem größten Sohn von Hibbing/Minnesota als Script Doctor zur Seite gestanden. (Früher hat Dylan mit Sam Shepard, dem ebenfalls ein bisschen legendären Stückeschreiber, einer Art US-amerikanischem Shakespeare der Konservendose, Songs geschrieben.) Oder als hätte Prospero ihm seine Bibliothek zur Verfügung gestellt.
Trotzdem spielen die apokalyptischen Umstände dem Alltime-Apokalyptiker Dylan natürlich voll in die Karten: Man kann die Linie von der Kugel in Kennedys Kopf tatsächlich schön ziehen bis zu einem Land, in dem Corona-Kranke auf der Straße sterben, weil man ihnen im Weißen Haus eine Krankenversicherung verweigert. Man kann. Man könnte auch sagen, dass Lee Harvey Oswald, sollte er wirklich der Schütze gewesen sein, seine Kugel direkt durch sämtliche Präsidentenköpfe seit damals gejagt habe (vielleicht mit Ausnahme von Barack Obama).
(Und wenn Putin und sein Geheimdienst die Wahlergebnisse nicht durch die Bank gefälscht haben, dann hat Oswald alle anderen Amerikaner gleich mit erwischt.)
„Murder Most Foul“ ist, was sonst, eine „Hamlet“-Anspielung. Gift ins Ohr. (Vielleicht hat Dylan diesen Film gesehen?) Das, was der Geist des toten Vaters uns zu sagen hat. (Ist Kennedy jetzt der tote Vater oder Dylan? Ich hoffe, trotz allem, Letzteres!) Der Song wurde mitten in das Corona-Desaster hinein veröffentlicht, insofern diente die Krise eher als marketingtechnischer Hintergrund denn als Material. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Dylan eine Pandemie vorhergesehen hat, auch wenn sein Live-Comeback-Album 1974 „Before the Flood“ hieß.
Dylans Kunst ist eine zeitgenössische Kunst, und mit der verhält ist es sich bekanntlich so: Da wird ein menstruationsblutverschmierter Lappen, der auf dem Museumsboden in einem Waschbecken liegt, mit einem Kranz aus einigen hundert höchst scharfsinnigen, tiefschürfenden, bissigen Reflexionen umgeben. Angereichert durch Fußnoten und kunsthistorische Exkurse von Duchamp bis Derrida. Man bewundert, wenn man das liest, den Scharfsinn der Exegeten. Ihren Einfallsreichtum. Ihren unbeugsamen Willen, sich nicht vom Offensichtlichen in die Irre führen zu lassen. Aber man empfindet auch eine heilige Scheu. Wie beim Anblick von Wahnsinnigen.
Ich selber, das merken Sie schon, habe nicht immer einen kühlen Kopf behalten. Zu meiner Kritik von „Modern Times“ bemerkte ein Leser sehr scharfsinnig: „Müssen denn die Rezensenten immer gleich durchdrehen, sobald es um Dylan geht?“ Das war 2006, für die Netzeitung, und ich hatte alles, was an Greil Marcus in mir steckte, in die Kritik gelegt. Den ganzen angelesenen Kram von Americana bis Zoroaster. Die Netzeitung gibt es nicht mehr, aber die Frage des Kommentators lebt weiter. Wie ein Bob-Dylan-Song. Weil sie eine Wahrheit zum Ausdruck bringt. Wie ein Bob-Dylan-Song. Einer der alten.
Wissen Sie was? Mir kommt es so vor, als wären die euphorischen, hysterischen, dankbar auf Knien den Berg hinauf rutschenden Kritiken für dieses jüngste, neueste und hoffentlich letzte Album Ready-mades. Wie Marcel Duchamps Pinkelbecken damals. Sie sind zusammengesetzt aus den Rezensionen der letzten Alben. Was den Besprechungen ihre Glücksenergie verleiht: Dylan hört wenigstens auf, Frank Sinatra zu covern. Allein dafür gibt’s Standing Ovations. Sogar für jene Dylan-Enthusiasten, die für ihr Idol auf den Scheiterhaufen steigen würden, hörte von „Shadows in the Night“ bis „Triplicate“ der Spaß auf.
Ein anderer Grund ist sicher die Schwäche des Wettbewerbs. Der FC Bayern ist ja auch darum so gut, weil der BVB im Zweifelsfall lieber zum Friseur geht. Weil es Schalke trotz Gazprom und Tönnies nicht auf die Achse des Bösen schafft. Weil Werder Bremen die Nibelungentreue ins Plattdeutsche übersetzt.
Es mag ja sein, dass „Murder Most Foul“ die Tiefe eines Hamlet-Monologs hat. Wenn wir aber mal ehrlich sind, freuen sich die Leute in den Feuilletons, dass sie mal wieder ihre Bildung aus dem Schrank hervorkramen können. Unterschwellig wird so getan, als wäre das jetzt ein Weck- oder Ordnungsruf, aber: Wird der 17-Minuten-Song Donald Trump aus dem Amt jagen? Ihn zum Nachdenken bringen? Wird er ihn überhaupt hören? Und wenn ja: Würde er nicht bloß twittern: „Failing Dylan can’t sing“?
Wie man heute mit Dylans Kunst umgeht: Ist das nicht ein Rückfall in längst überholt geglaubte Zeiten, als man in ihm den Herold einer neuen Zeit, den Propheten des Protests, den Messias des Folkrock sah? Wie oft habe ich gehört und gelesen: „Dylan war nie politisch!“ Und das stimmt ja auch. Was den jungen Ehrgeizling aus dem kalten Norden am Schicksal der armen Hattie Carroll am meisten rührte, war die Ballade, die er über ihre kaltblütige Ermordung schrieb. Und so soll es sein. Murder Most Foul. Ein Dichter ist kein Volksredner.
Was ich damit sagen will: Der neue Dylan gegen die neue Lady Gaga – das ist wie Muhammad Ali gegen Rocky. Entsprechend entspannt geht der alte Herr die Sache an. Von der künstlerischen Verfahrensweise hat man den Eindruck, dass Dylan sein Publikum inzwischen eher unter Literaturliebhabern in Lehnsesseln sucht als bei Menschen, die zu Musik lieber tanzen als zu blättern. Vielleicht legt er es insgeheim auf einen zweiten Literaturnobelpreis an. Oder den für Frieden? Den nächsten Grammy jedenfalls dürfte er sicher haben. Wenn er es terminlich einrichten kann, das Ding abzuholen.
Aber was wollen Sie machen. Bob Dylan ist der Karl Marx des Great American Songbook. Bei jemandem, der mit 21 „Masters of War“ aufgenommen hat und mit 24 „Like a Rolling Stone“, besteht verständlicherweise ein Der-weiß-es-besser-Verdacht. Wie mit einem Don Corleone will sich keiner mit ihm anlegen. Und es ist keine kleine Leistung, als einziger Mensch auf der Welt einen Oscar und den Literaturnobelpreis in seinem Regal stehen zu haben.