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8. März 2021
Gerald Fiebig
für satt.org

  David Wallraf: Grenzen des Hörens. Noise und die Akustik des Politischen

David Wallraf: Grenzen des Hörens.
Noise und die Akustik des Politischen

Brosch., 246 S., Bielefeld 2021, Transcript, 45 €


DAVID WALLRAF

Grenzen des Hörens.
Noise und die Akustik des Politischen

Parallel zur Herausbildung des akademischen Forschungsbereichs Sound Studies hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten ein Feld herausgebildet, das man Noise Studies nennen könnte. Als »Diskursivitätsbegründer« (Foucault) können die Arbeiten von Paul Hegarty (v.a. Noise/Music, 2007) und der von Mattin mitherausgegebene Sammelband Noise & Capitalism (2009) gelten. Mit Kai Ginkels soziologischer Dissertation Noise – Klang zwischen Musik und Lärm erschien 2017 im Transcript Verlag die wohl erste wissenschaftliche Monografie zum Thema in deutscher Sprache. 2021 legt David Wallraf mit Grenzen des Hörens – Noise und die Akustik des Politischen ebenfalls bei Transcript eine musikwissenschaftliche Dissertation vor. Wie die vorgenannten Autoren ist auch Wallraf selbst praktizierender Noise-Künstler (und Kurator des Noisexistance-Festivals in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel). Dass Noise als Kunstform ein stärkeres Bedürfnis nach theoretischer Selbstvergewisserung auf einer Metaebene hat als die meisten anderen (Pop-) Genres, liegt nahe: Eine Form, die sich so stark als Negation von Konventionen des Schönen, Sinnhaften, Musikalischen usw. artikuliert, zerrinnt einem sonst schnell zwischen den Fingern.

Das Buch lässt sich in vier thematische Schwerpunkte gliedern, die in der Darstellung aufeinander aufbauen, sich aber – je nach spezifischem Leseinteresse – auch mit Gewinn einzeln lesen lassen. Der erste und umfangreichste Schwerpunkt umfasst knapp die erste Hälfte des rund 240-seitigen Bandes. Er nähert sich der Frage, ob eine positive Definition des meist zunächst als »Anti-Musik« verstandenen Phänomens Noise über eine sowohl musikwissenschaftlich-terminologische wie philosophisch-sprachanalytische Argumentation. Wie sich herausstellt, wird eine positive und allgemeinverbindliche Definition der Musik 'an sich' angesichts der empirischen Vielfalt von Musiken sogar aus Sicht der Musikwissenschaft selbst heutzutage nicht mehr formuliert. (Eine Denkfigur, die mich ein wenig an die Unmöglichkeit der Letztbegründung von Gesellschaft in der radikaldemokratischen politischen Theorie erinnert, wie sie z.B. Oliver Marchart vertritt – und ein schöner argumentativer Schraubenschlüssel, den man in konservative musikkritische Diskurse werfen kann, wenn sie unliebsamen Musiken deren Musikalität absprechen wollen. Diese Parallele zur politischen Theorie wird übrigens auch dadurch gestützt, dass Wallraf im altgriechischen Wort Thorubus für lärmenden politischen Streit sozusagen eine Grundbewegung gerade auch demokratischer Politik ausmacht: »Noise als konstitutives Merkmal politischer Prozesse ist das Gegenteil des sozialen Befehlsgefüges« aus eindeutigen Signalen.) Im nächsten Schritt entwickelt Wallraf die Bedeutungsvielfalt des Begriffs Noise und gleicht sie überaus gewissenhaft mit den nicht deckungsgleichen semantischen Feldern ab, die ihm im Deutschen korrespondieren können: von Lärm über Geräusch und Rauschen zur Störung. Das unübersetzbare Lehnwort Noise versieht Wallraf – ungewohnt, aber durchaus plausibel – mit dem sächlichen Artikel (das Noise), weil das Neutrum die ambivalente Zwischen-/Anti-Position des Begriffs am besten erfasst. Übersetzt werden vom Autor hingegen – und zwar durchweg stilistisch sehr gut und inhaltlich präzise – alle fremdsprachigen, zumeist englischen, Zitate. Diese in akademischen Veröffentlichungen durchaus nicht selbstverständliche, sehr dankenswerte Fleißarbeit erhöht auch für Leser_innen, die keine Scheu vor komplizierten englischen Sachtexten haben, den Lesekomfort doch beträchtlich. Seinen Vorsatz, zu zeigen, dass »ein mehr oder weniger stabiles Verhältnis der Kontiguität zwischen Derridas Antikonzept der différance und der hier anvisierten Definition von Noise besteht«, verwirklicht Wallraf sodann in einer philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden Denkbewegung, die Leibniz und Kant ebenso einbezieht wie Deleuze, Nancy, Rancière und eben Derrida. Während dieser lange erste Teil, insbesondere Kapitel 4, speziell für philosophisch interessierte Leser_innen faszinierend zu lesen sein dürfte, will der nächste Teil (Kapitel 5: »Ökonomie und Ökologie des Schalls«) erklärtermaßen eine Art Metakritik der gesamten Disziplin der Sound Studies bzw. ihrer ideologischen Prämissen liefern. Um es gleich vorneweg zu sagen: Das ist der schwächste Teil des Buches. Warum? Erstens ist es ein bisschen peinlich, wenn man als institutionellen Exponenten der Disziplin in Deutschland (richtigerweise) den Masterstudiengang Sound Studies and Sonic Arts an der UdK Berlin nennt, dessen Mitbegründerin Sabine Breitsameter dann aber konsequent falsch als Sabine Breitsamer (und einmal sogar als Susanne Breitsamer!) erwähnt. In dem ansonsten vorzüglich Korrektur gelesenen, von formalen Fehlern weitestgehend freien Buch fallen diese Schnitzer so krass auf, dass man schon fast mutmaßen könnte, sie seien absichtsvolle polemische Gesten, die selbst eine Art Noise im Text performen sollen. Zweitens liefert das Kapitel nur eine Kritik eines ganz bestimmten Teilbereichs der Sound Studies, nämlich der akustischen Ökologie nach R. Murray Schafer. Diese Kritik ist berechtigt und im Kontext einer Arbeit über Noise naheliegend, weil ein Problem an Schafers Ansatz seine unterkomplexe und letztlich einer willkürlichen ideologischen Setzung entsprungene Gegenüberstellung von 'guter' Soundscape und 'bösem' Noise ist. Diese Kritik ist allerdings keineswegs neu und wird in den Sound Studies auch vielfach geteilt. Und schon allein weil eine Generaldefinition 'der' Sound Studies aufgrund der Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes mittlerweile fast genauso unmöglich sein dürfte wie eine Definition 'der' Musik, übernimmt sich das Kapitel mit seinem Anspruch einer Kritik der Sound Studies ein wenig. Dennoch ist es aber keineswegs ein Totalausfall: Wer eine knappe Einführung in die Grundthesen von Schafers Soundscape-Ansatz inklusive der – wie gesagt, berechtigten – Kritik daran sucht, ist mit David Wallrafs konziser Zusammenfassung dieses Komplexes durchaus sehr gut bedient. Wunderbar einprägsam auf den Punkt bringt er beides mit der (vielleicht zufälligen, aber sehr aussagekräftigen) Beobachtung, dass Schafers konservative Noise-Kritik The Tuning of the World 1977 erschien, also im selben Jahr, als die Sex Pistols in Seventeen sangen: »We make noise, it's our choice / It's what we wanna do«. (Dass mir das selber in 30 Jahren der Beschäftigung mit Punk und immerhin bald halb so vielen mit Soundscape & Co. noch nicht aufgefallen ist, ist mir nun wiederum ein bisschen peinlich. Da hilft es dann auch nicht, dass ich den richtigen Namen von Sabine Breitsameter kannte.)

Ein ähnliches Aha-Erlebnis kann man – nach mehrjähriger Beschäftigung mit der Geschichte von Musik und Sound Art im 20. Jahrhundert – an einer anderen Stelle des Buches erfahren, wenn Wallraf über die Vorgeschichte von Noise als Genre schreibt: »In der Verwendung von Lärm und der Sehnsucht nach einer Artikulation des Asignifikanten hat Greil Marcus einen Wesenszug von Dada herausgearbeitet, der später im 20. Jahrhundert in der Punkbewegung wiederauftauchen sollte.« Was da recht beiläufig daherkommt, ist in Wirklichkeit ein (weiterer) subversiver Schraubenschlüssel im Getriebe der gängigen Sound- (Art-) Diskurse. In denen wird die »Emanzipation des Geräuschs« im 20. Jahrhundert zumeist von den italienischen Futuristen her erzählt, namentlich von Luigi Russolos Manifest »Die Kunst der Geräusche«. Damit kauft man sich aber als ideologische Hypothek immer den Militarismus Russolos und seine spätere aktive Laufbahn im italienischen Faschismus mit ein. David Wallraf erinnert dankenswerterweise daran, dass man diese Geschichte genauso gut oder besser von den Dadaisten her erzählen kann (nicht umsonst hat Japanoise-Gründervater Masami Akita sein Projekt Merzbow nach der paradadaistischen Unternehmung von Kurt Schwitters benannt!). Das bietet den großen diskursstrategischen Vorteil, dass der Geräusch/Noise-Diskurs von vornherein als (zumindest auch) links-emanzipatorisch imprägnierter erscheint.

Das bringt uns zum dritten Teil des Buches, dem langen Kapitel 6 »Das Auditive: Politische Akustik«. Dieses Kapitel ist meines Erachtens das Highlight des Buches, weil es in einer nachgerade spannend zu lesenden Form eine enorm breit gefächerte Fülle an empirischen Fallbeispielen für den Einsatz von Akustik als – nicht selten regelrecht gewaltförmige – Machttechnik liefert. Themen sind hier Schallgranaten gegen Demonstrant_innen, Ulrike Meinhofs Berichte über die 'weiße Folter' durch die erdrückende Stille der Isolationshaft, die psychologische Rolle von Polizeihubschrauberlärm beim G20-Gipfel in Hamburg; aber auch der Einsatz von Rockmusik als Folterinstrument durch die US-Armee und der Einsatz körperlicher Verstümmelung zur Herausbildung der europäischen Operntradition (Stichwort Kastratensänger!). Der intellektuelle Clou des Kapitels ist, dass es – in konsequenter Anwendung der vorangegangenen Überlegungen zur Unmöglichkeit einer 'positiven', substanziellen Definition des Noise – nicht den Fehler begeht, Noise als eine 'an sich' progressive oder emanzipatorische Kraft zu postulieren, wie dies etwa die Autor_innen von Noise & Capitalism teilweise versucht haben. Stattdessen ist Wallrafs Pointe die, dass Musik und ihr landläufiges 'noisiges' Gegenüber, der Lärm, beide nie unschuldig sind, sondern beide in bestimmten strategischen Situationen zu Instrumenten der Machtausübung werden können. Das verdankt sich erkennbar Foucaults Verständnis der gesellschaftlichen Macht als komplexer, dezentrierter Situation – und direkt aus einem Foucault-Zitat entspringt dann auch einer der schönsten Sätze des Buches: »«Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« - und wo es 'Musik' gibt, gibt es 'Noise'.« Aber beides eben in Anführungszeichen, weil es durchaus nicht von vornherein klar ist, wie musikalisch oder unmusikalisch die jeweiligen Ausprägungen von Macht und Widerstand sich anhören. Worauf es ankommt, ist vielmehr die grundsätzliche Haltung, die Zumutung der Macht nicht widerstandslos hinzunehmen – und die Umsetzung dieser Haltung in strategisch geeigneten Sound.

Erst im letzten, kürzesten Teil des Buches, dem Schlusskapitel »Grenzen des Hörens«, kommt Wallraf – nachdem er ganz am Anfang des Buches das Genre Noise anhand verschiedener Zitate über den Japanoise-Alt- und Großmeister Merzbow vorgestellt hatte – nochmals auf Noise als konkrete künstlerische Praxis zurück. Anhand des besonders reduktionistischen Subgenres Harsh Noise Wall (HNW) und dessen Protagonisten Romain Perrot aka Vomir wird der Fluchtpunkt einer Ästhetik totaler Negativität à la Adorno skizziert, »die dem Anspruch folgt, die oppressivste, reduzierteste und asozialste Geräuschfülle überhaupt zu produzieren, zugleich aber eine radikal emanzipierte Hörerfahrung ermöglicht, indem sie keine Ordnung vorgibt.« Während das Buch im Ganzen durchaus für soziologisch, politisch bzw. philosophisch interessierte Leser_innen mit unterschiedlichen musikalischen Vorlieben interessant ist, wird das letzte Kapitel mit besonderem Gewinn lesen, wer auch selbst Noise hört. Die eng an der konkreten Hörererfahrung entlang geführte Interpretation bestätigt die stets prekäre, fragile und metastabile, aber vom Begehren nach einem radikal andersartigen Außerhalb der Zwänge von Subjektivität geprägte, utopisch-aporetische Erscheinungsform von Noise: »Inmitten der oppressiven Fülle von Noise, der maximalen Anfüllung des auditiven Raums, deutet sich eine Freiheit an, die ihren Ausdruck in den subtilen Intensitäten des Rauschens findet: [...] Es ist zugleich mit sich identisch (Wiederholung des Immergleichen) und nichtidentisch (endlose Differenz).«