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5. September 2023
Gerald Fiebig
für satt.org

santorsa~pereyra:
„so nah ~ so fern“

Feministisch-subversive Neue Musik für zwei E-Gitarren und Elektronik

Dass die elektrische Gitarre neben dem Konzertflügel eines der symbolisch am stärksten überfrachteten Musikinstrumente der westlichen Musiktradition ist, dürfte kaum eine Übertreibung sein. So ist die E-Gitarre quasi ein Emblem für nahezu alles, was man im Guten wie im Schlechten mit Rockmusik assoziieren kann – und dabei stets ein stark männlich codiertes Instrument geblieben. Diesem beklagenswerten Zustand tritt das Gitarrenduo santorsa~pereyra, das 2020 in München gegründet wurde, seit einigen Jahren mit einem subversiven Projekt entgegen. Die beiden Gitarristen Adrian Pereyra und Ruben Maria Santorsa vergeben konsequent Kompositionsaufträge an weiblich gelesene Komponistinnen. So nutzen sie die in der Kunstmusik immer noch übliche Arbeitsteilung zwischen Komponist:in und Interpret:in, um in ihren Programmen eine feministische Dekonstruktion der E-Gitarre als kulturelles Symbol zu betreiben. Das brachte dem Duo konsequenterweise eine Einladung zum Berliner Heroines of Sound Festival Anfang Juli 2023 ein. Ihr letztes Konzert vor der Sommerpause gaben santorsa~pereyra auf Einladung von jetzt:musik!, der Augsburger Gesellschaft für Neue Musik, dann am 21. Juli 2023 im abraxas Theater in Augsburg.

Ruben Maria Santorsa (links) und Adrian Pereyra (rechts) live im abraxas Theater Augsburg am 2023-07-21 (Foto Iris Lichtinger)

Ruben Maria Santorsa (links) und Adrian Pereyra (rechts) live im abraxas Theater Augsburg am 2023-07-21 (Foto Iris Lichtinger)

Das Programm „so nah ~ so fern“ umfasste vier neue Stücke für zwei E-Gitarren und Live-Elektronik, die alle 2022 oder 2023 geschrieben wurden. Den Auftakt machte „fresh used goods“ von Annesley Black (*1979 in Ottawa, Kanada). In der Konzeption des Stücks wird eine Technik aus der Pop-Produktion aufgegriffen, bei der die Amplitude eines Instruments das Signal eines anderen steuert. Die Live-Elektronik wird somit sozusagen zur „Fernsteuerung“ der Gitarren, deren Spielgestus und Klangfarbe sich immer wieder abrupt ändert – typische, aus der Jazz- und Rocktradition bekannte E-Gitarren-Gesten blitzen auf, werden aber immer sofort unterbrochen, bevor sie sich in der stets drohenden Pose allzu bequem einrichten können. So wird „fresh used goods“ ein Eiertanz im Minenfeld der kulturellen Klischees, bei der die Live-Elektronik den Gitarren immer wieder ins Wort fällt, bevor sie sich um Kopf und Kragen spielen. In seinem in sich gebrochenen, von harten Fügungen geprägten Gestus wird sich „fresh used goods“ als dasjenige Stück des Abends herausstellen, das am „typischsten“ nach Neuer Musik klingt.

Auch „V A N I L J“ von Lisa Streich (*1985 in Norra Rada, Schweden) spielt auf kreativ-subversive Art Ansätze gegeneinander aus, die als typisch für Pop einerseits und „Kunstmusik“ andererseits gelten – jedoch auf ganz andere Art. Sie inszeniert in ihrem Stück die Figur des Singer/Songwriters – absolut gängig im Pop, in der so genannten E-Musik dagegen schon deshalb unüblich, weil Komponist:innen ja nach wie vor traditionellerweise für andere Interpret:innen schreiben. Lisa Streich unterläuft diese Genre-Begrenzungen, indem sie ihr Stück als eine Art Song-Zyklus anlegt, in dem einer der beiden Gitarristen Songtexte bzw. Gedichte singen bzw. rezitieren muss, die von der Komponistin selbst und Sylvain Cadars geschrieben wurden. Ruben Maria Santorsa meistert die Aufgabe mit Bravour – wobei es hier nicht um virtuosen Kunstgesang geht, sondern um eine introspektive, murmelnde Vokalpraxis, die in einem Niemandsland zwischen Alleine-vor-sich-Hinsummen und Sprechgesang anzusiedeln ist. Das könnte man als Parodie auf den Innerlichkeitsgestus von schlechter Singer/Songwriter-Musik lesen, aber damit würde man dem überaus klangschönen Stück von Lisa Streich nicht gerecht. Eher wirkt es so, als hätte man Teil am Bewusstseinsstrom der Dichter:in bzw. Komponist:in während der Arbeit; vielleicht ist es ihre Stimme, die im kreativen Flow halbbewusst vor sich hinspricht, vielleicht ist es aber auch nur ihr innerer Monolog. Diese Deutung wird unterstrichen durch das Wechselspiel der beiden E-Gitarren-Stimmen: während Ruben Maria Santorsa seinen Gesang begleitet, errichtet Adrian Pereyra aus langen, mittels E-Bow erzeugten Glissandi einen weit geschwungenen Klanghorizont oder gar eine Außenhülle um das intime Selbstgespräch seines Duopartners. Ganz eindeutig wird hier ein Spannungsfeld zwischen Innen- und Außenwelt errichtet – oder auch zwischen Nähe und Ferne, was ja die konzeptionelle Klammer für die hier zu hörenden Auftragskompositionen ist.

Mit „If we stay still“ von Katherine Young (*1980 in Ypsilanti, Michigan/USA) tritt das Konzert nicht nur zeitlich, sondern auch ästhetisch in den zweiten Teil ein. Dieses und das folgende Stück arbeiten sich am kulturellen Signifikanten E-Gitarre weniger auf konzeptioneller Ebene ab, sondern indem sie alles daransetzen, dass Gitarren nicht mehr wie Gitarren klingen. Mit, das soll hier schon vorweggenommen wrden, großartigen klanglichen Resultaten, die jede Genreschublade sprengen – und es überaus wünschenswert machen, dass santorsa~pereyra auch ein Publikum außerhalb der engen Neue-Musik-Kreise erreichen mögen. Denn die Klangsprachen, die im Folgenden hörbar wurden, machen auch Rock-, Punk- oder Industrial-sozialisierten Hörer:innen unwiderstehliche Angebote, aber eben gerade ohne Abstriche an der kompositorischen Komplexität zu machen.

Für „If we stay still“ kommen neben elektronischen Effekten auch allerlei Präparationen und erweiterte Spieltechniken zum Einsatz, mit denen das Duo eine Architektur aus dichten, basslastigen Klangwänden errichtet. Doch dieses sich allmählich auftürmende Dröhnen ist nicht so statisch, wie der Titel suggerieren mag. Vielmehr ist es von einer Vielzahl von Pulsen und Strömungen durchzogen wie ein Moorgebiet oder ein Wald, die ja auch nur von ferne als homogene Fläche oder Wand erscheinen. Dass sich derlei Assoziationen einstellen, liegt nicht nur an den blubbernden Klängen, die Adrian Pereyra durch Beblasen (!) eines Tonabnehmers durch einen Plastikschlauch hervorbringt, es wird mit grünlichem Licht und dem Einsatz einer Nebelmaschine auch visuell begünstigt – ein im E-Musik-Bereich durchaus seltener Effekt, der mit einem augenzwinkernden Detail unterstreicht, wie wenig sich santorsa~pereyra um Genregrenzen scheren. Diese geradezu musiktheatralen Elemente führen auf den Schlussteil des Stücks hin, in dem statt des metaphorischen ein realer Wald zu hören ist: nämlich Feldaufnahmen aus dem Wald von Weelaunee nahe Atlanta, Georgia/USA. Dort soll in einem ökologisch wertvollen Waldgebiet die so genannte „Cop City“ errichtet werden, eine riesige Trainingseinrichtung für paramilitärische Polizeiausbildung. Indem Katherine Youngs Stück dem Wald „eine Stimme gibt“, verweist es auch auf die politische Kampagne zum Schutz dieses Waldes (https://stopcop.city). So gerät das Stück zu einem Musterbeispiel von gelungener „engagierter Musik“, weil es seine gesellschaftlich-politische Botschaft in eine aufregende, das Publikum emotional „engagierende“, formal überzeugende Struktur gebracht hat – und die Fieldrecordings des „Tatorts“ nicht nur als (referentieller wie moralischer) Fingerzeig fungieren, sondern eine tragende musikalische Funktion übernehmen.

Seinen Abschluss fand der Abend mit einem Stück von Yoko Konishi (*1985 in Japan): „The light fell on the wall, where limpidity like gauze, she gazed into the distance“. Die durchsichtige Helligkeit, die der Titel suggeriert, wird also durch die Gaze (über den Augen) unscharf gemacht – hier ist wohl ein Spiel mit unseren Wahrnehmungsmustern und -konventionen intendiert. Schließt man bei diesem Stück die Augen, kann man denn auch schnell vergessen, dass man sich „offiziell“ in einem Gitarrenkonzert befindet. Denn man hört maschinenhafte mechanische Klänge, deren Quelle sich schwer erschließen lässt – die Assoziation an Gitarren liegt aber durchaus fern. Öffnet man die Augen wieder, sieht man: Die Präparationen der E-Gitarren haben sich geradezu in den Bereich der Rauminstallation ausgeweitet. Zwei Snare-Drums stehen auf der Bühne, und das Signal der Gitarren fungiert als Trigger für Aktoren, die die Snares zum Schwingen bringen. Die Gitarren werden damit nüchterne Werkzeuge in einem Klang-Produktionsprozess, die jedem genialisch-vitalistischen Spielgestus entzogen werden. Damit bringt dieses letzte Stück des Abends den spielerisch-kritischen Zugang des Programms noch einmal auf den Punkt. Eines Programms, das in der Vielseitigkeit der Zugriffe auf das, was man mit E-Gitarren und Elektronik machen kann, den beiden Performern ein enormes Maß an ganz unterschiedlichen spieltechnischen Finessen abverlangt, quasi eine Virtuosität zweiter Ordnung – was vom Publikum mit herzlichem und hochverdientem Applaus gewürdigt wurde.

Das nächste Mal sind santorsa~pereyra wieder in Berlin zu hören, und zwar am 19. September 2023 im Labor Neunzehn – KM28.