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JUGEND HEUTE: VOLL SCHEISSE
Immer wenn ich I. treffe sülzt sie mir die Ohren voll: War unsere Schulzeit nicht wunderschön? Vermisse ich die alten Zeiten nicht? War nicht alles früher viel besser? "Nein", schreie ich sie dann an, "meine Schulzeit war Scheiße, die meisten Freunde von damals haben sich in ihrem Spießeridyll eingerichtet oder sie sind Alkoholiker geworden oder gleich tot." Die nostalgische Verklärung dieser Zeit setzte bei I. gleich nach dem Abschlusszeugniss ein, das wäre nicht weiter schlimm, aber sie hält bis heute an.
Enid und Rebecca, die beiden Heldinnen aus Dan Clowes neuem Comic-Roman Ghost World sind noch mittendrin in der Bewältigung ihrer Kindheit. Sie haben ihre persönlichen Identitäten noch nicht gefunden, kämpfen noch mit dem Verlust der kindlichen Unschuld und neben der Neuentdeckung des Sexus beschäftigen sie zwei Fragen: "Was soll ich mit meinem Leben anfangen?" und - viel wichtiger - "Was machen wir jetzt?". Das könnte furchtbar langweilig werden, wenn diese Geschichten nicht von einem wahren Meister erzählt werden würde. Dan Clowes hat nach seinem großen Werk Wie ein samtener Handschuh … ganz bewusst nur noch auf Kurzgeschichten gesetzt. Ungefähr dreimal im Jahr erscheint seine Antologie Eightball in Amerika und jedes Heft ist gefüllt mit absurden kleinen Geschichten, mit genauen Beobachtungen der amerikanischen Alltagswelt.
So - nämlich als Short Story - begann auch Ghost World. Doch die beiden Hauptfiguren wuchsen Clowes schnell so ans Herz, daß er anfing aus ihrem Kurzauftritt sein zweites Hauptwerk zu konzipieren. Und so hat Clowes in Zusammenarbeit mit dem "Crumb"-Regisseur Terry Zwigoff inzwischen ein Drehbuch erarbeitet, daß nach einigen Anlaufschwierigkeiten gerade verfilmt wird. In den Hauptrollen Thora Birch (die Tochter aus American Beauty) und Steve Buscemi.
Ghost World bewegt sich langsam und episodisch voran und erst im letzten Drittel fängt Clowes an die Fäden der Erzählung miteinander zu verspinnen: Da ist Josh, schüchterner Freund der beiden Girls, der mit Enid schläft um an Rebecca ranzukommen, da ist Enids liberaler Vater, der ihr zwar alle Freiheiten läßt, sie aber in eine ungeliebte College-Karriere drängt und da sind die ganzen traurigen, wirren Nebenfiguren, wie der Freak John, der Kellner Al und der Esoteriker Bob, die unter den beiden Mädchen leiden müssen. Denn richtig sympatisch - und darin liegt die große Kunst von Clowes - sind die beiden Nervensägen nicht. Sie sind keine Opfer, die von der bösen Welt zerbrochen werden. Vielmehr haben beide am traurigen Ausgang der Geschichte Mitschuld. Die Geisterwelt der beiden ist in doppelter Hinsicht eine: Da ist die Sehnsucht nach alten Spielzeug, alten Sachen, alten Songs, die Enid hetzt. Und da sind die ohne Emotionen vor sich hin lebenden Erwachsenen. Aber die Entscheidungen, die man im Leben trifft, sind immer die eigenen. Manchmal kann man sie korrigieren, oft aber nicht.
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