Im Comic entzweit
Die ersten Undergroundcomics, die in den späten sechziger Jahren in Amerika aufkamen, waren ein Gegenentwurf zu den bunten, realistisch gezeichneten Superheldenwelten, die damals die Comickultur in den Vereinigten Staaten dominierten. Thematisch wurden die Felder der Autobiographie und der gesellschaftlichen Gegenwart entdeckt und besetzt, graphisch knüpften die Zeichner an die Traditionen der Funny Animal Comics und der frühen schwarzweißen Zeitungsstrips an. Entenhausen auf Acid, Fritz the Cat unter Hippies, das Kommunendasein der Freak Brothers … die Comix-Macher hielten dem Land einen grotesken Spiegel entgegen. Auch die durch die Superheldenheftproduktion entstandene Arbeitsteilung in Autor, Vorzeichner, Inker, Kolorist und Letterer wurde rückgängig gemacht: Robert Crumb, Gilbert Sheldon und Bill Griffith kontrollierten sämtliche Arbeitsschritte, vom ersten Storyentwurf bis hin zur Covergestaltung.
In Europa und ganz besonders im frankobelgischen Raum hatten die Superheldencomics einen viel geringeren Einfluß, zum großen Teil bedingt durch die deutschen Okkupationsjahre. Hier entwickelte sich eine eigene Comictradition, einerseits der Stil der Ligne claire mit Hergés "Tintin" als prominentestem Beispiel, andererseits die abgeschlossene Abenteuergeschichte im Albenformat mit Rittern, Piraten und Cowboys als Serienhelden. Zu einem Meilenstein des Comics avancierte dabei die Westernserie "Blueberry", 1963 entwickelt vom Autor Jean-Michel Charlier und dem Zeichner Jean Giraud. Die anfänglich noch ganz den Vorbildern verpflichtete Comicreihe brach nach und nach inhaltlich, aber vor allen Dingen graphisch mit den bestehenden Konventionen. Jean Giraud gab das starre Layout der Seiten auf und seinen Panels den Raum, den sie für sich beanspruchten. Enge, hochformatige Einzelbilder, in denen die Sprechblasen wie Wolken über den Köpfen schweben; verwinkelte Perspektiven, in denen das bühnengerecht angeordnete Personal verschlungen die Tiefe des Raumes nutzen und großflächige, endlose Landschaftsimpressionen, die die Weite und Ödnis der Wüste einfangen. Die Anleihen, die Giraud beim Medium Film machte, sind bei "Blueberry" deutlich zu spüren und wurden stilbildend für Generationen von Zeichnern. Doch noch stärker prägte Jean Giraud unter seinem Pseudonym Moebius unsere Bilderwelten.
1975 gründete Giraud alias Moebius mit Kollegen das Comicmagazin "Métal hurlant" und durch seine darin veröffentlichten Arbeiten wurde er zum bedeutendsten Pionier des modernen französischen Comics. Seine bevorzugten Themenfelder waren Science-Fiction und Fantasy, die er mit zahlreichen Versatzstücken aus der trivialen Literatur durchsetzte. Moebius deklinierte in der Folge die Gattung durch: Er schuf intellektuelle Vexierspiele ("Die hermetische Garage"), anarchische Parodien ("Arzach"), esoterische Gegenwelten ("Die Sternenwanderer") und traumlogische Abenteuergeschichten ("John Difool"), ohne sich eindeutig auf eine Spielart festzulegen. Immer wieder kommt es in seinen Comics zu Ausbrüchen, durchbrechen Umleitungen und Selbstreflexionen die Handlungsfolge. Moebius’ assoziativ erzählte Bildgeschichten schreien geradezu nach dem reifen, erwachsenen Leser. Verbargen die amerikanischen Undergroundmacher ihren anarchistischen Spott und ihre provokative Kritik hinter der Maske des Niedlichen, so fand Moebius das Gewand des Niegesehenen.
Künstlerisch markieren die Bildgeschichten, die Moebius seit Anfang der siebziger Jahre schuf, einen Quantensprung in der Comicgeschichte. Moebius revolutionierte die Farbtechnik und entwickelte eine eigene Form der zeichnerischen écriture automatique. Vor allen Dingen aber gestaltete Moebius mit seinen Bildern unsere Vorstellung von der Zukunft. Fast in jedem Science-Fiction- und Fantasy-Film lassen sich Anleihen bei Moebius finden, kein Wunder, da er an vielen Genreklassikern wie "Alien", "Tron", "Das fünfte Element" oder "The Abyss" selbst aktiv mitarbeitete.
In dem jüngst in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen "Anderen Bibliothek" erschienenen Buch "Zeichenwelt" wird in erster Linie dem Zeichner und Künstler Moebius gehuldigt. Es ist ein nicht eben billiger, aber dafür prachtvoller Band mit mehr als 250, zum Teil farbigen Abbildungen. Trotz des eher kleinen Formats entfalten die darin abgedruckten Zeichnungen und Bilder ihre Pracht und bezeugen die Vielseitigkeit des Comickünstlers.
Doppelseite aus "Fumetti"
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Vorgeführt und erläutert wird Moebius’ "Zeichenwelt" von Andreas Platthaus, einem hervorragend ausgewiesenen Kenner der Materie. In dem ersten großen Essay "Im Comic entzweit" gibt Platthaus eine brillante Einführung in das Werk, sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Spaltung des Künstlers in den Zeichner Jean Giraud und den Comicautor Moebius. Dieses Charakteristikum, das heutzutage für eine ganze Reihe von Comicmachern zutrifft, zu nennen wären etwa Dave McKean oder Kyle Baker, wird womöglich ein wenig überbewertet, wenngleich Moebius’ 90seitige Bildgeschichte "Fumetti", die das Herzstück des Buches bildet, diese Interpretation nahelegt. Dieser bislang unveröffentlichte Comic ist eine grandiose Innenansicht des janusköpfigen Künstlers – und rechtfertigt allein schon die Anschaffung des Buches.
In dem letzten Aufsatz verkündet Platthaus schließlich "den Tod der Comics". Er beklagt die Bequemlichkeit der Verlage und Macher, die Musealisierung des Comics, fehlende Innovationen, und überhaupt die Begrenztheit des Mediums. Obschon es für diese skeptische Sichtweise eine Vielzahl von Belegen gibt, existiert ebenfalls berechtigte Hoffnung, daß es auch in Zukunft Comicmacher - Platthaus nennt mit Joann Sfar und Lewis Trondheim selbst Beispiele - geben wird, die auf ihre künstlerische Autonomie bestehen, die die Bildgeschichte für sich neu erfinden, ohne dabei die Traditionen und Eigenarten des Mediums zu verleugnen. Jean Giraud alias Moebius geht ihnen als leuchtendes Vorbild voran.