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April 2008
 

Der arme Bastard Joe Matt

Joe Matt
artwork © Joe Matt

Ein Interview geführt von "Two Handed Man"
Übersetzung von Manfred Merbaul

Auszüge aus diesem Interview sind bereits in der aktuellen Nummer 102 des Comicfachmagazins „Comixene“ erschienen. Im amerikanischen Original ist das Gespräch bei twohandedman zu finden. Die Übersetzung des Interviews stammt von Manfred Merbaul (Bearbeitung der satt.org-Version Felix Giesa). Für die Vermittlungsdienste, die zur Veröffentlichung führten, danken wir Uwe Garske von der Edition 52 und Klaus Schikowski von der „Comixene“. (Felix Giesa)

Ich werde nie das erste Mal vergessen, als ich Joe Matts Comics las. Ich hatte nie zuvor etwas so Unterhaltsames und Enthüllendes gelesen. Sein sauberes, klares Artwork und der schmerzhaft persönliche, manchmal derbe Stoff wirkten an der Schaffung eines wirklich einzigartigen und unvergesslichen Lese-Erlebnisses zusammen. Dennoch konnte ich mir nicht zusammenreimen, was sein Werk zu einer sooo lustigen Lektüre machte, also dachte ich mir, ich sollte nach Toronto fahren und versuchen, es herauszufinden. Durch Herrn Matts Intelligenz und Offenheit machte mir dieses Interview richtig Spaß. Hoffentlicht gefällt's Ihnen! (Two Handed Man)


Two Handed Man (THM): Was einem wirklich auffällt, wenn man Ihre zwei Bücher liest („Peepshow: The Cartoon Diary of Joe Matt“ und „The Poor Bastard“) ist die Zunahme Ihrer zeichnerischen Fähigkeiten vom ersten zum zweiten Buch. Was ist dafür verantwortlich? In welcher Weise waren die Einseiter im "Tagebuch" ein Experiment, ein Training für Sie?

Joe Matt (JM): Wenn etwas dafür verantwortlich ist, dann nur Sachen wie das Studium von Spiegelmans „Maus" und des Werks anderer Zeichner, der Versuch zu vereinfachen. In meinen letzten zwei Heften war das Artwork einfacher, weil ich wie Spiegelmann versuchte, in Originalgröße zu zeichnen. Ich wollte keine Verkleinerung des Artworks, ich wollte es zu hundert Prozent, also machte ich die Seiten in der Größe von Comicseiten, 8 mal 10 Zoll. Man muss vereinfachen, wenn man so klein arbeitet. Doch schließlich verkleinerte ich es im Comic auf 80%, weil es besser aussieht, wenn man es etwas strafft. Doch ja, ich bemühte mich bewusst um Vereinfachung. Was das Experimentieren mit den früheren One-Pagern betrifft, da war ich eher stark beeinflusst von „Krazy Kat“ und „Raw“ und dachte, ich hätte die Seiten gern groß oder so ... Die ersten acht Ausgaben von „Raw“ liebte ich und dachte, eines Tages wäre mein Buch so groß. Deshalb stopfte ich so viele Panels auf eine Seite, aber so hat's nicht geklappt. So große Bücher verkaufen sich nicht. Mir war damals nicht klar, dass die Leute keine riesigen Bücher bestellen. Die Geschäfte wollen sie nicht.

THM: Viele Seiten im „Tagebuch" bestehen aus winzigen Panels mit einem Gesicht vor einem einfachen schwarzen Hintergrund. An welchem Punkt gewannen Sie genug Vertrauen in Ihre zeichnerischen Fähigkeiten, um sich von diesem Format zu verabschieden und wirkliche Szenen und Hintergründe zu zeichnen, statt bloß sprechender Köpfe? Ihr zweites Buch bringt eine Menge mehr Details und ein paar extrem gut ausgeführte Hintergründe, die in Ihrem ersten Buch fast komplett fehlen ...

JM: Ich glaube, ich habe etwas an Selbstvertrauen gewonnen, aber sicher war es auch wichtig, dass ich Chester Brown und Seth getroffen habe. Als ich Chesters allererste autobiografische Story „Helder" gesehen habe, er zeichnete sicher Hintergründe und so. Diese Burschen überzeugten mich, von One-Pagern auf einen Comic umzusteigen, weil das viel mehr einbrächte. Also war es sehr wichtig, sie zu treffen, aber ich fühl mich immer noch nicht wohl mit realistischen Hintergründen. Mein nächstes Heft hat ausschließlich sprechende Köpfe, 32 Seiten mit mir, Chester und Seth beim Reden, mit minimalen Hintergründen. Wir sind bloß in einem Restaurant an einem Tisch. Die Hintergründe sind bloß schwarz, sie sind nichts. Für mich geht's nur um den Dialog. Nur um den Dialog und die Gesichtsausdrücke. Schauen sie sich Peanuts an, die Hintergründe mussten nie sehr detailliert sein ... Ich versuche mich mehr als Schriftsteller zu sehen, der sich in der knappen Sprache von Comix ausdrückt. Das ist kein Film, wissen Sie? Es ist kein Film und soll nicht versuchen, einer zu sein, also interessieren mich solche Hintergründe nicht so.

Joe Matt
(Foto: Edition 52)

BIOGRAFIE:
Joe Matt wurde 1963 geboren. Er studierte am Philadelphia College of Art. Seit 1987 zeichnet er an seinem Cartoon-Tagebuch namens Peepshow. Diese empfehlenswerten Einseiter, die einen tiefen Einblick in das Leben des Joe Matt geben, sind in Amerika bei Drawn & Quarterly unter dem Titel „Peepshow: The Cartoon Diary of Joe Matt“ erschienen. Diese Strips machten ihn zu einem Vorreiter des neuen autobiografischen Comic.

1992 begann er mit einer Heftserie, die ebenfalls „Peepshow“ betitelt ist, deren ersten sechs Hefte nun gesammelt bei der Edition 52 vorliegen. Darin beschreibt er schonungslos bis in die kleinsten und peinlichsten Details seine Leben als Abhängiger von Pornographie und wie seine Beziehung in die Brüche geht. In späteren Bänden, die ebenfalls bei der Edition 52 geplant sind, beschreibt er seine Kindheit und zeichnet Gespräche mit seinen Zeichnerkollegen Seth und Chester Brown auf. Für die letzten vier Hefte von „Peepshow“ brauchte er 8 Jahre. Joe Matt lebt in Los Angeles. (Klaus Schikowski)

THM: Besteht eine Gefahr, dass ein Heft voll sprechender Köpfe nicht genügend abwechslungsreiche visuelle Information enthält, um das Interesse der Leser wachzuhalten?

JM: Ja, das ist es, komplett. Die ganze Herausforderung besteht darin, ihr Interesse ohne irgendwelche Tricks außer einem guten Text wachzuhalten. Und die Zeichnungen sollten dem Text dienen, wie die Buchstaben des Alphabets der Literatur dienen. Das heißt, sie sollten auf einer rein ikonischen oder symbolischen Ebene fußen, und hoffentlich keine Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken.

THM: Es scheint, Sie sind im letzten Heft sehr nahe daran herangekommen, da hatten Sie ein paar Seiten lang nur Ihren Kopf beim Fernsehen ...

JM: Ja.

THM: ... und ich fand, dass es irgendwie langweilig wurde oder zumindest irgendwie frustrierend.

JM: Ja. Noch einmal, das war die Herausforderung, es spannend zu halten, obwohl ich bloß fernsehe. Es geht auch um die Beschränkung, die ich mir gegeben habe, in keinem Heft Zeitsprünge zu machen, wissen Sie, sie sind alle im Grunde ohne Unterbrechung. Dieses Letzte, ich rede vom neuen Heft, Nr. 13, als wäre es schon erschienen, aber es ist fast fertig, diese letzten drei Hefte, 11, 12 und 13, sind im Grunde je eine Szene von ununterbrochener Zeit. Diese Beschränkung stellt auch eine Herausforderung dar. Ich weiß nicht, da ist was Interessantes dran ... Seth hat mich drauf hingewiesen, dass eine Menge Dinge, die wir lieben eine Kombination aus interessant und langweilig sind. Ich weiß nicht, was einem da sofort einfällt, er erwähnte diese alten „Little Rascals"-Filme, die wir wirklich lieben und die schrecklich langweilig sind, die wirklich frühen so um 1930 - 1932, als grade der Tonfilm eingeführt worden war. „Eraserhead“! Wissen Sie, ist auch wieder irgendwie ein langweiliger Film, aber er hat diese Kombination aus langweilig und interessant. Ich fand das eine sehr scharfsinnige Beobachtung von Seth und es war sehr erleuchtend, als er mich vor ein paar Wochen drauf hingewiesen hat. Es erinnerte mich an die Zeit vor vielen Jahren, als Seth sagte: „Liebe ist eine Kombination aus Lust und Mitleid." Das war wie: „Wow." Es klang nach wirklicher Weisheit. Das sind Juwelen, die ich von Seth hörte.

THM: Lustig, dass Sie „Helder" erwähnen, denn in Chester Browns Fußnote zu der Geschichte "The Little Man" sagt er, dass einer der Hauptfaktoren, die ihn dazu brachten, autobiografische Strips zu machen, seine Begegnung mit Ihren Strips war, und Sie sagen, eins der Dinge die Sie zu autobiografischen Arbeiten ermunterten, sei die Begegnung mit seinem Zeug. Was war also zuerst?

JM: Robert Crumb und Harvey Pekar waren zuerst. Crumb ist sicher der stärkste Einfluss auf uns alle. Und Pekar hatte realistische Storys und Hintergründe, es waren nur so Scheißkünstler, die er benutzte. Aber ja, Chets Fähigkeiten als Cartoonist, als Zeichner, sind ohnegleichen, wissen Sie? Ich liebte seinen Stil und wollte es ihm gleichtun, als ich ihn sah. (Lacht.) Ich versuchte es, aber konnte es nicht.

THM: Sie waren also viel früher auf Crumbs autobiographische Storys gestoßen?

JM: Oh ja. Crumb, Spiegelman und Pekar, von denen finde ich, sie hatten den größten Einfluss auf mich, gleich von Anfang an.

THM: War es ein Wendepunkt für Sie, als Sie Crumbs „My Troubles With Women" lasen?

JM: TOTAL. Die gehören immer noch zu meinen Lieblingscomics, absolut. Irgendwie ist es dieses Verlangen nach der kompletten Graphic Novel à la Crumb, dieses Vakuum hab ich irgendwie versucht zu füllen. Maus war die erste wirklich großartige Graphic Novel, und ich wünsch mir immer, es gäbe mehr von der Sorte.

THM: Ich denke, Crumb hat nie eine lange Erzählung gemacht.

JM: Richtig. Ich halte Crumbs „My Troubles With Women" für seine beste Anthologie, dann Bobs und Harv’s Comics, die Anthologie der gemeinsamen Arbeiten von Crumb und Pekar.

THM: „Bekenntnisliteratur" hat eine lange und reiche Geschichte von St. Augustin bis Henry Miller, aber als Sie mit Ihren autobiografischen Strips begannen gab es nichts vergleichbares in der Art. Was ist an autobiografischen Strips, das Ihnen zusagt?

JM: Die Ehrlichkeit sagt mir zu. Die Mühelosigkeit der Stoffsuche in den eigenen Erfahrungen – es schien mir einfach natürlich zu sein. Ich weiß nicht, es war einfach eine sehr befreiende Entscheidung. Ich weiß nicht, worauf ich es schieben soll. Auf den Katholizismus? Das Bedürfnis zu beichten? Den therapeutischen Nutzen der Beichte und Bloßstellung? Es war das genaue Gegenteil der Art, wie ich bis dahin mein Leben geführt hatte. Ich hab meine Pornos während der gesamten Highschoolzeit versteckt. Als Jugendlicher hätte ich mich umgebracht, wenn jemand gewusst hätte, dass ich masturbiere. Noch einmal, diese autobiografischen Zeichner, die ich zitiert habe, waren sehr wichtig, besonders Crumb. Aber ich weiß nicht, warum sie mich angezogen haben. Nichts anderes packte mich. Fantasy sicher nicht. Superhelden sicher nicht. Sowas könnte ich niemals zeichnen. Es hat, glaub ich, irgendwas Schwules, wenn man den ganzen Tag diese riesigen Muskelpakete zeichnet.

THM: Definitiv! Das ganze Superheldengeschäft kommt mir so pervers und schäbig vor.

JM: Eigentlich ist schwul das falsche Wort für das, was ich meine. Ich glaube, ich bin einfach aus dem ganzen Superhelden-Genre rausgewachsen, und nun könnte ich mir nicht vorstellen, dass es mich noch interessiert, es sei denn, ich wäre schwul und genösse die idealisierte männliche Gestalt, irgendwie wie Wrestling im TV zu sehen. Ich meine, diese Sachen existieren schlicht und einfach als Machtfantasien für kleine Buben. Und soweit es mich betrifft, kann keiner Jack Kirby bei Superheldencomics toppen. Er ist das, was die Beatles für Rock'n'Roll oder Popmusik waren. Es ist fast unmöglich, besser zu sein als diese Jungs, also wozu versuchen? Es gibt eine Menge andere unerschlossene Gebiete, auf denen man konkurrieren kann, und der autobiografische Comic hat anscheinend am lautesten geschrieen.



Joe Matt: Peepshow




Joe Matt: Peepshow




Joe Matt: Spent

THM: Können wir zum Katholizismus zurückkehren? Sie sind katholisch aufgewachsen und regelmäßig beichten gegangen. Jetzt machen Sie das nicht, aber Sie sagten etwas über das Bedürfnis zu beichten, als ob sie immer noch beichten würden, nur anders. Gibt es etwas, was Sie sublimieren oder auszudrücken versuchen, nur auf Ihre eigene Art, ohne autoritäre Struktur? Ich meine, Sie hören auf, zur Beichte zu gehen, und jetzt beichten Sie für Ihren Lebensunterhalt! Und was Sie über die Highschool sagten, war das eine Reaktion auf die Repression, die Sie empfunden haben? (Das könnte erklären, warum es mich erheitert, wenn ich Joes deprimierende Beichten lese – als wären sie eine Zurückweisung der Scham! – THM)

JM: Viiiielleicht, aber ich kann es nicht sagen. Ich weiß es nicht. (Wir lachen beide.)

THM: Gibt es jemanden, den ich anrufen kann, der es weiß?

JM: Kann ich nicht sagen, wirklich. Es könnte eine Unfähigkeit sein, Fiktives zu schaffen, oder ein völliger Mangel an Vorstellungskraft meinerseits, weiß nicht.

THM: Naja, es scheint die richtige Entscheidung für Sie gewesen zu sein.

JM: Oh, ich bin definitiv glücklich damit. Vor dem Interview sprachen wir über den Paten, und ich werd sicher nicht über Gangster schreiben, wissen Sie? Ich hab keine Ahnung, wie andere schreiben. Sogar der Pate, so wie Mario Puzo schreibt, würde ich annehmen, er hatte irgendeine Verbindung zur Unterwelt, viel mehr als Coppola hatte. Was er schrieb, muss bis zu einem gewissen Grad auf tatsächlichen persönlichen Erfahrungen beruhen. Zumindest nehm’ ich das an, weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich sonst darüber sagen soll.

THM: Ständig eine Comicversion von sich selbst zu zeichnen scheint eine einzigartige Herausforderung zu sein. Wie lange brauchten Sie, um eine karikierte Version von sich selbst zu Papier zu bringen, mit der Sie glücklich waren?

JM: Ich habe mich bewusst entschieden, keine Fotos zu verwenden. Ich ziele überhaupt nicht auf Ähnlichkeit ab, und ich bin nicht einmal glücklich damit, wie ich mich jetzt gerade zeichne. Es ist einfacher, aber immer noch nicht genau. Man versucht, etwas Einfaches zu finden. Ich denke immer über die Peanuts nach: Man muss die einzelnen Elemente auf ihre Basis zusammenkochen. Über Ähnlichkeit hab ich mir keinen Kopf gemacht, ich strebte bloß nach Stetigkeit. Und ich wollte, dass verschiedene Figuren von Panel zu Panel leicht identifizierbar sind. Z.B. hab ich Chester bewusst nicht mit Brille gezeichnet, obwohl er eine trägt, denn sonst würde er mir zu ähnlich sehen. Und wenn ich Seths Brille zeichne, schieb ich sie immer seine Nase runter, damit ich Punkte für die Augen machen kann, während die Punkte für meine Augen nie zu sehen sind, wenn ich die Brille aufhabe.

THM: Als ich Sie zum ersten Mal traf, erkannte ich Sie nach Ihren Zeichnungen, obwohl Sie sich wirklich einfach zeichnen. Also haben Sie's wirklich gut hingekriegt, als Sie entschieden, welche Züge Sie hervorheben sollten.

JM: Andersrum würde es echt nicht funktionieren. Wenn Sie zuerst mich und dann die Zeichnung gesehen hätten, würden Sie nicht finden, dass wir uns ähnlich sehen. Es ist nur ein mentaler Ausdruck dessen, wie ich mich selbst sehe. Ich hab immer noch das Gefühl, dass ich mich um einiges jünger zeichne, als ich wirklich bin. Ich frag’ mich, wie ich die Figur altern lassen soll, wenn ich älter werde. Ich wollte sagen dicker, aber ich will nicht mal zugeben, dass ich dicker werde. Man kann nur wenig tun, um eine Figur altern zu lassen. Man kann Falten dazutun oder Gewicht. Oder man kann Haare wegnehmen. Und niemand will das machen, niemand will sich dem stellen. Im Wesentlichen zeichne ich mich so, wie ich vor zehn Jahren war.

THM: Zieht sich Ihr Haaransatz noch zurück oder bleibt er so.

JM: Ob sich mein Haaransatz noch zurückzieht? Ich glaube, der bleibt so. Eigentlich fängt es jetzt an, hinten auszudünnen.

THM: Wirklich?

JM: Ja. (Lehnt sich vor, um mir seine Schädeldecke zu zeigen.) Genau da dünnt sich's aus, sehen Sie? Mehr als früher, das steht mal fest. Sieht furchtbar aus, was soll ich sagen? Aber das ist mir wurscht. Wir müssen alle sterben.

THM: Ich denke ein Teil des Widerstands von Lesern, die Actionstorys voller Krach und Wut gewöhnt sind, kommt von einem Gefühl, dass sie gelinkt werden. „Nichts ist passiert!" „Wer SCHERT sich drum, wie sich die Eingeweide von Aline Crumb an dem und dem Tag bewegt haben?" „Wieso hält der Kerl sein Leben für sowas Besonderes, das es der Mühe wert ist, darüber zu lesen?" – und für mich ist das der Punkt. Ich denke mir: Ja, JEDERMANNS Leben ist es wert, mit dieser Art Ehrlichkeit betrachtet zu werden, und der Erstbeste, der mir auf der Straße entgegenkommt, ist sicher interessanter und komplexer und geheimnisvoller als irgendein maskierter Rächer. Der eine ist was Reales und authentisch Menschliches und der andere ist eine kapitalistische Lüge und soll die Leute von wichtigeren Dingen ablenken. Wissen Sie, was ich meine? Waren autobiografischen Comics bloß die Form, die Ihnen am meisten lag oder versuchten Sie, darauf hinzuweisen, worauf sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft richtet oder richten sollte? War es in irgendeiner Weise eine Zurückweisung des Superhelden-Genres und seines kulturellen Einflusses?

JM: Sicher. Am Ausgangspunkt sind eine Menge autobiographischer Comics, meine auch, eine Reaktion auf das Superhelden-Genre, aber das ist nur der Anfang. Und ich glaube schon, dass es stichhaltig ist, wenn jemand sagt, jemandes Eingeweidebewegungen sind nicht interessant. Es gibt langweilige Sachen, und es geht auf lange Sicht ums Erzählen, und es gibt gutes und schlechtes Erzählen. Prosaische langweilige Ereignisse sind nicht um ihrer selbst willen wichtig. Es geht um den Kontext. Ich hab unlängst „Goodfellas“ gesehen, und eins ist mir aufgefallen: An einer Stelle sind sie alle im Gefängnis und kochen dahin und ich bemerke die Aufmerksamkeit, mit der sie kochen. Sie nehmen eine Rasierklinge zum Knoblauchschneiden, und da sind diese kleinen Details. Später kommt dann das Ding, bei dem Millionen Dollar auf den Flughafen geklaut werden, und man sieht das Ding nicht mal! Eins der größten Dinger, die in der amerikanischen Geschichte je gedreht wurden, und man sieht es nicht mal, das Geld kommt später vor und sie haben das Geld und das war's. Und diese Art, Entscheidungen zu treffen ist wirklich beeindruckend, wenn jemand wie Scorsese so gute Instinkte hat und weiß, was er tut. Dasselbe beim „Paten“. Sie können sich auf die kleinste Sache konzentrieren, und wenn sie's richtig machen, bringt es was. (Lacht.) Welche Frage sollte ich gleich wieder beantworten? Ah ja, autobiografische Comix sind eine Reaktion auf Superhelden, aber das ist nur der Ausgangspunkt. Meet Joe Matt

THM: Ist die autobiografische Arbeit irgendwie Ihre Art zu sagen, dass unsere Aufmerksamkeit auf Anderes gerichtet sein sollte als die erfundenen Geschichten, die die Mainstream-Kultur dominieren?

JM: Nein. Ich kann nicht diktieren, worauf die Leute stehen sollten und was sie genießen sollten oder nicht. Das ist ein Salinger-Zitat, das mir Seth mal zitiert hat, es ist von Seymour, vielleicht ein Vorwort oder vielleicht ist es von Zoey. Buddy Glass, oder vielleicht ist es Seymour, sagt, du musst das Buch erschaffen, das du am liebsten lesen möchtest. Es ist das, was du am interessantesten findest, und das ist alles, was ich versuche, etwas zu erschaffen, was ich mit Genuss lesen würde, weil es ein ehrlicher Einblick in jemandes Leben wäre, sehr ähnlich dem voyeuristischen Vergnügen, das ich bei der Lektüre einiger der besten Crumb-Strips habe. Aber wir haben alle Eingeweidebewegungen, wir duschen alle, machen die gleichen kleinen Sachen, und für mich wäre am Duschen interessant zu sehen, was seine Gedankenprozesse waren, während er unter der Dusche stand, nicht die Handlung selbst, sie könnten alles mögliche machen. Man ist besser dran, wenn man nur seinen Instinkt verwendet und sich drauf konzentriert, was immer einen erregt oder interessiert.

THM: Ich denke was mich daran interessierte, dass Aline in „Self Loathing Comics“ (Selbstverachtungscomics) über ihre Eingeweidebewegungen redete, kam einfach daher, dass ich sowas nie zuvor in Comics gesehen hatte.

JM: Ja, es ist wie Harvey Pekar, der eine Seite lang Limonade macht, den Löffel ableckt und alles. Es war was, was man vorher nie gesehen hatte. Es ist wie Crumb und sein „Joe Blow"-Strip oder so. Diese Sachen müssen ein erstes Mal gemacht werden. Tabus müssen gebrochen werden, bevor man wirklich entscheiden kann, was Wert hat und was nicht. Und im Rückblick ist es üblicherweise eher die Art, wie etwas gehandhabt wird, als das Ding, das gehandhabt wird.

THM: Die Version von Ihnen, die Sie in Ihren Comics darstellen, ist nervös, sprunghaft und furchtsam. Und doch bestehen Sie darauf, dem Leser peinliche/ erniedrigende Bekenntnisse aufs Auge zu drücken. Das scheint mir eine Art von Tapferkeit zu konstituieren, von der sich das übliche „Rauhbein" nichts träumen ließe. Sie brauchen nur vier Seiten Ihres Cartoon-Tagebuchs, bis Sie anfangen, Dinge über sich selbst zuzugeben, bei denen andere lieber sterben würden, als sie irgendjemandem zu erzählen, geschweige denn Tausenden Fremden. Als Sie anfingen, gab es da irgendeine Verlegenheit oder Angst, die Sie überwinden mussten, bevor Sie mit solcher Ehrlichkeit schreiben konnten?

JM: Sicher gab es die. Hauptsächlich bei der allerersten Seite, wo ich über Pornografie spreche, aber irgendwie kam ich drüber hinweg. Es war die erste und wahrscheinlich größte Hürde überhaupt, und danach ging's nur noch bergab. Ich glaube, es ist wie bei einem Musiker, der das Lampenfieber überwindet, wenn er zum ersten Mal die Bühne betritt, er muss einfach. Das erste Mal ist immer das schwerste, und du machst es einfach. Du entscheidest, dass du das tun willst, du wirst auf lange Sicht dabei sein und du musst irgendwann anfangen.

Sharon: (Sharon ist eine Freundin von Joe, die bei einem Großteil des Interviews dabei war – THM) Kann ich mal was fragen?

JM: Ja.

THM: Ja, bitte.

S: Was empfindest du dabei, wenn deine Mom das ganze Zeug sieht? Sie ist irgendwie religiös.

JM: Sie ist irgendwie religiös, aber das ist mir egal. Ich lebe nicht für meine Mom. Ich bin wütend auf sie, weil sie mir das ganze katholische Schul-, das Kirchenzeug angetan hat. Es ist etwas Gutes und Gesundes, sich von seinen Eltern abzunabeln und seine eigenen Ideen zu haben und zu fühlen, dass man dahinterstehen kann.

THM: Also sind Sie in Ihrem Alter noch immer wütend auf Ihre Mutter, dass sie Sie auf die katholische Schule geschickt hat?

JM: Ja. Ich werde wütend ins Grab sinken. Vor ein paar Wochen ging ich zurück in meine Grundschule. Dort ist jedes Jahr ein Sommerfest, und jeder sah so glücklich aus! Ich schau mir diese Leute an, manche in meinem Alter, manche Kinder, und die sehen alle so glücklich aus, und ich denk mir: „Warum bin ich so komplett abgefuckt?" Ich war stinksauer! Ich meine, ich hab wirklich an das ganze Christuszeug geglaubt. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Stunden ich damit verbracht habe, in meinem Kopf mit Jesus zu reden, mir in dieser Kirche die Eingeweide rauszubeten. An einem Punkt überlegte ich mir sogar, Priester zu werden. Und dann das ganze Sexding, das hat mich komplett abgefuckt. Du darfst keinen Sex haben, bis du heiratest, und wer zum Teufel will mit achtzehn oder so heiraten, was sollst du also tun? Und dann sagen sie dir, Masturbation ist falsch, und das war in der High School! Manche Leute könnten sich wirklich umgebracht haben, als sie das hörten, wenn man einem leicht beeinflussbaren Menschen erzählt, Masturbation ist falsch, könnte man ihm gleich sagen, Atmen ist falsch. Zum Glück war ich kein totaler Psychatriefall, aber mir war klar, dass sich andere wegen dieser Art von Trauma umbringen könnten.

THM: Glauben Sie, dass Gott überhaupt existiert?

JM: Keine Ahnung. Wie kann das irgendwer wissen? Ich werd sauer auf Leute, die rumlaufen und tun, als wüssten sie's. Es macht mich wahnsinnig. Ich möchte hören, dass sie mir's erklären, aber das können sie nie. Sie sagen nur Sachen wie: „Na ja, entweder Sie haben den Glauben oder nicht", und die Antwort befriedigt mich nie. Ich möchte sie nur schütteln und sagen: „Na, wieso haben Sie ihn dann?"

THM: Es macht Sie also wütend, wenn Sie glückliche Menschen sehen?

JM: Es macht mich wütend, dass ich nicht glücklich bin. Das gibt mir das Gefühl, irgendwie betrogen worden zu sein. Ich versteh nicht, warum jeder andere glücklich ist und ich nicht. Warum fühl ich mich, als wäre ich total im Elend?

THM: Waren Sie ein glücklicher Mensch, bevor Sex ins Spiel kam?

JM: Ja. Ich hab das Gefühl, als Kind war ich glücklich, bis 9 oder 10, aber dann hab ich sexuelle Bedürfnisse gespürt und musste damit umgehen und alles hat sich völlig verändert. Da fängt das Erwachsensein an, da wird man erwachsen. Wenn man erst sexuelle Bedürfnisse hat, muss man wissen, wie man an eine Frau kommt, um sie zu befriedigen, wenn man wirklich mit jemandem Sex haben und nicht dafür bezahlen will, muss man diese Fähigkeiten entwickeln, und das war mir immer unmöglich. Sogar jetzt kann ich's immer noch nicht glauben, dass ich nicht immer noch Jungfrau bin. Ich weiß nicht, wie ich's angestellt habe. Es ist vier Jahre her, seit ich Sex gehabt habe, und ich weiß nicht, wann das nächste Mal kommt. Es fühlt sich an, als käme das nie wieder, aber ich bin überrascht, dass ich das Glück hatte, einige Erfahrungen zu machen. Dieses ganze Gebiet sozialer Fähigkeiten, da gibt's nie was. DAS sollten sie einem in der Schule beibringen, statt höherer Mathematik.

THM: Also ist das Vergnügen, das Ihnen Pornografie verschafft, rein körperlich und kurzfristig und gibt Ihnen kein wahres Glück?

JM: Genau. Pornografie ist genau wie Alkohol: Ein Mittel, um Intelligenz und Emotionen zu betäuben. Das gleiche erreicht man mit Drogen, Antidepressiva, Überfressen oder Fernsehen. Zu viel von irgendwas, wissen Sie? Ich sehe das nicht als etwas Gesundes. Es ist für mich nur ein Weg, mein eigenes Elend zu vermehren.

THM (zu Sharon): Macht es Ihnen was aus, wenn ich Sie was frage?

Sharon (S): Nein, überhaupt nicht.

THM: Wie passt der Joe Matt, der in Joes Strips auftaucht, zu der echten Person, die Sie kennen? Und als Sie zum ersten Mal sein Zeug gelesen haben, nachdem Sie ihn eine Weile kannten, gab es da eine Art Widerstand oder komische Gefühle, die Sie überwinden mussten?

S: Na ja, ich begegnete Joe Matt, als ich etwa 17 war, und er war ein alter Mann, sogar damals ...

JM: Ich hab sie nie angefasst! Nie angefasst.

S: Es ist nie was passiert. Er hatte irgendwie Angst davor, mir seinen Comic zu zeigen, weil er dachte, ich würde meinen, dass er gruselig ist, und ich dachte eh schon, dass er gruselig ist, also war alles gut. Und er ist eine Art nervöser, sprunghafter Kerl, aber viel lustiger und nicht so pervers.

JM: NOCH lustiger.

S: NOCH lustiger, viiiiel lustiger. Und seine ganze perverse Seite kommt überhaupt nicht wirklich raus, wenn wir reden. Eigentlich schon manchmal, das ganze Woody-Allen-Neid-Ding ...

THM: Puuuh! Warum sollten Sie Woody Allen beneiden?

JM (zu Sharon): Was für ein Neid-Ding?

S: Das ganze Jungmädchending.

JM: Du glaubst, ich beneide Woody Allen?

S: Du beneidest ihn dafür, dass er eine junge Asiatin hat.

JM: Ja und? Soon-Yi ist kein Grund, nach Hause zu schreiben.

THM: Im Ernst, Soon-Yi ist nicht scharf.

S: Wie auch immer, Joe ist irgendwie wie seine Figur, und manchmal les ich seine Bücher und denk mir: „Igitt, ekelhaft", und das Pinkeln ins Waschbecken. Wenn er aus meinem Bad kommt, frag ich ihn immer, ob er in mein Waschbecken gepinkelt hat, aber sonst ... ist er anders. Er ist irgendwie netter. Und er ist nicht ganz so weinerlich, wie er heute in diesem Interview klingt.

THM: Oh. Okay.

S: Er ist eigentlich irgendwie glücklich. Er ist ein bisschen glücklicher, als er die Leute glauben machen will.

JM: Es sieht vielleicht so aus, aber innerlich weine ich.

THM: Ich krieg also gerade Joe Matt an einem schlechten Tag?

S: Es liegt daran, dass Sie Joe Matt Sachen fragen, die ihn echt weinerlich klingen lassen.

Joe: Nein, so bin ich jeden Tag.

S: Dir geht's aber nicht so schlecht. Normalerweise bist du ziemlich glücklich.

JM: Ich hab das Gefühl, ich projiziere eine glückliche Rolle. Ich MUSS lachen, schrecklich viel. Ich muss mich kaputtlachen, bloß um durch den Tag zu kommen. Also spiel ich in gewissem Maß eine glückliche Rolle. Trotzdem bin ich die meiste Zeit allein in meinem Zimmer. Ich verbringe eine Menge einsamer leerer Stunden in meinem Zimmer, und keiner weiß, wie das genau ist.

THM: Würden Sie sich einen glücklichen Menschen nennen?

JM: Manchmal. (Lacht.) Selten. (Lacht heftiger.) SEHR selten. Ich erinnere mich, früher glücklicher gewesen zu sein. Ich erinnere mich, verliebt gewesen zu sein. Ich erinnere mich lebhaft daran, mit der Liebe meines Lebens in den Armen einzuschlafen, aufzuwachen und sie am Morgen zu küssen ... Nicht, dass ich mich nach Trish im Speziellen sehne, aber ich sehne mich nach dem netteren, besseren Menschen, der ich damals war. Jetzt bin ich irgendwie, ich wollte sagen: Abgestumpft, aber ich weiß nicht, ich weiß nur, dass es früher besser war, und das kann ich nicht bestreiten. Ich lebe nicht in der Vergangenheit, aber ich weiß, dass ich mal viel glücklicher war. Und ich weiß auch, dass es falsch ist zu denken, eine Freundin WIRD mich in der Zukunft glücklich machen, weil ich das schon mit der letzten Freundin erlebt habe, die ich eigentlich auf der anderen Seite dieses Restaurants getroffen habe. Zum ersten Mal traf ich sie genau hier, vor fünf Jahren.

THM: Wow.

JM: Ahhhh, das sind olle Kamellen für mich. Ich weiß nicht, wie man das Glück findet, echt nicht. Und du?

S: Hm, keine Ahnung. Meinst du, du vermisst den täglichen Kontakt mit anderen Leuten?

JM: Ich MAG die meisten Leute gar nicht. Ich WILL keinen Kontakt mit einem Haufen Fremder.

S: Aber woher weißt du, dass du sie nicht magst, wenn du sie nicht triffst?

JM: Wo soll ich sie denn treffen?

S: Ich weiß, die Diskussion haben wir ständig.

JM: Ich kenne schon genug Leute. Ich habe Freunde, ich habe wirklich gute Freunde, Chester und Seth sind die besten Freunde auf der Welt ... Ich will nur ein Mädel zum Nageln.

S: Das ist Joes Traum, ein junges beeinflussbares Mädchen, das er formen kann in ein ...

JM: Nein! Ich will niemanden formen! Ich such niemanden zum Formen!

S: Du willst einen Protegé.

JM: Ich such eine einfache Beziehung.

S: Du willst einen Protegé.

JM: Nein! Wenn du Protegé sagst, meinst du ein junges Mädel.

S: Du willst ein junges Mädel, mit dem du ... künstlerisch sein kannst.

JM: Künstlerisch? Sicher kann sie künstlerisch sein.

S: Okay, das ist die Fantasie: Joe Matt hat ein Mädel, das ... künstlerisch ist. Und sie arbeitet in einem Zimmer und er im anderen. Und ab und zu kommen sie zusammen, zeigen sich ihre Werke und haben Sex.

JM: Ja. Jaaa.

S: Ja, das ist es.

JM: Das ist meine John-und-Yoko-Fantasie’, wo ich sie als gleichgesinnt sehe. Es ist das Gemeinsame-Werte-Ding’, wissen Sie? Und dann würd's mir nichts ausmachen, wenn das Mädel jeden Tag zur Arbeit ginge, von 9 bis 5 oder so, und ... eigentlich weiß ich nicht, ob ich widerstehen könnte, ich könnte mir den ganzen Tag Pornovideos reinziehen. Es gibt keine Antwort, alles ist hoffnungslos.

THM: Sie schraffieren kaum in ihrem Werk und Ihre Figuren sind immer mit knackigen klaren Linien gezeichnet, sogar wenn es Richtung Karikatur geht. Das Nebeneinander von einem warmen, freundlichen Cartoonstil, den man normalerweise mit Kinderstrips wie Schulz' „Peanuts“ assoziiert, und dem eigentlichen Inhalt der Strips, der immer erwachsen und oft vulgär ist, scheint ein großer Teil des Hakens zu sein, an dem das Interesse des Lesers hängt, und ist einer der Gründe, warum die Strips so lustig sind. Beschreiben Sie, wie sie ihren einzigartigen und persönlichen Stil entdeckt, definiert und verfeinert haben.

JM: Ich bin nicht wirklich glücklich mit meinem Stil. Ich habe Schraffuren für die Hintergründe in den Nummern 11, 12 und 13 benutzt. Ich habe gedacht, Schraffuren passen zu den Hintergründen, aber nicht zu den Figuren. Wenn Sie sich „Dick Tracy“ oder „Little Orphan Annie“ ansehen, ist es immer nett, etwas Schwarz oben hinter den Sprechblasen in den Ecken der Panels zu haben und dann tiefer zu gehen und etwas nette Abstufung zu haben, die zu den Figuren überleitet. Also ja, ich benutze jetzt etwas Schraffur in den Hintergründen.

THM: Aber mir scheint, früher waren Comics, in denen es offen um Sex ging, generell schlampig gezeichnet wie, weiß nicht, S. Clay Wilson, und eine große Stärke Ihrer Arbeit scheint der Kontrast zwischen Inhalt und Stil zu sein. Woher hatten sie also die Idee?

JM: Es ist nicht so sehr eine Idee als ein Instinkt. Jeder zeichnet auf eine sehr einzigartige Weise. Wally Wood zeichnete auf seine Art, und Basil Wolverton zeichnete auf seine Art. Man macht es so, wie man kann. Viele Dinge sind Überbleibsel von alten Lieben und Einflüssen. Ich hasse es, dass ich, wenn ich ein Ohr zeichne, anfange, zuviel am Innenohr rumzuzeichnen; ich weiß, es liegt daran, dass ich zu viele Sachen von Bernie Wrightson kopiert habe, als ich an der High School war, und dieser Einfluss ist immer noch in meinem Werk. Seth hat mit mir geschimpft, weil ich überall diese kleinen Dreckspritzer anbringe, z.B. auf einer Tischplatte oder so, und das hab ich mir angewöhnt, weil Crumb überall eine Menge Tupfen hinmacht. Ich weiß nicht, aber ich sehe definitiv den Wert eines saubereren Stils, jetzt wo ich älter werde. Sowas wie Peter Bagge’s Schraffuren in all diesen Gesichtern schaut für mich richtig schlammig und schmutzig aus, als ob es die Zeichnung verschmutzt (für die Akten: Ich bin ein großer Fan von Peter Bagge’s Comics. Seine Hompage ist peterbagge.com – THM). Crumb ist immer noch das große Vorbild, und wenn ich mir ansehe, wie er auf Figuren schraffiert, dann macht er es, um eine Lichtquelle zu definieren, und es ist sehr kontrolliert und schön. Noch einmal, ich hab das Gefühl, ich kann nicht halb so gut zeichnen wie Crumb. Jemand wie Spiegelman, er kann weniger gut zeichnen als Crumb, aber er weiß es und nutzt es zu seinem Vorteil ... er vereinfacht, und dann vereinfacht er noch mehr. Die ersten Entwürfe für „Maus“ hätte er drucken können, wie sie waren, sie waren sehr lesbar, aber dann nahm er es eine Stufe weiter und räumte es auf und machte es noch knackiger und einfacher. Es geht vor allem um die Klarheit, Klarheit ist das Wichtigste. S. Clay Wilson hatte KEINE Klarheit. Es ist nicht leicht für die Augen, das Zeug anzusehen. Und dann wieder Schulz, Schulz war immer der Meister der Klarheit. (Achselzucken.) Einem gefällt, was immer einem gefällt, und man fängt dort an.

THM: Also gefallen Ihnen Bagge’s Schraffuren nicht so wie Crumb’s, weil Sie Ihnen nicht helfen, die Präzision zu vergrößern und nur um ihrer selbst Willen dazusein scheinen oder so?

JM: Genau. Wenn er ein Gesicht schraffiert, macht er es eigentlich flacher und bei Crumb’s Schraffuren geht's eher darum, Volumen hinzuzufügen. Und ich glaube, Bagge wäre nicht mal beleidigt, dass ich das sage; sehr wenige können so gut zeichnen wie Crumb. Und Peter Bagge hat eine ganze Ebene des Grotesken, die unter der Kunst liegt, also ist es umso schwerer, auf diesem Grotesken Realismus zu simulieren. Ich schau mir das Artwork in „The Poor Bastard“ an und für mich sieht es schrecklich aus, es sieht aus wie eingesaut. Es ist immer wie: „Warum mach ich überall diese kleinen Striche hin?" Ich kann meine großen Fehler sehen, ich kann sehen, wo ich mich vertan habe bei diesem frühen Artwork. Man muss eine Entscheidung treffen, wenn man z.B. ein Gesicht in Großaufnahme zeichnet. Zeichne ich einzelne Zähne? Mach ich die obere Zahnreihe bloß als einen großen weißen Block? Warum nicht die untere Zahnreihe zeigen? Bei so was bleib ich hängen. Z.B.: Warum zeichne ich keine einzelnen Zähne? Weil das doofer aussieht oder ... warum? Ich brauche die Antwort darauf. Und das ist auch lähmend und ist oft verantwortlich für meinen Mangel an Produktivität. (Lacht.) Nein, das ist bloß 'ne Ausrede.

THM: Was für Pinsel und Federn verwenden Sie?

JM: Meistens nehme ich einen sehr dünnen Marderhaarpinsel, einen sehr billigen Pinsel, Null, Doppelnull oder Dreifachnull, und den nehme ich für das ganze Artwork, außer zum Lettern. Dafür nehme ich einen Rapidografen. Ich habe keine Übung mit der Feder, aber ich würde gern mal eine Feder verwenden. Ich zeichne die Figuren mit Blaustift, der auf dem Repro nicht erscheint, und inke sie mit einem Pinsel.

THM: Sie machen das ganze Inking mit dem Pinsel?

JM: Ja. Manchmal ist das richtig kontraproduktiv, denn manche Sachen, wie eine Schraffur auf einer Wand, sollte man mit einer Feder machen. Das ist das richtige Werkzeug für den Job, aber ich kann eine Feder nicht so kontrollieren wie einen Pinsel.

THM: Haben die meisten Leute nicht größere Schwierigkeiten mit Pinseln als mit Federn?

JM: Haben sie, ich weiß. Ein Pinsel ist schwer zu kontrollieren, aber wenn man's einmal draufhat, scheint er einem die ultimative Kontrolle zu geben, deshalb kann ich jetzt nicht vom Pinsel auf die Feder umsteigen. Mein Problem ist, dass ich immer zu nahe am Artwork arbeite. Ich sehe den Strich aus dem Pinsel kommen und ich sehe die linke und die rechte Seite, ich sehe die beiden Seiten des schwarzen Strichs und ich wollte immer dass beide Seiten wirklich scharf sind, und wenn es da irgendeine Trockenheit oder eine ausgezackte Kante gibt, schreite ich ein und fange an, es mit Deckweiß auszugleichen. Ich bin wirklich anal beim Artwork und es dauert ewig. Daher zaudere ich viel, bloß um die alptraumhafte Unannehmlichkeit des Inking-Stadiums zu vermeiden.

THM: Welches Stadium bei der Fertigstellung einer Comicseite ist für Sie am befriedigendsten, erfüllendsten und lustigsten?

JM: Das Schreiben und Zeichnen ist für mich das gleiche. Am aufregendsten ist die Entscheidung, was aufs Panel kommt. Es ist irgendwie wie Schach. Das Gefühl, dass man den bestmöglichen Zug gemacht hat. Das Gefühl, das Richtige getan zu haben, auf der richtigen Spur zu sein. Es kann so was Einfaches sein wie die Entscheidung einen Satz auf zwei Panels aufzuteilen statt ihn in eine Blase zu stopfen oder zu wissen, wann man ein stummes Panel zur vollen Geltung bringt. Es geht darum, die richtige Entscheidung zu treffen und überzeugt zu sein, dass sie richtig ist. Das ist der befriedigendste Teil. Das Inken kommt für mich erst nach begangener Tat.

THM: Schreiben Sie die Story zuerst auf und zeichnen sie dann, oder schreiben Sie sie, während Sie sie zeichnen?

JM: Ich schreibe sie, während ich sie zeichne. Das Wort „zeichnen" ist irreführend, denn ich skizziere mit sehr lockeren Strichen, wo die Figur ist, und deute an, ob sie lächelt oder schreit, aber es gibt keine Details in meinem Pencilling. Ich schreibe die Story nicht auf, aber ich habe eine Liste der Informationen, die ich transportieren will, und ich versuche, die Informationen, die ich transportieren will, natürlich, naturalistisch zu transportieren, so dass es sich nicht gezwungen anfühlt. Nur ein Beispiel: Ein paar Figuren sitzen an einem Tisch. Es ist auffällig wie ein weher Daumen, wenn plötzlich jeder jeden beim Namen nennt, nur um festzulegen, wer sie sind. Oder am Beginn eines Films werden einem die Figuren vorgestellt ... wie schnell transportieren sie die Information, wer diese Figuren sind? Und wenn man's zu schnell macht und es einem in den Hals stopft, wissen Sie... Jack Kirby ist das schlimmste Beispiel. Kirby’s Figuren sagen, da ist ein Cowboy und er sagt: „Ich kann nicht glauben, dass ich hier in der Stadt bin, ich, Jonathan Brackman aus Minnesota, der zwanzig Ölfelder besitzt und dem letztes Jahr die Frau an Krebs gestorben ist, und jetzt bin ich in eine intergalaktische Katastrophe verwickelt!" Wissen Sie? Er sagt einem alles über sich im allerersten Satz, der aus seinem Mund kommt.

THM: Wissen Sie noch, der „New Gods“ Comic, wo sich alle vorstellen und es geht: „Ich bin der alte, aber reiche Industrielle John Smith", und: „Ich bin der dämliche, aber virile Harvey Black", oder wie auch immer...

JM: (Lacht.) Ich hab grad einen „Captain America“-Comic von Kirby gelesen, wo Red Skull in seine Kammer kommt und da sind alle seine Stabschefs und stellen sich vor, und als sie fertig sind meint Red Skull: „In Ordnung, ich mag's nicht mehr hören, das ist genug über euch."

THM: „Versucht, euch auf mich zu konzentrieren, Jungs; ich bin der Typ mit dem roten Schädel!"

JM: Ja, es ist so bescheuert. Aber so ist es. Wenn ich Information transportieren will, könnte es irgendwas sein. In meinem nächsten Heft, Nummer 13, sind wir alle im Restaurant und bestellen Mittagessen und Seth sagt: "Du hast einen HAUFEN Geld", und dann red ich drüber, wie mein Geld investiert ist und dass es sich vermehren muss, und mir hilft das, etwas zu zeigen, was ich will. Es sieht aus, als würden wir nur Witze reißen und reden, aber es zeigt etwas, was ich bekannt machen will, und damit rechtfertige ich alles, was vorkommt.

THM: Es gibt eine Menge formaler Experimente in Ihrer Arbeit, im Sinne von Variationen im Seitenlayout und so. Jede Seite von „The Poor Bastard“ folgt einem Schema von sechs Panels pro Seite (2 quer, 3 runter) und diese Regelmäßigkeit gibt dem Heft einen Rhythmus, der ein Werkzeug wird, was das Tempo der Story betrifft. Denselben Effekt bemerkte ich bei Alan Moore in „From Hell“, wo ihn das regelmäßige 9-Panel-Gitter auf jeder Seite befreite, anstatt eine Einschränkung zu sein, und ihm alle möglichen Arten neuer und seltsamer erzählerischer Tricks ermöglichte. Am anderen Ende des Spektrums steht jemand wie Dave Sim, dessen ständige Experimente mit der Seitenaufteilung für ihn einen essentiellen Teil der Erzählweise darstellen. Würden Sie jemals mit unkonventionelleren Seitenkompositionen herummurksen wollen oder sehen Sie innovative Layouts als irrelevante Ablenkung von dem, was der Künstler zu sagen versucht?

JM: Nein, mich interessiert es nicht, mit dem Seitenlayout herumzumurksen. Ich halte das für eine Ablenkung. Es zieht die Aufmerksamkeit aufs Medium, als ob man den Leser daran erinnert, dass das ein Comic ist, den jemand gezeichnet hat, der clever genug ist, mit dem Layout herumzumurksen. Für mich wäre das, als ob man im Kino ist und einen Film sieht, und plötzlich beschließt der Regisseur aus irgendeinem Grund, nur die rechte Hälfte der Leinwand zu benutzen, sagen wir mal, damit sich seine Figur isolierter anfühlt oder so ... Für mich wäre das ein schrecklicher Schock. Es wäre wie: Hey, was ist mit dem Projektor los? Warum bleibt die linke Seite der Leinwand leer? Für mich ist das protzig, das Panel-Layout zu sehr zu manipulieren. Es Neal Adams gleichzutun ist eine schlechte Entscheidung. Ich meine, sieh mal, was Schulz so viele Jahre mit denselben vier Panels gemacht hat. Es ist wie Haiku oder so. Ich sollte aber darauf hinweisen, dass ich Herrimans „Krazy Kat“-Layouts LIEBE. Es funktioniert bei diesen Sonntagsseiten, das ganze Experimentieren, weil sie in sich geschlossene, schöne Seiten sind, fast wie Gemälde, und als Ganzes gesehen werden sollen. Warte eine Sekunde, ich hab grad an Joe Saccos Werk gedacht ... er variiert das Layout auf jeder Seite und ich liebe sein Werk absolut. „Palestine" und „Safe Area Gorazde", beides großartige Bücher. Ich glaub also, es ist keine harte und feste Regel bei mir, aber für mich persönlich würde ich es lieber aus meiner Arbeit draußen halten.

THM: Die Stories, die in „The Poor Bastard“ gesammelt sind, halten als Kapitel einer längeren Geschichte sehr gut zusammen, obwohl Sie daran arbeiteten, bevor die Ereignisse, die am Ende gezeigt werden, stattgefunden haben. Wieso fühlt sich das Tempo im Buch so stark an, obwohl Sie nicht wussten, wohin das alles führen sollte?

JM: Ich weiß es nicht, und ich arbeite immer noch so. Ich weiß nicht, worauf die Story, an der ich gerade arbeite, hinaus läuft, aber ich versuche, jedes Heft kohärent zu halten und hab immer ein Auge auf das große Ganze.

THM: Nach „The Poor Bastard“ haben Sie umgeschaltet und sind in der Zeit zurückgegangen, um eine autobiographische Story zu machen, die in Ihrer Kindheit spielt. Warum?

JM: Ich wusste nicht mehr ein und aus, worüber ich sonst schreiben sollte. Nachdem Trish und ich uns getrennt hatten, wollte ich wirklich nicht, ich weiß nicht, wie heißt das Wort? (Lachen.) Ich hatte das Gefühl, weiter Comics produzieren zu müssen, sogar in meinem langsamen Tempo. Ich musste an etwas arbeiten. Jetzt, im Rückblick, kann ich sehen, dass ich übermäßig von Chester Browns „I Never Liked You" beeinflusst war. Ich war sehr beeindruckt von seinem Gebrauch stummer Panels überall, die Kinder, die mit dem Rad herumfahren und so, also imitierte ich das in einem gewissen Grad. Ich versuchte seine nette Kindheitsgeschichte zu konstruieren, mit der ich letzten Endes nicht glücklich bin. Ich mag das Ende nicht, aber zu der Zeit war es etwas zu tun. In Wirklichkeit ließ ich Erfahrungen im wirklichen Leben zusammenkommen, bis ich wieder darüber schreiben konnte, Dinge, die ich nach „The Poor Bastard" fortsetzen konnte. Ich hab jetzt irgendwie die letzten zehn Jahre meines Lebens, auf die ich zurückblicken und mir daraus nehmen kann, was ich will. Das mach ich jetzt, den ganzen Fokus auf Pornografie in der Story, die ich jetzt mache.

THM: In deinem ersten Buch beschuldigt Sie Ihre Freundin, dass Sie nicht mal versuchen, mit Ihren Fehlern fertig zu werden, aus Angst, dass Ihnen, wenn Sie glücklich und angepasst wären, der Stoff zum Schreiben ausginge. Ob das jetzt wahr ist oder nicht, ich frage mich, was dabei herauskommt, wenn sich ein Künstler so eng mit seiner Kunst verbindet. Die Ereignisse in Ihrem Leben sind offensichtlich der Haupteinfluss auf Inhalt und Form Ihrer Kunst, aber wie sehr, denken Sie, ist Ihre Kunst aus den Panels geflossen und hat Inhalt und Form Ihres realen Lebens verändert? Inwiefern gibt es eine Reaktion auf Ihre Darstellung Ihres Lebens in Ihrer Kunst, was lernten Sie daraus, dass Sie es getan haben, braucht es in den langen Perioden der Einsamkeit Druck auf den Charakter und den Gang des Lebens, das Sie führen?

JM: In mancher Weise hab ich das Gefühl, Kunst und Wirklichkeit haben sich völlig verdreht. Sogar in diesem Interview gebe ich die üblichen Antworten eines bekennenden Pornosüchtigen, zwanghaften Masturbierers, eines Kerls, der einer verlorenen Liebe nachweint, dem es dreckig geht, und es fühlt sich an wie eine Haltung, die ich eingenommen habe, als ob es einfacher wäre, von diesem Standpunkt aus zu antworten. Ich dachte eben an eine frühere Antwort, die ich Ihnen gab, als ich jammerte, dass die Vergangenheit besser gewesen sei, und wie gern ich eine Freundin hätte und verliebt wäre, und doch dachte ich, dass es tief im Innersten nicht vollständig wahr klingt, weil ich weiß, wenn ich wirklich so dringend eine Freundin bräuchte, wie ich behaupte, aktiv eine suchen würde. Und das tu ich nicht. Ich weiß nicht, das wirkliche Leben ist sehr kompliziert. Es gibt nie ein Schwarzweiß und die Dinge sind nie einfach. Es ist wirklich schwer, es zu wissen, sich seiner selbst wirklich bewusst zu sein, und wenn ich mir meiner selbst bewusst wäre, wenn ich wüsste, dass ich neurotisch bin, wäre ich nicht neurotisch. Noch einmal, wenn ich beschließe, mich neurotisch zu nennen, beschließe ich, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Ich nenne mich neurotisch, also bin ich es. Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, oder es ist einfach mein Selbstbild.

THM: Sie meinen, jemand wird, was er zu sein glaubt, bis die Coverstory die wahre Geschichte wird?

JM: Man wird es oder bleibt es. Es ist wie, ich weiß nicht, wenn ich nicht dieses ganze Pornoproblem hätte, über das ich gerade schreibe, weiß ich nicht, was ich schreiben würde. Es wäre IRGENDwas anderes, und man kann drauf wetten, dass es eine andere Quelle der Spannung oder des Haders wäre, warum sollte ich sonst drüber schreiben wollen? Ich hab keinen Drang, den Spaß oder die glücklichen Augenblicke meines Lebens zu zeigen, weil ich das Gefühl habe, dass eine weniger interessante Lektüre dabei herauskäme, und daher neige ich zur Selbstbeschimpfung und all dem, aber es ist nicht die Realität. Tief in mir weiß ich, was Wirklichkeit ist und was Comic. Wenn ich jetzt mit Leuten rede, projiziere ich gerne, möchte ich diesen Mythos verewigen, dass Comic und Leben dasselbe sind, aber ich bin der Einzige, der tief im Innersten weiß, dass sie nicht dasselbe sind.

THM: Sie geben also aus Bequemlichkeit vor, so zu sein, wie sie allgemein wahrgenommen werden?

JM: Ich gebe gar nichts vor. Aber Seth würde sagen, dass der Comic mehr ich ist, als ich ich bin. Seth würde sagen, wenn überhaupt, dann bin ich im echten Leben schlimmer als im Comic, oder etwas Ähnliches. Es ist schwer zu ... Ich weiß nicht mal, was ich zu sagen versuche, aber ich kenne die Unterschiede zwischen den beiden, aber es ist einfach leichter, irgendwie damit weiterzumachen, glaub ich.

THM: Offensichtlich untersuchen Sie die Einzelheiten Ihres Lebens viel gründlicher als der Durchschnittsmensch – inwiefern, glauben Sie, hat Ihnen diese Erfahrung geholfen, etwas über sich zu lernen, was sie sonst nicht gelernt hätten?

JM: Na ja, erstens weiß ich nicht, wiesehr der „Durchschnittsmensch" sein oder ihr Leben untersucht oder über Dinge nachdenkt. Ich mach's, wie ich's am besten kann. Über etwas nachzudenken ist der leichte Teil, herumliegen und nachdenken ist leicht. Etwas tun, wirklich etwas an sich selbst und seinem Wesen zu ändern, das ist die wirkliche Herausforderung. Es braucht so viel Willenskraft oder so, um sich zu bessern, wenn es das ist, was man will.

THM: Würden Sie Ihren künstlerischen Weg als etwas betrachten, das Ihnen geholfen hat zu wachsen und zu reifen, oder als etwas, das Ihr Wachstum auf einem unreifen Niveau gebremst und verzögert hat.

JM: (Lacht.) Na ja, beides. Es half mir, künstlerisch zu wachsen. Das beste Gefühl hab ich bei meinen jüngsten Arbeiten, aber als realer Person hat es mir wahrscheinlich geholfen, einen Käfig um mich zu bauen. Meine Selbstwahrnehmung wurde sicherlich geschwächt. Ich habe weniger Selbstachtung als je zuvor. Ich war unlängst auf dieser Comic Convention und entschuldigte mich ständig bei jedem, der auf mich zukam, dass ich mein neues Heft noch nicht fertig habe, weil es schon gut ein Jahr her ist, und Seth meinte: „Das ist die falsche Einstellung! Sei arrogant! Du bist der Künstler! Es braucht, solange es braucht! Du schuldest diesen Leuten keine Entschuldigung!" Aber ich fühle mich nicht so, ich habe das Gefühl, ich schulde WIRKLICH jedem eine Entschuldigung. Und er meint: „Sogar dann musst du handeln wie ein Mann! Sei ein Mann!" (Lacht.) Irgendwie hab ich jetzt im wirklichen Leben das Gefühl – soweit es Mädels und Beziehungen betrifft, nehme ich mich irgendwie als alt wahr, meine besten Jahre sind vorbei und jetzt muss ich den Rest meines Lebens im Ruhestand verbringen. Ich bin aus dem Garten Eden geflogen. So sehe ich mich. Ich sehe die jungen Mädels rundum, aber ich bin jetzt draußen und schau hinein. Es ist ... beschissen. (Lacht.) Trotzdem ist das nur meine Wahrnehmung. Ich weiß es, aber ich kann nichts dagegen tun. Mir fällt nichts ein, was für dieses Selbstbild verantwortlich ist.

THM: Wenn Sie die Dinge abwägen müssten, würden Sie's einen fairen Handel nennen? Die Zunahme der zeichnerischen Fähigkeiten auf der einen Seite und auf der anderen Seite ...

JM: Ja! Natürlich ist es ein fairer Handel. Ich lebe für die Arbeit, die Arbeit ist das wichtigste in meinem Leben.

THM: Und so wollen Sie's haben?

JM: So will ich's haben. Auch wenn man's nicht merkt, weil ich nicht hart genug arbeite. Aber ich bin sehr glücklich. Ich könnte mit den letzten Nummern 11 – 13 nicht glücklicher sein. Und ich hoffe, wenn der Sammelband draußen ist, wird er dem, was ich wollte, ziemlich nahe kommen. Ich mach's, so gut ich kann. Ich mache niemals Kompromisse, wenn ich einen Comic mache. Ich brauch so lange, wie alles dauert. Und wenn nur ein Strich nicht am richtigen Platz ist, zögere ich nicht, ich kann nicht schlafen gehen, ohne es repariert zu haben. Wenn ein Wort fett gelettert gehört, zögere ich nicht, es auszuweißen und über das Lettering nachzudenken. Ich bin also nicht faul in dem Sinn, nur langsam.

THM: Sie sind seit Jahrzehnten besessen von Pornografie, schon seit sie in die Pubertät kamen. Erstens: Ist es niemals einfach langweilig geworden? Und zweitens: Wie, meinen Sie, hat sich Ihre „Sexsucht" auf Ihre Art, wirkliche Frauen zu sehen und mit ihnen umzugehen, ausgewirkt?

JM: Es wird nicht langweilig. Ich vergleiche es mit Essen. Schließlich kriegt man recht bald wieder Hunger. Und die Dinge, die ich mag, die Mädels, die ich gerne ansehe, scheine ich endlos ansehen zu können, dieselben Szenen ... Ich krieg's nicht satt. Darum fühl ich mich immer wie ein Alkoholiker, der die magische Whiskyflasche entdeckt, die nie leer wird. (Lacht.) Das Zeug, das ich mag, funktioniert für mich immer wieder, so wie man ein- oder zweimal die Woche Pizza essen kann, ohne es sattzukriegen. Und wie es auf meine Art, mit Frauen umzugehen, ausgewirkt hat?

THM: Ja.

JM: Kann ich nicht sagen. Natürlich bringt es mich dazu, Frauenkörper mehr zu objektivieren und sie bloß als Objekte zu sehen, bloß als diese ... Dinger, aber ich habe nicht das Gefühl, dass das so falsch ist, na und? Und bis zu einem gewissen Grad ist dieses Verständnis ästhetisch. Es ist nicht total fleischlich, ich sehe sie nicht ausschließlich als diese derben, tierischen Dinger. Meistens bewundere ich Schönheit. Ich spreche nicht nur über Körper, es sind hauptsächlich Gesichter. Ich steh mehr auf Gesichter als auf andere Körperteile, also geht’s bei den Mädels, zu denen ich mich hingezogen fühle, immer zuerst um die Gesichter. Wie ich mit Frauen im wirklichen Leben umgehe? Ich glaub schon, dass Porno meine Selbstachtung unten hält, mein Selbstvertrauen niedrig hält, mich dazu bringt, mich wie ein Wurm zu fühlen. Eigentlich bringt's mich nicht dazu, mich wie ein Wurm zu fühlen, ich bring mich dazu, mich wie ein Wurm zu fühlen, wenn Frauen dabei sind. Wieder mal meine Selbstwahrnehmung ... aber ich hab mich nie anders gefühlt. Ich hatte nie das Gefühl, dieser Bursche zu sein, der mit Frauen konnte, also dann warum KEINE Pornos? Es ist die alte Huhn-und-Ei-Geschichte.

THM: An einem Punkt im „Tagebuch", als sie über das Elend sprachen, das Ihnen Ihr Gebrechen eingebracht hat, bezeichnen Sie sich als „zwanghaften Masturbierer". Wie auch immer, das Wort „zwanghaft" bezieht sich eigentlich auf etwas außerhalb Ihrer Kontrolle, etwas, wozu Sie gegen Ihren Willen gezwungen sind, und es gibt einige Momente in Ihren Comics, wo sie sich sträuben, Ihr Problem zu behandeln, eine Behandlung aufgeben oder die Fortsetzung des Problems, das Sie vorgeblich verabscheuen, rationalisieren. Deshalb scheint es, dass ihre Besessenheit von Pornografie kein Zwang ist, sondern eine ENTSCHEIDUNG, ob sie es zugeben möchten oder nicht. Wenn Sie willens sind, dieser Idee eine Minute nachzugehen, warum, meinen Sie, entscheiden Sie sich, so viel Zeit damit zu verbringen, Pornovideos zu sammeln, anzusehen und zu schneiden? Es ist fast ein Klischee, wenn man sagt, Porno ist eine Art, es allen Frauen heimzuzahlen, die man in der wirklichen Welt nicht erobern konnte, indem man sie in einer Fantasiewelt dominiert, aber meinen Sie, dass da irgendetwas dran ist?

Joe: Nein, Porno hat nichts damit zu tun, es Frauen heimzuzahlen. Wie ich sagte, es ist einfach ein Weg, Gefühle abzustumpfen. Es ist Vergnügen empfinden und nachher abgestumpft sein. Ich denke immer an den Stotterer in „Einer flog über das Kuckucksnest", den verrückten Jungen, und nachdem er Sex mit einer Prostituierten hatte, ist er entspannt und scheint komplett mit sich im Reinen und normal, und das ist ziemlich das, wie ich mich fühle. Ich bin wie ein Heroinsüchtiger, der sich grad einen Schuss gesetzt hat und einfach daliegt und diese Wonne genießt. Aber es dauert nicht lange. Ja, Sucht ist eine Entscheidung, und Sucht ist auch nur ein Wort, wissen Sie? Chester borgte mir ein Buch, „Addiction is a Choice" („Sucht ist eine Entscheidung“, Anm. d. Ü.) war, glaub ich, der Titel, passend genug. Wenn mir jemand 5 Millionen Dollar dafür böte, dass ich das nächste Jahr nicht masturbiere, würde ich's machen. Sie würden sehen, ich wäre nicht außer Kontrolle, ich würde das Jahr schaffen, ohne zu masturbieren. (Lacht.) Genug Anreiz und die Leute ändern sich. Es liegt in ihrer Macht, aber sie müssen sich ändern wollen. Eigentlich, vergessen Sie Veränderung, ich spreche von Verhalten. Menschen können ihr Verhalten kontrollieren. Jemand, der behauptet, „außer Kontrolle" zu sein, redet sich nur heraus. Es ist diese ganze Opfer-Kultur, in der wir leben. Jeden Abend ist irgendein Verrückter in den Nachrichten „einfach durchgedreht" und auf Mordtour gegangen. Es ist allzu einfach und bequem, diese Ausdrücke. Es lässt die Leute vom Haken.

THM: Im ganzen „Poor Bastard" kam ein Teil des Leserinteresses von dem Gefühl, Sie wären an einem Wendepunkt und vielleicht nahe dran, einen größeren positiven Wandel in Ihrem Leben herbeizuführen. Natürlich endet „The Poor Bastard" ergebnislos, und in Ihren seitherigen Comics scheinen Sie auch den bloßen Versuch aufgegeben zu haben, um etwas Besseres zu kämpfen, sind in einen bequemen Trott verfallen und häufen noch besessener die perfekte Pornosammlung an. Durch diesen Mangel an innerem Konflikt schien die letzte „Peepshow“-Nummer frustrierend und schwerer zugänglich als Ihr früheres Werk, als wäre der Blickwinkel so zwanghaft beschränkt, dass ein Leser Ihre Obsession teilen müsste, um es wirklich zu genießen. Meinen Sie, die Gefahr besteht, dass dieser Verlust an dynamischer Spannung in Ihrem wirklichen Leben einen Verlust an Spannung in Ihrer Kunst erzeugt?

JM: Na ja, ich träume immer noch von einem besseren Leben, ich träume von ... auf eine Million Arten träume ich von einem besseren Leben, ich würde mich umbringen, wenn ich mich nicht an diesem Traum festhalten könnte. Aber es ist viel komplizierter als einfach Porno aufzugeben, da steckt eine Menge mehr drin. Noch einmal, als Künstler bin ich mir nicht sicher, was ich ausdrücken würde, wenn ich nicht in diesem Zustand wäre. Ich weiß nicht, was ich ausdrücken müsste. Ich glaube, die Story, an der ich grade arbeite, tatsächlich WEISS ich, ich werde diesen ständigen Kampf um etwas Besseres haben, weil ich mich nicht mit diesem Schicksal abfinden kann. Wenn ich's täte, würde ich mich umbringen. Ich glaube, Seth hat mir mal gesagt: „Find dich einfach damit ab. Du hast es dir ausgesucht. Du hast dein Bett gemacht, also leg dich rein und Schnauze." Und (lacht) ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich seh's nicht so. Ich bin unfähig, es so zu sehen und weiterzuleben. Es ist vielleicht Selbstbetrug, aber ich muss an dieser Hoffnung festhalten.

THM: Charly Chaplins berühmter Grundsatz „Totale für Kömödie, Nahaufnahme für Tragödie" deutet an, dass die Situation, wenn der Zuseher näher rankommt, immer weniger lustig wird. Jedoch in Ihren Comics stimmt das Gegenteil: Je mehr Ihrer Fehler Sie aufzählen, je jämmerlicher Sie sich darstellen, desto mehr Detail und Vergrößerung geben Sie Ihren Szenen des Versagens und der Erniedrigung, desto mehr lachen wir. Warum? Was macht, meinen Sie, Ihre Comics so unglaublich lustig?

JM: (Lacht.) Ich finde sie nicht so lustig. Und worüber ich lache, ist nicht, worüber alle anderen lachen. Ich finde es nicht erheiternd, aber ich lache schon an manchen Stellen. Ich lache über die Sätze, die ich Chester und Seth in meiner neuen Nummer sagen lasse, Sachen die ich beide Millionen Male sagen hörte. Und ich lache bloß darüber, dass ich das Gefühl habe, ich hab etwas genau rübergebracht, und wenn es richtig verwendet wird, ist der Kontext richtig. Heft 13 besteht bloß aus einem langen Gespräch zwischen uns dreien, und Seth hat diesen Schatz an großartigen Sätzen. Seth ist der lustigste Mensch, den ich kenne. Meistens kann ich nicht die Hälfte von dem verwenden, was er sagt.

THM: Aber Ihre zwei Bücher waren wirklich lustig, und ich frag mich gerade, ob Sie immer ein Gespür dafür hatten?

JM: Was Sie lustig finden, ist, wie Sie sagten, die Jämmerlichkeit meines Lebens oder so, und ich finde das nicht so lustig. Wenn es am Ende für den Leser lustig ist, ist das fast Zufall.

THM: Also sollten die Comics nicht primär humorig sein, und all diese Lacher waren unbeabsichtigt?

JM: Kommt drauf an. Die Szene in „The Poor Bastard", wo das Eichhörnchen auf meinem Schoß sitzt, ich füttere ein Eichhörnchen im Park und es klettert auf meinen Schoß und ich kreische: „Runter da!" Das ist wirklich passiert und ich weiß, es kann lustig sein, weil meine Figur ein Teil von mir ist, aber der einzige Grund, dass ich so was da reintun würde, ist – es klingt prätentiös – aber für mich ist das symbolisch für eine Beziehung, die sich mir aufdrängt, ohne dass ich das will, oder so.

THM: Echt?

JM: (Lacht.) Ich weiß nicht, ob ich mir das nur ausdenke, aber ich weiß, ich rechtfertige alles auf eine irgendwie verrückte Art, mit irgendeiner inneren Logik ...

THM: Aber an dieser Stelle WOLLTEN sie eine Beziehung mit Mary (Dem Mädchen das mit ihm im Park war.), wieso also haben sie das Eichhörnchen weggestoßen?

JM: Da müsste ich jetzt ins Heft schauen, das ist mir gerade durch den Kopf gegangen. Vielleicht dachte ich damals, das Eichhörnchen ist ein Symbol für mich. Ich versuchte mich dem Mädel aufzudrängen, sie verstärkt mit Küssen zu bedrängen. Ich weiß nicht mehr. Ich müsste an etwas Frischeres zurückdenken, etwas, was ich sicher weiß. Aber mit dieser Mary, ich wollte eine Beziehung mit ihr und wieder nicht, weil sie süß war, aber sie war körperlich nicht mein Typ. Keine Ahnung. Ich denke eben an die Szene, wo ich Mary das kleine Spielzeug gebe, den kleinen Pterodaktylus (Es war Pterry, aus Peewee's Playhouse – THM.), und es ist kein Zufall, dass das ein Vogel ist, und später ist dieser verletzte Vogel in meinem Zimmer, den ich gefunden habe. Für mich gibt es etwas Befriedigendes an wiederkehrenden Motiven, die eine tiefere Bedeutung suggerieren, auch wenn's keine gibt.

THM: Dann könnte also etwas Symbolisches daran sein, dass der Vogel ausgestorben war? (Lacht.)

JM: Nein, für mich ist ein Vogel irgendwie – das ist was, was ich nicht gern ausspreche oder nicht genau artikulieren kann. Es wirkt alles irgendwie auf einer tieferen Ebene ... ist ein Vogel für mich das genaue Gegenteil von mir, der in dem kleinen Zimmer lebt. Dass der Vogel verletzt ist, bevor er in mein Zimmer kommt, ich beziehe mich auf die verletzte Qualität des Vogels, nach einer Beziehung. Das Zeug, ich hab das Gefühl, ich plappere, aber während ich es mache, ist das für mich alles, was ich als Leitfaden habe.

THM: Das ist aber ziemlich geistreich.

JM: Was?

THM: Na ja, wollen Sie damit sagen, Sie versuchten Ihre Beschreibung der natürlichen physischen Welt als Reflexion eine inneren Geisteszustands zu verwenden?

Joe: (Lacht.) Das KLINGT gut. Aber wie ich schon sagte, etwas Inneres muss einen leiten, wenn man von der Realität aussucht und auswählt, was man zu Papier bringt. Ich suche und wähle aus realen Ereignissen aus. Es gab einen echten Vogel, den ich einfach so in mein Zimmer brachte, den die Katzen im Hof angefallen hatten, all das ist passiert, aber es passieren jeden Tag eine Million andere Dinge, die nicht ins Heft kommen. Eine Million Gespräche, eine Million Sachen, eine Million Leute. So viele andere Leute, die nicht ins Heft kommen, andere Freunde und Bekannte und so. Ich muss irgendwie einen Zweck fühlen, damit mich die Instinkte leiten können.

THM: Wie sehr müssen Sie die Fakten übertreiben oder strecken, damit die Ereignisse Ihres Lebens eine strukturierte und unterhaltsame Story abgeben? Wie viel Unterschied besteht zwischen Ihnen und Ihrer Comic-Version?

JM: Ich versuche, Ereignisse akkurat zu darzustellen. Ich kombiniere Ereignisse ... Ich hab das Gefühl, ich fiktionalisiere, indem ich Bruchstücke von überall nehme, verschiedene Gespräche, und sie alle zusammensetze. Sie sind also nicht wirklich so passiert, wie ich sie bringe, aber in meinem Kopf könnte es so gewesen sein, also hab ich nicht das Gefühl, ich fiktionalisiere oder denke mir irgendwas aus.

THM: Es ist also mehr Journalismus als Fiktion?

JM: Irgendwie. Es ist selektiver Journalismus, glaub ich. Ich versuche, jede Übertreibung zu minimieren. Na ja, ich glaube, das stimmt nicht. Alles, was übertrieben ist, ist innen drin für mich nicht übertrieben. Wenn ich ein süßes Mädel sehe, na ja, das ist Vergangenheit, das passiert nicht mehr so oft, aber wenn ich in der Öffentlichkeit ein süßes Mädel sehe, hab ich im Comic riesige Schweißperlen und flipp einfach aus, aber das passiert eher innerlich als äußerlich. Also ist das irgendwie übertrieben, aber für mich ist es das nicht, es ist bloß meine Unfähigkeit, im wirklichen Leben so zu agieren, das ist das Problem. (Lacht.) Ich plappere.

THM: Warum dauert es so lange, bis Sie ein Heft fertig haben? Sieht fast so aus, als fürchteten Sie sich davor, etwas fertigzustellen.

JM: Genau davor fürchte ich mich. Ich fürchte mich davor, etwas fertigzustellen. Ich weiß nicht genau, warum. Wenn ich's wüsste, wäre ich's wahrscheinlich nicht. Ja, dieses spezielle Heft, ich weiß nicht warum, hab ich irgendwie unbeaufsichtigt herumliegen lassen und gehofft, es würde sich selbst inken oder so. Wenn irgendwie genug Zeit verginge, käme irgendwann der Tag, an dem es fertig wäre. Ich arbeite einfach hie und da daran und es dauert ewig. Das meiste von meiner Zeit geht für Pornografie drauf, wie ich in Heft 12 zeige, und ich bin wirklich faul. Ich verschwende eine Menge Zeit mit Trödeln – Lesen, Gitarre spielen, Fernsehen, Radfahren. Das sind meine Hauptaktivitäten. Telefonieren, ich telefoniere eine Menge ...

THM: Sie (oder zumindest Ihre Comic-Version) scheinen eine Hassliebesbeziehung zu Ihrem Körper zu haben. Einerseits bereitet es Ihnen Vergnügen zu masturbieren, Grind und Rotz zu essen etc., andererseits bereiten Ihnen seine Schwächen und Grenzen eine Menge Zores. Er hat seine zappeligen, verschwitzten und ungelegenen Momente und Ihre starken körperlichen Bedürfnisse (Porno) waren möglicherweise die stärkste gestaltende Kraft Ihres Lebensschicksals – im Crumb-Film sagt seine Frau, er wäre lieber ein Kopf, der in einem Krug schwimmt, als ein Verstand, der in einem Körper gefangen ist. Fühlen Sie auch so?

JM: Anders als Crumb wäre ich nicht glücklich, wenn ich ein Gehirn in einem Krug wäre, ich liebe körperliche Strapazen. Es ist eine hedonistische Einstellung, aber ich liebe alle leiblichen Genüsse so sehr. Schlafen und aufwachen und wieder schlafen gehen, essen und Rad fahren und duschen, heiß duschen! Sie sind alle im Comic. Ich glaube, Seite 8 oder 0, „The Joys of Being Human", all dieser Dinge werd ich nie müde. (Hält ein, lacht.) WIE war die Frage?

THM: Na ja, Sie und Crumb scheinen dieses Interesse gemein zu haben, Berührungsreize detailliert zu schildern, und eine Menge Aufmerksamkeit wird Körperfunktionen gewidmet und es scheint etwas damit zu tun zu haben, wie Sie mit der Außenwelt in Beziehung treten. Etwa wie ist Ihre Haut die Barriere zwischen Ihnen und „denen", wissen Sie? Es kam mir so vor, als könnte diese ständige Bezugnahme auf das Körperliche, wie es mit dem Verstand in Kontakt tritt, auf etwas Größeres hinweisen, und vielleicht wissen Sie nicht, was das ist ...

JM: Na ja, es ist eine Tatsache, dass wir alle in unseren Körpern gefangen sind. Es ist fast die größte Tragödie der Existenz, die Tatsche, dass man sich nie mit jemandem verbindet. Nicht einmal mit seiner Geliebten. BESONDERS seiner Geliebten. Die Gehirne werden nie eins, man kommuniziert nie auf diese Weise, die Gedanken werden nie wirklich mit jemand anderem geteilt. Man kann sie nur irgendwie artikulieren und verbalisieren und sogar dann kann es Misstrauen geben und Dinge werden zurückgehalten und es gibt diese falschen Rollen, die wir projizieren. Und man weiß, man stirbt allein in seinem Kopf, wenn die Zeit kommt. Und der Tod ist die andere große Tragödie. (Lacht.) Zu wissen, dass er kommen muss, das nervt echt. Ich hab eine Menge verrückte Vorstellungen über die Verbindung von Geist und Körper, die ich sicher nicht allein habe. Oft lieg ich ohne Brille im Bett und denke, wenn ich die Willenskraft hätte, könnte ich meine Sehkraft korrigieren. Ich sollte nicht blind sein, meine Sehkraft sollte 20/ 20 sein, wenn ich nur irgendwie das Hirn in Gang kriegen würde, dass es daran glaubt. Ich frag mich, wenn ich hypnotisiert würde, könnte ich hypnotisiert werden, dass ich ohne Brille sehe? Ich denke so oft dran, weil ich meine Brille gerade hasse. Ich denke drüber nach, mich lasern zu lassen, und ich werd nie den Mut haben, es durchzuziehen. Und doch schau ich die ganzen Brillenträger an, und sie tanzen rum und haben Spaß. Und ich sehe meine Brille als die größte Barriere zwischen mir und der Außenwelt, besonders wenn's um Mädels oder Frauen geht. Sie verzerren meine Augen, meine Augen sind viel größer. (Er hebt die Brille und zeigt seine Augäpfel und sie sind viel größer, als sie aussehen, wenn er die Brille trägt. - THM) Es sind Colaflaschengläser und ich kann damit keinen guten Blickkontakt herstellen.

THM: Unglaublich! Die sind riesig!

JM: Ja. Meine Augen sind viel größer, doppelt so groß wie unter der Brille, aber die Gläser lassen sie mikroskopisch aussehen.

THM: Sie sind das Gegenteil von Milhouse. (Milhouse van Houten, Bart Simpsons bester Freund. Wenn der seine Colaflaschengläser abnimmt, sind seine Augen diese kleinen Punkte. - THM)

JM: Oder Crumb. Crumb hat diese Gläser, die seine Augen riesig aussehen lassen. Ich bin extrem kurzsichtig, schwerer Astigmatismus. Ich kenne keinen, der schlechter sieht als ich.

THM: Ohne Brille können Sie also nicht ...

JM: Ohne Brille kann ich nicht mal aus dem Bett steigen. Ich würde den Fußboden nicht finden! (Lacht.)

THM: Der erste Teil Ihrer Antwort war interessant, weil er andeutete, dass die Körperbesessenheit ein für eine Sehnsucht nach etwas Transzendentem oder etwas Höherem außerhalb der körperlichen Begrenztheit sein könnte, die die Erfahrung des Menschseins definiert, in dem Sinne, dass der Körper nie genau das tut, was man von ihm will, niemand kriegt genau, was er will, nichts läuft je genau nach Plan, die Außenwelt ist nicht die idealisierte Welt im Kopf.

JM: Ja, aber wie lautet die Frage?

THM: Ich weiß nicht, vielleicht ist das irgendwie verantwortlich für die Besessenheit vom Körperlichen, vom Taktilen, den Empfindungen.

JM: Ich würde nicht sagen, dass ich von den körperlichen Empfindungen besessen bin. Wenn, dann bin ich genauso besessen von guten Dingen, wie wir gerade sagten, von Träumen, die nie wahr werden, Dingen, die wir wollen, aber niemals kriegen. (Lacht.) Ich scheine immer mehr Zeit damit zuzubringen, im Bett zu liegen und Tagzuträumen, was ich gerne hätte, was die Beziehung und all das angeht ...

THM: Stephen King hat ein Sachbuch übers Schreiben und an einem Punkt spricht er über seine Hautprobleme, sein Ekzem, und ein Rezensent legte Gewicht darauf, dass Autoren mit abnormal großer Häufigkeit Hautprobleme haben (Joe lacht) und es sah nach einer ziemlich scharfsinnigen körperlichen Metapher aus. Wissen Sie, die Außenwelt, die sich wirklich stark an einem reibt, und ein Mensch mit künstlerischer Persönlichkeit könnte stärker als der Durchschnittsmensch davon enttäuscht sein, dass die Welt in ihrem Kopf nicht zu der Welt passt, von der sie träumt. (Da hat er sich jetzt in einen Wirbel reingeredet, Anm. d. Ü.)

JM: Bevor ich heute herkam, (lacht) duschte ich heiß und tat dann etwas Cortison 10 auf mein Ekzem, immer noch in der Hoffnung, dass es verschwinden würde. Ich schmiere seit Jahren stinkende Lotions auf diesen Ausschlag an meinem Bein, und er ist nie verschwunden. Und noch heute tu ich Medizin drauf und denk mir, wenn ich ihn nur lange genug in Ruhe lassen kann, verschwindet er einfach so. Das klingt jetzt, wie wenn ich wieder über die Pornosucht rede und dass alles an mir liegt, und doch kann ich keine Woche verstreichen lassen, ohne ihn auf Teufel komm raus einzureiben, meinen Ausschlag, meine ich. Wenn nicht, dann kratze ich ihn im Schlaf und hab ein blutendes Schlamassel am ganzen Bein. Jetzt ist er nur an meinem Schienbein. Und er ist jetzt nicht so schlimm. Er war schon viel schlimmer.

THM: Was ist die Ursache?

JM: Weiß nicht; heiße Duschen? Er könnte eine psychosomatische Manifestation von weiß Gott was sein, der Pornosucht, oder wer weiß schon? Und ich pflücke und esse meinen Grind nicht mehr, das ist nicht mal mehr Grindland, der ist fast weg, aber ich kann's nicht ganz lassen. Es ist, als wäre ich an der 30-Yard-Linie und kann ihn einfach nicht ganz reintreten. Ich hab den ganzen Sommer keine Shorts getragen. Wir haben über Hypnose gesprochen und ich hab mich immer gefragt, wenn ich diese Hypnotiseure im TV sehe, könnte ein guter Hypnotiseur mich überzeugen, dass mein Kopfpolster eine echt heiße Braut ist? (Lacht.) Ich weiß nicht.

THM: Ich hab ein Neurologiebuch gelesen, es hieß „The 3 Pound Universe" und der Titel bezog sich darauf, dass der ganze Kosmos in einem 3 Pfund Gehirn enthalten ist; wenn ihn niemand beobachtet, könnte er genauso gut gar nicht da sein. Er braucht ein Gehirn, das ihm Leben verleiht. Also erfindet jeder eine Welt, in der er leben möchte, und manche sind dabei erfolgreicher als andere.

JM: Das ist wahr. Sachen wie das Holodeck in „Star Trek“ hinterlassen einen tiefen Eindruck auf mich, weil ich oft denke, dass alles nur für mich existiert und von jemand größerem als mir kontrolliert wird, aus irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe, als wäre ich eine Ratte in einem Labyrinth. „Defending Your Life", dieser Film von Albert Brooks, wo er in die Halle der Wiedergeburt geht und sie spielen Ausschnitte aus seinem Leben auf einem großen Bildschirm, solche Konzepte lassen einen wirklich glauben, das ist alles, du wirst bloß von jemandem beobachtet und du sollst ... etwas lernen. Wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier", Bill Murray findet sich in dieser Lage und er soll daraus lernen und er kommt nicht raus, bis er es hat. Ja, solche Sachen haben einen tiefen Eindruck auf mich, auch wenn es beschissene Hollywoodfilme sind. Diese ganze Idee, dass wir hier SIND, um uns zu bessern oder anderen zu helfen. Uns zu helfen, indem wir anderen helfen. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich glaube, weil ich schon eine ganze Weile im Hedonismus versumpft bin ...



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