Graphic Novel
Between the punk and the curator
„Graphic Novel“ ist so etwas wie der neue Lieblingsbegriff der Comicverlage, wenn es darum geht, vermeintlich anspruchsvolle Comics für zumeist erwachsene Leser zu kategorisieren und anzupreisen. Carlsen Comics hat vor einiger Zeit unter diesem Begriff eine eigenständige Reihe zu etablieren begonnen und derzeit ist eine kleine Broschüre des Verlags im Handel, die unter ebendieser Bezeichnung „Ausgezeichnete Geschichten“ ankündigt. Hier werden in einer willkürlich anmutenden Art und Weise Titel wie Will Eisners „Ein Vertrag mit Gott“ und Katins „Allein unter allen“ ebenso als „Graphic Novel“ bezeichnet wie Osamu Tezukas „Adolf“ oder Jiro Taniguchis Vertraute Fremde. Wesentlich reflektierter geht da das unlängst von den vier Verlagen Avant, Edition 52, Edition Moderne und Reprodukt gemeinsam erstellte Infoportal Graphic Novels ans Werk. In akribischer Kleinarbeit werden alle Artikel und Berichte rund um die „Graphic Novel“ gesammelt, aufgelistet und verlinkt. Für den Suchenden in Sachen Comic erweist sich „graphic-novel.info“ somit auch als grandiose Metaseite.
Auch journalistisch und universitär wird sich dem Begriff zu nähern versucht. Auf „Welt Online“ setzte sich im Dezember 2007 Thomas Lindemann ausführlich mit dem Begriff auseinander und im Juni 2008 richtet die Universität von Northampton eine Tagung zum Thema „Paraliterary Narratives: Reassessing the ,Graphic Novel’“ aus. Alles sehr löblich und dem Comic sicherlich nur zuträglich. Aber was hat es mit dem Begriff an sich auf sich, wo kommt er her und welche Comics genau muss man als „Graphic Novel“ bezeichnen und welche sind lediglich Trittbrettfahrer? Drei Autoren haben sich in letzter Zeit umfassend damit befasst.
Paul Gravett bietet in seinem Buch „Graphic Novels: Everything you need to know“ lediglich eine kleine fundierte Einleitung in das Thema und analysiert in sehr gekonnter Lesart einige beeindruckende Beispiel-„Graphic Novels“. Ausgehend von Eddie Campbells Aussage „graphic novel signifies a movement rather than a form; there is nothing to be gained by defining it”, bietet er dem Leser eine Einführung in den Gegenstand ,Graphic Novel’, indem er zehn Themen benennt und innerhalb dieser zehn Themen jeweils einige Titel vorstellt. Diesen stellt er jeweils einen kurzen Aufsatz voran, der die Entwicklung des Themas nachzeichnet und seine Bedeutung für die generelle Entstehung der ,Graphic Novel’ erläutert. Die Themen zentrieren sich um Jugend, Glaube, Geschichte, Superhelden, Krimis oder auch sexuelle Phantasien. Somit bietet Gravett einen umfassenden Spiegel aktueller (englischsprachiger) Comicliteratur.
Charles Hatfield hingegen, um dessen Untersuchung „Alternative Comics. An emerging literature“ aus dem Jahr 2005 es weiter gehen soll, geht dem Begriff ausführlicher auf den Grund. Ausgehend von der Entwicklung der Underground Comix während der amerikanischen Counter Culture Ende der 1960er Jahre, dem Aufkommen von speziellen Comicshops und der darauf basierenden Entstehung von „Alternative Comics“ zeichnet er den Weg der „Graphic Novel“ für den amerikanischen Comicmarkt nach – und somit für die Grundlegung der Adaption des Begriffs in Deutschland.
Hatfield stellt als Ausgangspunkt seiner Überlegungen fest, dass Comics sich in der kulturellen Landschaft derzeit neu positionieren. Grund dafür ist die breite Rezeption einiger zentraler Comicarbeiten der näheren Vergangenheit, wie etwa die Arbeiten von Art Spiegelmann, Justin Green, Los Bros Hernandez und neuerdings auch Chris Ware. Um nachzuzeichnen, wie es dazu kommen konnte, untersucht er den Wandel des Comicmarktes seit den späten 1960er Jahren. Die Underground Comix, so kurz ihre Zeit auch gewesen sein mag, schafften die Möglichkeit für eigenständige Comicfachgeschäfte, da Comics erstmals als Möglichkeit zur künstlerischen und persönlichen Selbstdarstellung wahrgenommen wurden. Seit diesem Zeitpunkt werden Comics auch im Kunstzirkus wahrgenommen. Dabei geht es immer wieder um eine Zuordnung zur „High Brow-“ oder „Low Brow-Art“, was jedoch zumeist schwer fällt, da sie zu sehr „between the punk and the curator“ changieren.
Ab den frühen 1980er Jahren kam es zu einem inhaltlichen Wechsel. Nicht mehr das Brechen von Tabus stand im Vordergrund, sondern das Erzählen ambitionierter Geschichten. Zentral wurde dabei sehr schnell das Erzählen als ein ,Erzählen-von-sich-Selbst’. Handelte es sich bei diesen Publikationen nach wie vor um serielle Produkte, so gewann nach und nach der Sammelband unter dem Begriff der „Graphic Novel“ für den Comicmarkt an Bedeutung.
Grundlegend trifft er zuerst die Unterscheidung zwischen „short-form“ Comics und „long-form“ Comics. Mit ersterem meint er Zeitungsstrips wie etwa „Calvin and Hobbes“. Long-form Comics stellen den Untersuchungsgegenstand für ihn dar, sie sind synonym mit dem, was alles als „Graphic Novel“ aufgefasst wird. Ein Umstand, den er sehr kritisiert: „indeed a graphic novel can be almost anything ... - you name it“ und ihn dazu zwingt weiter einzugrenzen. Ursprünglich bezeichnete der Begriff in sich geschlossene Geschichten und so wird er daher auch richtigerweise von Hatfield verwendet.
Für Hatfield wichtiges Beispiel ist die erste „Love & Rockets“-Serie der Bros Hernandez (deutsch bei Reprodukt und Edition Moderne), die als normale Comichefte erschienen und später in Sammelbänden zusammengefasst wurden. In einer Analyse von Gilbert Hernandez „Palomar: The Heartbreak Soup Stories“ versucht er die unterschiedliche Rezeption beider Publikationen und ihre Bedeutung für den amerikanischen Comic nachzuvollziehen. Die Serialität von „Love & Rockets“ ermöglichte Hernandez einerseits neue Möglichkeiten in Bezug auf Raum und Zeit im Comic auszutesten, andererseits beschränkten sie ihn auch. Dadurch, dass seine Charaktere Latinos waren und er sich der amerikanischen Popkultur versagte, schaffte er einen starken kulturellen und politischen Bezug in seiner Arbeit, der bis heute gültige Maßstäbe setzte.
Ausgehend von Harvey Pekars „American Splendor“ Storys entwickelt Hatfield im folgenden Kapitel die Frage nach der Authentizität in autobiographischen Comics, indem er fragt: „Who is Harvey – creator, creation, or both?“ Eine Frage, die auch den Comicautor selber umtreibt. Anschaulich führt Hatfield aus, dass die „Autobiographie“ Tatsachen und Fiktion vermischt und es daher sinnlos ist, zwischen autobiographischer und fiktiver Autobiographie zu unterscheiden. Der Grund liegt im Entstehungsprozess der jeweiligen Autobiographie. Am Beispiel Pekars erkennt Hatfield, dass im Vorgang des Verfassens einer Autobiographie immer auch ein eigener Entwicklungsprozess abläuft, der in das Werk einfließt und somit über die Handlung hinaus autobiographisch wirkt.
Dabei enttarnt er besonders Ironie und Selbstreflexion als genretypische Grundzüge, die sich bereits in den Urtexten dieser Comicspielart finden lassen. Durch den selbstreflexiven Blick gelingt es in den Comics von einem persönlichen Standpunkt aus, einen Blick auf größere kulturelle und politische Probleme zu werfen. Durch einen teilweise ironischen Zugang wird der Umgang mit diesen Themen vereinfacht und gewinnt durch die persönliche Konnotierung an Authentizität.
In einem abschließenden Ausblick wendet er sich ein weiteres Mal dem Begriff der „Graphic Novel“ zu und stellt fest, dass es für den jeweils vorliegenden Text von grundlegender Bedeutung ist, ob es sich um ein originäres Werk oder um gesammelte Einzelausgaben handelt. Serialität hat zwangsläufig Einfluss auf einen Gesamttext. Es ist ein Unterschied, ob eine Geschichte aus sechs mal 24seitigen Einzelhandlungssträngen besteht oder ob sich der Verfasser von vornherein soviel Raum und Zeit nimmt, wie seine Geschichte zur Entfaltung benötigt. Dies gilt es zwar bei der Rezeption immer im Hinterkopf zu bewahren, jedoch warnt Hatfield vor einem zu exklusiven Gebrauch des Begriffs: „[one] cheat[s] us of an appreciation for those great comics that do not look at all like novels“ und beantwortet so salomonisch die eingangs gestellte Frage nach Herkunft und Sein der „Graphic Novel“.
Hatfields Argumentationen überzeugen sowohl in der Genauigkeit der einzelnen Analysen, als auch in den stets zielführenden Entwicklungen aufgestellter Überlegungen zur Genese der „Alternative Comics“ und ihrer Wegbereitung für die Graphic Novel (die ich am Ende dieses kurzen Textes, so wie Hatfield, nun auch endlich ohne Anführungszeichen schreibe). Die Art und Weise der Comicanalyse, mittels der Verwendung eines spezifischen Vokabulars, steht auf der Höhe der Zeit und sollte sich als grundlegend für eine exakte Comiclektüre erweisen.
Als Meister einer ebensolchen Comicanalyse erweist sich Douglas Wolk in „Reading Comics: How Graphic Novels work and what they mean“. Eher kolumnistisch in seinem Schreibstil, als streng wissenschaftlich, wie Gravett und Hatfield, lässt sich Wolks Rundumschlag durch den amerikanischen Comicmarkt sehr eingängig lesen. Für ihn hat der Begriff der Graphic Novel keinerlei wirkliche Relevanz, wie ja auch schon die gleichgesetzte Verwendung von ,Comic’ und ,Graphic Novel’ im Titel vermuten lässt. „The cheap way of refering to them is ,comics’ or ,comic books’; the fancy way is ,graphic novels’“ ist dann auch sein flappsiges Urteil. Jedoch ist er nicht so vermessen, zu ignorieren, wie sich der Markt konstituiert und so trennt er geschickt in „Mainstream“ und „Art Comics“. Auch für ihn sind „Art Comics“, beginnend mit Robert Crumb, die treibende Kraft hinter jeglichem kreativem Umbruch der letzten Jahrzehnte.
Wolk ist Comicliebhaber und das wird dem Leser immer wieder vor Augen geführt, wenn er sich auf detailreiche Schilderungen einzelner relevanter Titel einlässt. Das zeigt sich besonders dann, wenn es um Superhelden geht, um die es des öfteren geht (gehen muss, es geht schließlich um den US-Comicmarkt!) und denen sogar ein ganzes Kapitel gewidmet ist. „Superheroes und Superfans“ beschäftigt sich im Schnelldurchlauf mit der Entwicklung und aktuellen Situation der beiden großen Verlage DC und Marvel.
Den Hauptteil des Buches machen schließlich 18 jeweils knappe Kapitel aus. Diese gleichen eher Kolumnen, die sich jeweils gezielt mit einem Comickünstler auseinander setzen. Gerade hier schafft es Wolk sein fundamentales Wissen über den Comicmarkt voll zu entfalten und bedient sich dabei einer pointierten Sprache, wie man sie sich in der Comickritik öfter wünschen würde. Sicherlich auch einer der Gründe, warum das Buch dieses Jahr für einen Eisner Award als „Best Comics-Related Book“ nominiert wurde.
Wie sich aus allen drei Büchern unschwer herauslesen lässt, sind auch deren Autoren nicht von der Verwendung des Begriffs „Graphic Novel“ begeistert. Es ist überhaupt fraglich, ob es eines gesonderten Begriffes bedarf, wenn doch klar ist, dass es sich so oder so um Comics dreht. Oder wie Douglas Wolk auf die Frage nach dem Begriff „Comics“ antwortet: „if you have picked up this book and have not been spending the last century trapped inside a magic lantern, you already pretty much know what they [d.s. ,Comics’; F.G.] are, and ,pretty much’ is good enough.“
Paul Gravett: Graphic Novels:
Stories to Change Your Life
Aurum Press, October 2005, 192 S., # 18,99
(US-Ausgabe: Graphic Novels: Everything You Need to Know
Collins Design, November 2005, 192 S., $29.95)
» www.paulgravett.com
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Charles Hatfield: Alternative Comics: An Emerging Literature
University Press of Mississippi, 2005, 182 S., $ 22,-
(Softcover, die hier besprochene Hardcoverausgabe ist vergriffen)
» seehatfield.typepad.com
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Douglas Wolk: Reading Comics:
How Graphic Novels work and what they mean
Da Capo Press, 2007, 416 S., $ 22,95
» www.lacunae.com
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