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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen





22. August 2010
Christopher Pramstaller
für satt.org

  Thomas Ott: R.I.P.<br>Best of 1985-2004
Thomas Ott: R.I.P.
Best of 1985-2004

Edition Moderne 2010
192 Seiten, 26 €
» Edition Moderne
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Welcome to
the Horror Show

Der französische Kritiker Nino Frank beschrieb in seinem 1946 erschienenen Artikel »Un nouveau genre ‘policier:’ L’aventure criminelle« eine neue Art des Kriminalfilms – den film noir. »Dark Passage«, »The Naked City« oder »Kiss Me Deadly« schufen mit ihrem Zynismus und Anti-Helden ein Genre, das sich der dunklen, brutalen und amoralischen Seite des Lebens zuwandte. Es war eine Absage an sentimentalen Humanismus und Gesellschaftsphantasmen, wie sie die Traumwelt Hollywoods vorgespielt hatte. Im film noir sollte nichts beschönigt werden, sondern die menschlichen Abgründe im Vordergrund stehen.

Auch im Comic wurde die Szenerie der verruchten Schattenwelt der Großstadt schnell zu einem markanten und immer wiederkehrenden Sujet. Will Eisners »The Spirit« setzte hier Maßstäbe und fand mit seinem noir-Setting in Frank Miller (»Sin City«, »Batman: The Dark Knight«) seinen derzeit wohl prominentesten Nachfolger.

Die Geschichten des Schweizers Thomas Ott sind thematisch ähnlich gelagert. Mord, Egoismus, Wahnsinn, Macht und Ohnmacht sind die treibenden Elemente seiner Kurzgeschichten, die gerade in Form von zwanzig Kurzgeschichten im Sammelband »R.I.P. – Best Of 1985-2004« bei der Edition Moderne erschienen sind. Zeit und Ort sind unbestimmbarer, die klassischen Sets des film noir sind es, derer sich Ott bedient: sakrale Elemente, anonyme Städte, einsame Motels und dunkle Hinterhöfe.

Die längsten Geschichte »The Millionairs« lässt all dies geballt aufeinandertreffen. Ein Koffer voller Geld ist der Protagonist. Zunächst von zwei Männern in einem verunfallten Wagen gefunden, in dem sie den schwerverletzten Fahrer am Graben zurücklassen, wird er zum Auslöser zwischenmenschlicher Grausamkeiten. Er wandert durch unzählige Hände und fordert immer mehr Tote, da der Wahn nach Reichtum jeglichen Ethos erstickt. Freundschaften und Liebesbeziehungen brechen auseinander durch ihn, er säht Zwietracht und treibt zum Äußersten. Die Ironie will es nicht anders, dass der Koffer am Ende wieder dort angelangt, wo er seinen Ausgangspunkt genommen hat – am Straßenrand, in einem zerstörten Wagen. Keiner hat gewonnen, alle sind zugrunde gegangen.

  »R.I.P. – Best of 1985-2004« von Thomas Ott
Grieslig, unruhig und zerfurcht sind Otts Bilder. Das physische Moment des Entstehungsprozesses scheint nahezu greifbar.

Doch es sind nicht die morbiden Geschichten alleine, die Ott über die Jahre eine große internationale Fangemeinde eingebracht haben. Es ist vor allem die Technik und der Stil, durch den er seine Gedanken in Bilder fasst. Otts Werkzeug sind Schabmesser, nicht der Stift. Kein Blatt, sondern der Schabkarton. Unzählige kleine Kerben schneidet und kratz er in die dünne Deckschicht der Kartons, um zur weißen Schicht darunter vorzudringen. Was sich thematisch in den Geschichten andeutet, könnte sich kaum treffender in den Bildern wiederfinden. Es ist ein Kampf der Gegensätze – Schwarz und Weiß. Licht und Schatten, Leben und Tod. Grieselig, unscharf und zerfurcht ist die gezeichnete Welt. Es beschleicht das Gefühl, die weißen Linien hätten nur mit größter Qual ihren Weg in die Bilder gefunden und seien, kaum dort angelangt, schon wieder im Verschwinden begriffen – zurückgedrängt vom alles dominierenden Schwarz. Stets ist das physische Moment, die Kraftanstrengung, allgegenwärtig, die dunkle Welt der Bilder zumindest für einen Moment aufzureißen und die Ambivalenz deutlich zu machen.

»R.I.P« ist eine Studie der menschlichen Abgründe, düster und labil. Zwanzig Geschichten aus knapp zwanzig Jahren zeugen von der Meisterschaft, die Thomas Ott in seinem Stil erlangt hat. Es gilt hinabzusteigen in seine Welt und sich begeistern zu lassen vom schaurigen Grusel.