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5. November 2011
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Alexander Plaum
für satt.org |
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Modotti. Eine Frau des 20. JahrhundertsWer war Tina Modotti? So lautet die Kernfrage des bislang ambitioniertesten Werkes von Angel de la Calle, das acht bzw. vier Jahre nach seinem ersten Erscheinen in Spanien in zwei Einzelbänden nun komplett in deutscher Übersetzung vorliegt. Am besten lässt sich das Buch mit den Attributen faszinierend, ambitioniert, leidenschaftlich und unvollkommen bezeichnen – genau wie seine Protagonistin. Für alle, die sie nicht kennen (und das dürften die meisten Menschen ohne Spezialwissen in den Bereichen Kunst, Geschichte oder Politikwissenschaft sein): Assunta Adelaide Luigia Modotti Mondini, Rufname Tina, war eine italienische Künstlerin und Politikaktivistin, der man - obwohl sie heute nahezu vergessen ist - durchaus Weltrang zusprechen kann. Sie starb 1942 im Alter von 45 Jahren in Mexiko-Stadt. Ihr Leben war kurz, intensiv und von schwerwiegenden politischen Umbrüchen und persönlichen Tragödien geprägt. In zunächst chronologischer, später wechselnder Reihenfolge widmete sie es der Schauspielerei, der Fotografie und der kommunistischen Weltrevolution. De la Calles Begeisterung für die schöne Kommunistin ist auf beinahe jeder Seite seiner dokumentarischen Graphic Novel zu spüren. Möglichst genau will er Modotti porträtieren und holt mittels verschiedener Zeit- und Erzählebenen zum großen Rundumschlag aus. Alle Stationen ihres Lebens müssen abgefrühstückt werden: die bittere Kindheit in Italien, die frühe Karriere als Filmstar in den USA, das Leben als Künstlerin und Aktivistin im postrevolutionären Mexiko, die Emigration in die Sowjetunion mit Zwischenstopp im Deutschen Reich kurz vor der Katastrophe, das Engagement im spanischen Bürgerkrieg und schließlich die unglückliche Rückkehr in die Ciudad. Hinzu kommt die ebenfalls zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten angesiedelte Metaebene, auf der Del Calle und sein Schriftstellerkollege Paco Ignacio Taibo über Tina Modotti selbst und ihre grundverschiedenen Freunde, Liebhaber, politischen Verbündeten und Biografen diskutieren. Dabei prasseln mitunter so viele Namen (und kleine, nicht immer geschickt eingebettete Seitengeschichten) auf den Leser ein, dass er mit leicht rauchendem Schädel auch mal den Überblick verlieren darf: Monna Alfau, Anita Brenner, Pino Cacucci, Mildred Constanine, Roubaix de L‘Abrie Richey, Sergej Eisenstein, Javier Guerrero Garcia, André Gide, Ernest Hemingway, James Joyce, Alexandra Kollontal, Vladimir Majakowski, Julio Antonio Mella, Willi Münzenberg, Diego Rivera, Ricardo Gomez Robelo, Vittorio Vidali, Edward Weston - Tina Modotti kannte bzw. beschäftigte Gott und die Welt, und de la Calle zeigt selten Mut zur Lücke. Eben weil so viele Personen und Themen auf dem Zeichentableau sind, schafft der Autor es manchmal nicht, den Blick auf wesentliche Dinge zu konzentrieren. Mich hätte z. B. interessiert, worin Tina Modottis immer wieder aufflammender Dogmatismus genau begründet lag, wie »angepasst« bzw. stalinistisch-brutal sie als Sowjetagentin agierte - und wieviel sie über die fragwürdigen bis widerlichen Aktionen ihres Begleiters Vidali wusste. Und wie sahen die politischen Streitgespräche mit ihrem Lover aus? Sicher lässt die schwierige Quellenlage hier gar keine endgültigen Schlüsse und Einschätzungen zu. Hätte der Autor etwas mehr Fokus und Fantasie walten lassen, wäre der Leser Tina Modotti aber noch deutlich näher gekommen. Tadellos funktioniert de la Calles vielstimmig tönendes Häppchenkarusell erstaunlicherweise bei der Synopse des Spanischen Bürgerkriegs aus verschiedenen Blickwinkeln: Hier treffen eigene Illustrationen, Dialoge und Erläuterungen geschickt auf Bild- und Textzitate von Pablo Picasso, Cesar Vallejo und Antonio Machado und lassen trotz der Kürze von gerade mal neun Seiten kaum Fragen offen. Visuell ist Modotti aber auch an dieser Stelle kein ungetrübter Genuss. De la Calles Kunstgriff, Recherchefundstücke aller Art (Fotos, Poster, Buchcover) aufzusaugen, dem eigenen Still anzupassen und in die Geschichte zu integrieren, ist zwar grundsätzlich eine gute Idee. Nur tut der eigene - grobe und schraffurlastige - Stil nicht allen zeitgenössischen Dokumenten und Kunstwerken gut. An anderen Stellen sorgt er gar für mangelnde Übersicht und Klarheit. Und was sollen eigentlich die runden Plattnasen? Es muss ja nicht gleich so konventionell-elegant zugehen wie in Isabel Kreitz‘ Geschichte über Richard Sorge - etwas weniger Holzschnitt und Gewitter im Panel hätte meinen Lesespaß jedoch erhöht. Insgesamt ist »Modotti« trotz der beschriebenen Unzulänglichkeiten eine klare Leseempfehlung für alle, die sich gerne mit emanzipierten, attraktiven, radikalen Frauen und ebensolchen Ideologien und Literaturexperimenten beschäftigen. Wikipedia & Co. sollten dabei zum besseren Verständnis stets in Reichweite sein.
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