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11. Januar 2012
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Sven Jachmann
für satt.org |
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Craig Thompson: HabibiOpulenz lautet das Stichwort, mit dem künftig die Arbeit von Craig Thompson verbunden sein wird. 2003 begann sein Durchbruch. Da erschien seine fast 600 Seiten schwere Comicerzählung »Blankets« (auf Deutsch lieferbar bei Carlsen), eine autobiographische, recht religionsskeptische Liebes- und Coming-of-Age-Geschichte, in der Thompson seine erste großen Liebe schildert – dank seiner christlich-fundamentalistischen Familie eine schwere Bürde. Opulent war auch der Preisregen, mit dem Blankets bedacht wurde: Auf Thompsons Strichliste dürfte keine relevante Auszeichnung der Branche mehr fehlen, und begleitet von einem gewaltigen Medienecho, sollte sich »Blankets« insbesondere in den USA letztlich als eines jener nach wie vor eher seltenen Werke erweisen, die die Reputation des Comics in der Öffentlichkeit vorantreiben. Eine eindrucksvolle Bilanz für einen Zeichner und Autor des Jahrgangs 1975 ist das allemal. Sein 2004 veröffentlichtes Tagebuch einer Reise (deutsch bei Reprodukt), eine lose erzählte und quantitativ vergleichsweise überschaubare Skizzensammlung von Thompsons dreimonatigem Recherchetrip nach Europa und Marokko, deutete allenfalls dezent an, dass nach siebenjähriger Arbeit nun in Gestalt von Habibi etwas kommt, das Blankets an Opulenz noch übertrifft: Regelrecht monolithisch kommt der rund 700 Seiten fassende Ziegelstein daher, in dem Thompson nicht weniger versucht, als gleich mehrere Kulturgeschichten zu vereinen: die der Religionen, der patriarchalen Sexualität, der Liebe, der Märchen, des Erzählens überhaupt und schließlich des Kapitalismus. Dass solch gewaltige Ambitionen die hiesige Kritik begeistern, ist so berechtigt wie absehbar. So vielseitig anschlussfähig sich das Buch auch zeigt, seinetwegen nun die Geschichte des gesamten Mediums für null und nichtig zu erklären, wie der Rezensent der Frankfurter Rundschau tut, der allen Ernstes von der ersten Graphic Novel spricht, die ihren Namen verdiene, ist Augenwischerei. Da wäre also zunächst einmal der Märchenstrang, der aus »Tausendundeiner Nacht« stammen könnte, arbeitete Thompson nicht bereits auf den ersten Seiten mit Insignien der Moderne: In dem fiktiven arabischen Land Wanatolien wird die neunjährige Dodola an einen Schriftgelehrten verkauft. Der fährt sie auf seinem Motorrad nach Hause, wo er sie missbraucht. Das blutbefleckte Laken soll sie mit Stolz als Umhang tragen: »Es ist das Zeichen, dass du rein warst.« Der drastischen Exposition folgt eine Odyssee: Von Sklavenhändlern entführt, nimmt sich Dodola in Gefangenschaft des schwarzen Babys Zam an. Nach erfolgreichem Fluchtversuch quartieren sich die beiden in einem mitten in der Wüste gestrandeten Schiff ein und wachsen heran. Schon hier sind Dodolas weitschweifige religiöse Erzählungen und Gleichnisse, mit denen sie Zam bei Laune hält, ein Refugium in der brutalen Realität. Der Autor nutzt es, um – mit schwarzweißen ornamentalen und fiebrigen Zeichnungen – ikonisch Zusammenhänge zwischen den Religionen und der Poesie ihrer Erzählungen herzustellen. Tatsächlich verkauft Dodola ohne Zams Wissen ihren Körper gegen Lebensmittel an die Männer der vorbeiziehenden Karawanen aus der nahe liegenden Stadt. Später werden die beiden getrennt und geraten über zwei Parallelhandlungen in den Palast eines grausamen Sultans: Dodola als dessen privilegierte Haremsmätresse, Zam als untersetzter Diener und freiwilliger Eunuch. Erneut gelingt beiden die Flucht: zunächst in die Stadt, wo sie bei einem geradezu manischen Müllfischer Unterschlupf finden, der den omnipräsenten Verfall der Stadt mit umso beharrlicherem Optimismus quittiert, dann zu ihrem einstigen Wüstenschiff, das nunmehr unter einer monströsen Müllkippe begraben liegt. Quasi über Nacht verwandelt sich die Stadt um sie herum in eine industrialisierte Megacity, Dodola und Zam haben nun nicht mehr den Status von Sklaven, sondern von illegalen Flüchtlingen, und es stellt sich heraus, dass die Wassernot, die zuvor im Sultanpalast herrschte, auf ein gigantisches Staudammprojekt zurückzuführen ist. An diesem Punkt ist die Geschichte noch nicht bei ihrem Ende angelangt. Theologen dürften beim Entziffern all der Suberzählungen aus dem Koran, der Bibel und des Talmuds ins Verzücken geraten. Formal kann Habibi zweifellos als eine der komplexesten Comicerzählungen gelten. Es ist dann allerdings auch der überbordenden Fabulierfreude geschuldet, dass sich die disparaten Elemente regelmäßig gegenseitig ausbremsen: Die Religionskritik wird durch das larmoyante Plädoyer für Toleranz gezähmt, die Kapitalismusparabel entwickelt sich bizarr, weil sie zum Kitsch des Märchens in Konkurrenz steht, und die gewalttätigen Erscheinungen männlicher Sexualität scheinen dann gebannt, wenn ihnen einfach ganz viel Liebe das Zepter abnimmt. Gleichwohl: Bei solch einer gewaltigen Arbeit liegt Kritik fast in der Natur der Sache. Thompson gelingt es, all diese disparaten Stränge über die Funktionen des Geschichtenerzählens selbst virtuos zu verbinden: Mal sind sie ein verzweifeltes Auflehnen gegen die Realität, mal Sinnzuschreibung gegen ein karges Dasein im Diesseits, mal Selbstermächtigung, die gegen Tod und Herrschaft zu rebellieren sucht, mal sozialer Kitt, der, im Guten wie im Schlechten, die eigene Ohnmacht kaschieren soll: Selbst einer von Dodolas Vergewaltigern in der Wüste kann sich, nachdem das Mädchen sich mit einem Messer verteidigt hat, seinen missglückten Versuch nur dadurch erklären, dass er in Dodolas Gestalt auf eine berüchtigte Wüstenhexe getroffen sei. Auch die zügellose Gier des Sultans schwindet später schlagartig, weil Dodolas einst so pittoreske Geschichten, von denen er sich sonst stimulieren ließ, im prunklosen Kerker, in den er sie nach einem Fluchtversuch verfrachtet hat, bloß noch von ihrer Funktion als Überlebensstrategie zeugen. Dass die Erzählung selbst neben dieser Metaebene – das Erzählen und die Mythen, die es erzeugt und gleichsam benötigt – einen solch unkontrolliert-monumentalen Atem erhalten muss, ist dann leicht zu verschmerzen. Derart ehrgeiziges Scheitern dürfte in der Comicgeschichte tatsächlich beispiellos sein.
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