Mary wept over the Feet of Jesus
(Chester Brown)
(Drawn & Quarterly 2016, 268 Seiten, $ 21,95, ISBN 978-1-77046-234-2)
Schon im Verlauf seiner ersten, zunächst als Mini-Comic selbstpublizierten Heftserie Yummy Fur interpretierte der große kanadische Comic-Künstler Chester Brown - quasi als side project - Teile des Markus-Evangeliums (später folgte Matthew auf Mark) in etwas eigenartiger, aber innerhalb der seltsamen Dinge, die in diesen Heften vorkamen, sehr ernsthafter Manier - und auch mit einem Respekt, den er etwa für »Ronald Reagan« und seinen »Vorstoß in eine andere Dimension« nicht unbedingt zeigte.
Es folgten Ausflüge in die Autobiografie - darunter seine berühmten Playboy Stories um seine Obsession für das gleichnamige Herrenmagazin -, dann sein leider unvollendetes Underwater-Projekt, das eine schwer zu verstehende Welt aus der Sicht eines langsam älter werdenden Neugeborenen erkundete, ehe Brown mit der (teilweise kontroversen) historischen Nacherzählung des Kanadiers Louis Riel in die »höhere« Kulturszene seines Heimatlandes aufgenommen wurde, nur um dann mit einem memoirischen Manifest seine persönliche Sicht - als Freier wie auch als Befürworter der Sexarbeit - auf die Prostitution zu liefern. Paying for it war einerseits eine Rückkehr zu Browns autobiographischen Werken, andererseits aber auch eine Kulmination eines politischen Meinungsmachers, dessen akademische Argumentation (im langen Nachwort) aber noch nicht völlig überzeugte.
Wie die Jungfrau zum Kind kam Brown dann zu seinem neuen Buch. Ursprünglich wollte er nur eine Parabel aus dem Matthäus-Evangelium (allerdings in einer variierenden Fassung, die er anderswo fand), als Mini-Comic veröffentlichen (und das wäre dann gleichbedeutend mit einem Werk, das wohl nur seine eingeschworensten Fans gelesen hätten). Doch dann kam noch eine zweite Parabel hinzu, und dann kristallisierte sich daraus ein größeres Projekt, bei dem die Titulierung als »Graphic Novel« auch von Brown selbst auf dem Titel in Gänsefüßchen beibehalten wurde, weil es natürlich nicht um eine fiktive zusammenhängende Handlung geht, sondern um zehn zunächst willkürlich zusammengestellt wirkende, teils frei Interpretation von unterschiedlich langen Bibelpassagen. Wie es Brown dabei aber gelingt, teilweise aus wiederhergestellten Ellipsen und durch Zensur verschleierten Facetten der Bibel eine vermutlich einige Christen und Theologen erzürnende, aber von Liebe und Respekt getragene »hidden back story« zu entwerfen, ist nicht weniger als ein kleines erzählerisches Wunder.
Der Untertitel zu Mary wept over the Feet of Jesus lautet Prostitution and religious obedience in the Bible, wobei das P-Wort sich weitaus größer auf dem Cover findet. Browns fortschreitender Kampf für einen offenen vorurteilsfreien Umgang mit dem »ältesten Gewerbe« findet hier einen so gewagten wie in sich überzeugenden neuen Ansatz, der auch ohne detaillierte Bibelkenntnis hochinteressant ist. Man sollte allerdings nicht nur fix den Comic lesen, sondern sich auch die Zeit nehmen, das nicht eben kurze Nachwort durchzulesen, in dem einige der weitreichendsten Thesen Browns erst wirklich deutlich werden (wenn man das Nachwort aber erstmal gelesen hat, steht der Comic auch für sich und erzählt die »große« Story ganz allein).
Der wichtigste Zugang geschieht abermals über Matthew. Dieser hat nämlich, und das ist ungewöhnlich, in seiner Erbfolge, mit der das neue Testament beginnt, nicht nur die Männer aufgezählt (»Abraham zeugte Isaak [...] David [...] Joseph«), sondern hier und da auch einige der Mütter erwähnt, etwa Tamar, Rahab oder Ruth. In Browns am deutlichsten von der Bibel entfernten Passage erzählt er von eben jenem Matthew, wie er über den Anfang seines Evangeliums nachdenkt (den Bleistift quasi schon gespitzt) und darüber, wie dieser Text womöglich bei Abschriften verfälscht werden könnte. Und nachdem er (bei Brown) während dieser Überlegungen spazieren geht und von einer jungen Prostituierten angesprochen wird, kommt ihm die Idee, für clevere Leser (also etwa Chester Brown) auf die unvermeidbar erscheinende Zensur hinzuweisen. Und so erzählt Brown »seine« Geschichte vor allem über die Geschichten dieser Frauen, die gewisse Gemeinsamkeiten haben, die sie auch mit der »Jungfrau Maria« teilen. Im eigentlichen Comic wird hierbei vieles nur angedeutet, aber man muss schon reichlich engstirnig sein, um etwa nicht zu erkennen, dass innerhalb der Vignetten mehrfach Prostituierte bei der Geschäftsanbahnung erwähnen, dass sie Jungfrauen seien.
Der vermeintliche Eklat ist für Browns Werk aber nicht halbwegs so wichtig wie die Darstellung der Prostitution als eine aufopferungsvolle, intelligente Tätigkeit mit eigenen religiösen Wurzeln. Auf die Existenz einer »Göttin« wird glaube ich tatsächlich nur im Nachwort angespielt, aber in Browns durchaus einer Bibel vom Format her gleichenden Büchlein fiel mir zum Beispiel auf, das sämtliche Kapitelüberschriften innerhalb eines Symbols auftauchen, das so ungefähr so aussieht, als würde man das christliche Fisch-Symbol hochkant stellen und ihm »den Schwanz abschneiden«. Was dann übrig bleibt, sieht man auch auf dem Buchcover, und wer darin nicht eine Abkehr vom Patriarchat und eine Zuwendung zum wirklichen »Ursprung der Welt« (Grüße an Julio Medem!) sieht ... naja, manchmal kann man Scheuklappen nicht einmal chirurgisch entfernen.
Unabhängig davon, ob man Browns These annimmt, man sich die Ohren zuhält und die Augen aussticht oder es einen eher kalt lässt (ich persönlich bin Atheist, aber die Fragestellung und Browns Herangehensweise faszinieren mich), muss man nach wie vor feststellen, dass seine akademische Methodik noch zu verbessern ist. Ein Nachwort ist gut und schön, in diesem Fall sogar unverzichtbar. Dass dann neben der Bibliographie auch noch die Fußnoten folgen, gehört eigentlich dazu. Innerhalb der Fußnoten noch einen »Bonus-Comic« zu liefern (21 Seiten über Hiob), ist schon wieder ein cleverer Schachzug, aber die Fußnoten selbst beispielsweise mit weiteren (fortlaufenden) Fußnoten zu versehen, das funktioniert eher als ironische bis satirische Brechung. Doch Brown meint das bierernst! Aus meiner eigenen akademischen Laufbahn weiß ich, dass eine der wichtigsten Fähigkeiten, die man sich während eines Studiums aneignen sollte, die Unterscheidung darüber ist, was im Haupttext und was im Fußnotenapparat enden sollte. Wenn man wie Brown quasi (den Comic mitgezählt) vier ineinander verschachtelte Ebenen aufbaut und vom Leser erwartet, dass er das Nachwort liest, diese Lektüre für eine Fußnote unterbricht, und dann noch zwischendurch die Fußnote zur Fußnote vorsuchen muss, steht man sich (und dem Leser) irgendwie selbst im Weg. Das muss man an dieser Stelle mal ganz direkt so sagen.
Bildmaterial © 2016 Chester Brown
Aber auch, wenn der Textteil dazugehört, der Comic für sich ist einfach die wahre Pracht. Brown arbeitet wieder mit einem strikten four panel grid, doch im Gegensatz zu Paying for it sind die Einzelbilder diesmal (außer bei Job aka Hiob) im Hochformat, was rein graphisch eine interessante Veränderung ist. Statt mit ausufernder Gestik oder Mimik arbeitet Brown wieder mit Atmosphäre und Timing. Etwa beim Höhepunkt von »Tamar«: Judah will gerade einen cleveren Schlussstrich unter gewisse Probleme setzen, da konfrontiert ihn seine Schwiegertochter mit einem hübsch symbolischen Stab. Die hier zitierte Seite (stand bereits so im Netz, da spart man sich die Scannerei) wirkt bereits wie ein Western-Showdown, doch auf der Folgeseite sieht man Judah in einer näheren Einstellung (aber noch im erkennbaren Kreis der Zuschauer), wie er zu ihr tritt, dann bittet er sie »Give it to me«, ein weiteres Panel zeigt die Übergabe, und wie sich die beiden dabei anschauen, und wenn er dann den Stab begutachtet, sieht man darin nicht nur, wie Judah gleichzeitig überlegt, man kann auch andeutungsweise erahnen, wie gleichzeitig sein Blick sich der Umstehenden bewusst ist. Gerade, wenn Brown hier und da auch Backstory leisten muss und immer wieder zu bildfreien, ornamentarisch verzierten »Zwischentiteln« greift (»Onan marries Tamar« ... »Onan dies«), zeigt er gerade in den stillen Momenten seine nicht geringer gewordene Meisterschaft. Wenn der »Master« erfährt, dass einer seiner Prüflinge fünf komplette Kisten voller Münzen im Freudenhass verpulvert hat, er seinen Stab (!) fallen lässt und Enosh - den einzigen, der seine Botschaft vernommen hat - herzlich in die Arme schließt: das sind die Momente, die einen zwar zunächst verdutzen, aber diesen Comic doch zu einem Höhepunkt im an Höhepunkten nicht armen Werk von Chester Brown machen. Ich habe dieses Jahr mit Tom Harts Rosalie Lightning und Adrian Tomines Killing and Dying schon zwei Comics gelesen, die des Titels »Bester Comic des Jahres« würdiger wären als so manches in den Vorjahren, aber aktuell prescht Chester klar an die Spitze. Obwohl und weil er etwas »speziell« ist.