Lampedusa
Eine magische Geschichte
Respiro
In der Reihe "Semaine de la Critique" wurde "Respiro" 2002 in Cannes mit dem Preis "Bester Film" ausgezeichnet, außerdem gab es einen Publikumspreis und Valeria Golino wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Wer diese Darstellerin nur als schmückendes Beiwerk zu Tom Cruise in "Rain Man" oder als Pointenlieferantin in den "Hot Shots"-Filmen wahrgenomen hat, wird dieser Tage auch durch ihre kleine, aber ausdrucksstarke Rolle in "
Frida" positiv überrascht werden. In "Respiro" jedoch zeichnet sie das Portrait einer Frau nach, die sich völlig ihren Gefühlen hingibt. Im medizinischen Jargon nennt man das "manisch-depressiv", und ähnlich verständnislos treten ihr auch die Bewohner der Insel Lampedusa entgegen.
Lampedusa ist eine kleine Insel zwischen Sizilien und Nordafrika. Den Lebensunterhalt bestreitet man dort mit Fischfang, was für die Frauen der Insel vor allem das Ausnehmen der Fische bedeutet. Es ist ein hartes Leben, schon für die Kinder, die sich in rivalisierenden Banden bekämpfen, wobei die feine Linie zwischen Spiel und Gewalt oft nicht mehr erkennbar ist.
Grazia ist meistens bester Laune. Was für sie "himmelhoch jauchzend" bedeutet. Insbesondere ihr Verhältnis zu ihren zwei Buben und ihrem Hund ist von zärtlicher Intensität, aber auch ihren Mann und die pubertierende Tochter liebt sie von Herzen. Was dem Mann manchmal schon zu viel ist, wenn er sich mit seinen Fischerfreunden bei einem Bier unterhalten will, und Grazia ihre anders lautenden Absichten nicht gerade subtil, aber eben auch liebenswert anbringt. Auch ist ihrem Gatten Pietro der Hund ein Dorn im Auge, der vor allem Grazia und dem älteren Sohn Pasquale gehorcht, und Pietro argwöhnisch bis eifersüchtig allenfalls duldet. Als dieser Hund nun "verschwindet", dreht Grazia mal wieder ab, und verschafft ihren Gefühlen Ausdruck, indem sie die Türen eines Hundeasyls (man könnte es auch Hunde-KZ nennen) öffnet, worauf die Dorfbewohner nur mit einer Orgie der Gewalt zu antworten in der Lage sind und die zusammengetriebenen Hunde abknallen (dieser Anblick wird dem Zuschauer glücklicherweise erspart).
Nachdem die Dorfbewohner sich schon länger über Grazias seltsames Verhalten beschwert haben, lässt sich Pietro jetzt überreden, seine Frau zu einer "klinischen Behandlung" nach Mailand zu schicken. Doch nun ist es Grazia, die "verschwindet", und mit Hilfe ihres gewitzten Sohnes Pasquale findet sie einen Unterschlupf in einer Felshöhle. Doch für Grazia, die ihre Familie vermisst, ist dies natürlich auch kein Zuckerschlecken …
(Neben dem "main plot" gibt es übrigens noch eine sehr nette, weil ebenso amüsante wie zögerliche Liebesgeschichte zwischen Grazias Tochter Marinella und einem jungen, auf die Insel versetzten Polizisten, und insbesondere die Unterwasseraufnahmen des Kameramannes Fabio Zamarion mögen einige begeistern.)
"Respiro", so vermuten meine verkümmerten Fremdsprachkenntnisse (frz.: respirer), heißt etwas ähnliches wie "Atmen", und so muss es Grazia, die ihren Gefühlen freien Lauf lässt, vorkommen, als wolle man ihr die Luft abschnüren. Nicht genug, dass sie auf einer zwar recht malerischen, aber eben auch steinig-staubigen Insel hockt, alles soll sie unterdrücken, die Liebe zu ihrer Familie, ihren Freiheitsdrang, jeden Impuls. Und das nur, um einer Normalität zu entsprechen, die sich durch fast parodistisch erscheinende Rituale wie das abendliche Flanieren in der einen Hauptstraße ausdrückt, durch mühsam unterdrückte Gewalt und die tägliche, stinkende Arbeit in der Fischfabrik. Das Kino ist das Medium der Gefühle, und so steht der Zuschauer fest auf der Seite Grazias, deren Lebenslust durch eine Rationalität beschnitten wird, die oftmals eher dem Gefühl des Neides zu entstammen scheint. Regisseur Crialese, der seinen Debütfilm in den Staaten drehte, um nun nach Italien zurückzukehren, gelingt es mit emotionell beladenen Bildern, die archetypischen Konflikte der Gesellschaft nachzuzeichnen. Teilweise fühlt man sich an Fellini erinnert, doch ohne den dort oft präsenten Zynismus. Und in einer Zeit, in der das italienische Kino mit Regisseuren wie Nanni Moretti, Gianni Amelio, Roberto Benigni oder Silvio Soldini wieder von sich reden macht, sei einem so durch und durch italienischen, vor Gefühlen nur so übersprudelndem Film, eine große Besuchermenge vergönnt.