Kamerastile
im aktuellen Film
Bereits in der dritten Auflage sind hier die Vorträge einer Tagung am 8./9. März 1997 in der Marburger Philipps-Universität zusammengefaßt, ergänzt um ein kurzes Interview mit Fred Schuler, dem Kameramann von „Der Totmacher“ und einen ebenso langen Text von Heike Parplies zu „Breaking the Waves".
Damit sind auch bereits die beiden Filme genannt, um die es vorrangig auf der Tagung ging, doch auch wenn Klaus Kreimeiers Einsichten „Im Geflecht der Blicke“ und Michael Gööcks Bemerkungen über „Fotografie und Authentizität“ bei „Breaking the Waves“ zu den überzeugendsten Texten gehören, geht das Spektrum dieses Bandes doch weit über diese ungewöhnlichen, aber doch exemplarischen Kamera-Arbeiten hinaus.
Wie die Texte zueinander in Beziehung stehen, sich ergänzen oder auch widersprechen, das ist das Bemerkenswerte bei dieser Print-Dokumentation, die nach einigen einführenden Worten mit Herausgeber Karl Prümms Vortrag über „Stilbildende Aspekte der Kameraarbeit“ gleich den längsten und umfassendsten Text ins Rennen schickt. In akademischer Tradition etwas theorielastig und mit Fußnoten von Kracauer bis Bordwell professorenhaft um sich werfend, vergleicht Prümm Eugen Schüfftans Kamera bei „Menschen am Sonntag“ mit zeitgenössischen Fotografien von Helmar Larski oder Otto Umbehr (alias „Umbo"), was schon deshalb gut funktioniert, weil ja auch Schüfftan die Portraitfotografie zu einem der Themen des Films macht. Im starken Kontrast zu diesen humanistisch, fast sozialistischen Arbeiten steht Schüfftans spätere reine „Bedeutungs"-Lichtsetzung wie in seinen Arbeiten mit Marcel Carné (insbesondere bei „Quai des brumes"), die Prümm großzügig in der Tradition des mit scharf gebündeltem Seitenlicht arbeitenden Maler Caravaggio (1573-1610) einordnet. Als Übersicht funktioniert dieser Text sehr gut, und Prümms Schlußworte über Gernot Roll ("Heimat", „Rossini", Prümms Meinung nach der Schüfftan unserer Zeit) führen gut über zum folgenden Aufsatz von Benedict Neuenfels (u. a. Kamera bei Dominik Grafs „Der Felsen") über „Stil versus Corporate Identity". Hier erfahren wir, wie Neuenfels seinen eigenen „Stil“ erstmal erkennen musste, und wie die Vorgaben deutscher TV-Sender (nicht nur vom Privatfernsehen) die Ausdrucks-
möglichkeiten der Kameramänner einschränken, wenn man etwa auf RTL zwischen-
zeitig keine Nachtaufnahmen mehr wollte (und die eigenmächtig „aufhellte") oder man bei Sat.1 keine Rücksicht auf Bildformate nahm und in einem unnötigen „Pan and Scan“ die „bildwichtigen“ Elemente auswählte.
Nach diesen ernüchternden Einsichten folgt ein Artikel über den mir leider völlig unbekannten Kameramann Axel Block, von dem ich nur vor langer Zeit einige „Tatorte“ und „Auf Achse"-Folgen sowie die eher konventionellen Kinofilme „Alles auf Anfang", „Go Trabi Go“ und „Schule“ sah, weshalb ich die Tragfähigkeit dieses Textes kaum hinterfragen kann.
Es folgt dann der unterhaltsamste Teil des Buches, „Die Kameraarbeit im amerikanischen und im deutschen Kino“ von Jost Vacano, einem Kameramann, der früher mit Schlöndorff „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ und mit Petersen „Das Boot“ und „Die unendliche Geschichte“ drehte, bevor er wie diese zwei Regisseure in die Staaten ging und vor allem dem holländischstämmigen Regisseur Paul Verhoeven ("Robocop", „Total Recall", „Starship Troopers") zur Seite steht. Charmant und anekdotenreich erzählt Vacano von den Unterschieden und Parallelen des US-amerikanischen und bundesdeutschen Produktionssystems.
Nach diesen Einstiegsdrogen folgt dann der erste größere Block zu „Der Totmacher", wobei vor allem Klaus Kreimeiers kurze Abhandlung über die Blickkonstruktion in diesem Kammerspiel sehr erhellend ist. Fred Schuler, ein aus Deutschland stammender Kameramann, der ab Ende der 60er in den USA als Operator für so wichtige Filme wie „The Thomas Crown Affair", „Dog Day Afternoon", „Jaws", „Taxi Driver“ oder „The Deer Hunter“ tätig war, bevor er als Director of Photography etwa John Cassavetes „Gloria“ betreute, erzählt im Interview von seiner bewegten Karriere und wie es dazu kam, daß er nun nach Deutschland zurückkehrte und nun nach dem „Totmacher“ auch Romuald Karmakars nächsten Film, „Manila", betreute.
Im letzten Block über „Breaking the Waves“ gibt es zunächst einen liebevollen kurzen Artikel von Michael Gööck, bevor Lars-Olav Beier Robby Müller mit Henning Bendtsen vergleicht, Carl Theodor Dreyers Kameramann bei dessen letzten Filmen „Ordet“ und „Gertrud". Schließlich kommt Müller, der neben Lars von Trier auch bereits mehrfach mit Regisseuren wie Wim Wenders ("Paris, Texas", „Buena Vista Social Club") oder Jim Jarmusch ("Dead Man", „Ghost Dog") zusammenarbeitete, dann auch im Interview selbst zu Wort. Dieses Gespräch wird zu einer Art Fazit, weil hierbei auch andere Teilnehmer der Tagung wie Vacano, Beier, Prümm, Gööck oder Axel Block Wortbeiträge liefern.
Auch wenn man sich die Erfolgsgeschichte dieses Buches nicht recht erklären kann, stimmt es einen optimistisch, daß nach den 240 Teilnehmern der Sitzung nun auch unzählige Leser das Vergnügen haben, die Einsichten einiger bedeutender Theoretiker, Kritiker und -last but by no means least- Kameramänner über „Kamerastile“ zu goutieren. Eine gelungene Ergänzung zu zwei anderen Büchern, die in den letzten Jahren zum Thema erschienen, Peter Ettedguis „Filmkünste: Kamera“ und Ballhaus/Tykwers „Das unsichtbare Auge".