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Dezember 2003
Thomas Vorwerk
für satt.org

Filmreihe
"Art Theatre Guild"
im Arsenal

atg-logo

In Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum Wien und unterstützt von der Japan Foundation zeigt das Berliner Kino Arsenal (Potsdamer Str. 2, Tel.: 030/26955-100) vom 12. Dezember 2003 bis 5. Februar 2004 25 ungewöhnliche Filme der japanischen Independent- Produktionsfirma "Art Theatre Guild", die auch vor Tabu-Themen wie Staatsterror und Homosexualität nicht zurückschrecken.
Nachfolgend eine ausführliche Kritik zum Eröffnungsfilm Kôshikei (Tod durch Erhängen) sowie Kurzbeschreibungen einiger Highlights.



Kôshikei
(Tod durch Erhängen, am 12. Dezember 2003 mit Einführung von Ulrich Gregor, am 16. ohne)



Japan 1968, Regie: Nagisa Ôshima, Buch: Masayuki Nakajima, Takuji Yamaguchi, Nagisa Ôshima, Kamera: Yasuhiro Yoshioka, Schnitt: Keiichi Uraoka, Musik: Hikaru Hayashi, mit Yun-Do Yun (R), Kei Satô (Gefängnisdirektor), Fumio Watanabe (Leiter der Bildungsabteilung), Toshirô Ishidô (Priester), Masao Adachi (Sicherheitschef), Rokkô Toura (Arzt), Masao Matsuda (Sekretär der Staatsanwaltschaft), Hôsei Komatsu (Staatsanwalt), Akiko Koyama (Frau), Nagisa Ôshima (Erzähler), japanisches Original mit englischen Untertiteln, schwarzweiß, 117 Min.

Kôshikei (Tod durch Erhängen)

Kôshikei (Tod durch Erhängen)

Kôshikei (Tod durch Erhängen)

Kôshikei (Tod durch Erhängen)

Kôshikei war einer der ersten Filme Ôshimas, der auch im Westen bekannt wurde, und nur selten wurden die Parallelen zu Jean-Luc Godard offensichtlicher. Der Film beginnt wie eine Dokumentation, zu Erklärungen der Stimme des Regisseurs sehen wie eine Todeszelle, die rein mechanische Ausführung einer Hinrichtung durch Erhängen wird uns vorgeführt. Als dann jedoch der Todeskandidat R, zweifacher Mörder und Vergewaltiger, ins Spiel gebracht wird, ändert sich bereist der Tonfall unseres Erzählers, der angesichts der Hilflosigkeit ebenfalls zunehmend verzweifelt klingt, einen Wortschwall ohne Punkt und Komma von sich gibt, um dem sehr emotionalem Vorgang gerecht zu werden. Der Unterschied zwischen grauer Theorie und der erschreckenden Wirklichkeit wird bereits klar, doch das Urteil wird vollstreckt.

Allerdings tritt der Tod durch Erhängen nicht ein, R verliert nur sein Gedächtnis. Die Inspiration dafür war der wirkliche Fall des Ri Chin'u im Jahre 1962, doch der Film verliert seinen dokumentarischen Habitus nach der misslungenen Hinrichtung völlig. Die zuvor noch wie mechanisch funktionierenden Scharfrichter und Beiwohner der staatlichen Tötung sind offensichtlich überfordert durch die Ereignisse. Laut japanischen Recht soll es wohl nur möglich sein, die Hinrichtung erneut durchzuführen, wenn sich das Opfer seiner Tat bewußt ist, und so gibt man sich redlich Mühe, Rs Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, indem man seine Verbrechen anhand der Verhandlungsprotokolle nachstellt. Wenn die staatlichen Behörden mit Freude und Euphorie die Vergewaltigungen nachspielen und die Motivation des Täters überzeugend rekonstruieren, wird der Film zu einer bitterbösen Satire, die an Kubricks Dr. Strangelove erinnert. Aus "Gentlemen, you can't fight in here. This is the war room" wird hier die Einsicht "This is an execution chamber. Neither time nor place to talk to an imaginary woman". Aber eins nach dem anderen.

Erstmals wird der satirische Unterton des Films klar, wenn man dem Todeskandidaten R eine letzte Zigarette der Marke "Peace" anbietet. An dieser Stelle war ich noch der einzige im Kino, der lachte, später war dies eine allgemeine Reaktion auf die absurden Rollenspiele, in denen der Priester vom Staatsanwalt vergewaltigt wird etc. Auch der Rassismus der japanischen Gesellschaft wird offenbart, wenn die Beamten zur Verbesserung des Wiedererkennungswert für den koreanischstämmigen R die plattesten Vorurteile zum Bestandteil ihrer Darstellungen machen. Doch langsam ändert sich der Ton des Films erneut, bei einem gemeinsamen Freigang mit dem Todeskandidat verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, schließlich zieht die Gruppe wie Jesus und seine Jünger durch die urbane Szenerie und verfolgt dort einige Frauen, bis schließlich auf einem Hausdach die Tat wiederholt wird.

Anhand weniger Personen schildert Ôshima, wie die Gesellschaft am Paradox der Todesstrafe zerbricht. Natürlich kommt dabei auch das Argument ans tageslicht, daß die Henker auch nur Mörder seien, die ebenfalls hingerichtet werden müßten, bis schließlich niemand mehr da sei. Außer vielleicht die koreanische Minderheit in Japan. Vielleicht ist es nur meine Interpretation, aber die japanische Flagge, die gegen Ende immer stärker in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, wird hier wie eine graphische Metapher eingesetzt: Der rote (schwarze) Fleck auf der weißen Seele Japans, ein schwarz-weißes Argument für oder wider die Todesstrafe.

Diese (dort farbigen) Spielchen mit der Nationalflagge kennt man von Godard, ebenso wie die Erzählerstimme des Regisseurs, den Extremeinsatz von Schrifttafeln, die halbdokumentarische Herangehensweise, die eingestreuten Umfrageergebnisse und vieles mehr. Einzig eine Regel Godards hat sich Ôshima nicht zu Herzen genommen: Godard-Filme sind fast immer eher kurz, hier wird die zweistündige Dauer des Films langsam zur Tortur, wenn immer noch eine Message draufgesetzt wird, und der Zuschauer schließlich auch nur noch will. daß der Todeskandidat endlich aufgehängt wird und der Film zuende ist. Aber offensichtlich gehört auch dies zu den Absichten des Films, denn am Schluß weist uns Ôshima daraufhin: "You, too, in the audience, did a good job."

Und damit wird das Publikum zum Mittäter.


Ninja bugeichô
(Handbuch der Ninja-Kampfkünste, 1967, OmE, am 20. & 22. Dezember 2003)



Ninja bugeichôNoch ein Film von Nagisa Ôshima, der in gewisser Weise auch dokumentarisch ist, denn um den 16bändigen historischen Ninja-Manga von Shirato Sanpei zu verfilmen, ohne finanziellen Schiffbruch zu erleiden, besann sich der findige Regisseur darauf, den Comic wirklich abzufilmen. Das Resultat könnte eine hörspielartige Bildergeschichte sein, wie man sie jeden Sonntag bei der "Sendung mit der Maus" miterleben kann, aber abgesehen davon, daß das Originalmaterial schon atemberaubend sein soll, gab sich Ôshima auch Mühe, mithilfe von Überblendungen, Wischblenden und dergleichen, die Bilder zu animieren, ohne daß es sich um einen Zeichentrickfilm im klassischen Sinn handelt.


Ningen jôhatsu
(Ein Mann verschwindet, 1967, OmE, am 26. & 28. Dezember 2003)



Ningen jôhatsuErst kürzlich widmete das Arsenal Shôhei Imamura (Der Aal, 11'09''01 - September 11) eine ausführliche Retrospektive.

Ein Mann ist verschwunden, "verdampft" (jôhatsu). Ein Kamerateam begleitet die Verlobte bei der Suche. Der Arbeitgeber, Freunde und Nachbarn werden befragt, aber für den aufmerksamen Zuschauer wird langsam klar, daß dieser Film nicht wirklich dokumentarisch ist. Schließlich kommt es zu einer dramatischen Konfrontation zwischen der Verlobten, die inzwischen mit einem Mitglied der Crew anzubändeln begann, und ihrer Schwester, die eine Affäre mit dem Vermissten gehabt haben soll oder sogar direkt an seinem Verschwinden schuldig sein könnte. Und schließlich wird die Wahrheit offenbart …


Gyakufunsha kazoku
(Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb, 1984, OmU, am 5. Februar 2004)



Hier, was der (leider eingestellte) Fischer Filmalmanach 1986 zu dem Film von Sogo Ishii meinte:Gyakufunsha kazoku

"Seit vor einigen Jahren ein Pilot in einem Anfall von Wahn noch in der Luft den Umkehrschub einschaltete und einen Flugzeugabsturz verursachte, ist der 'umgekehrte Düsenantrieb' in Japan ein geflügeltes Wort: für plötzlich auftauchenden Irrsinn mit katastrophalen Folgen. Beides bricht über eine japanische Mittelstandsfamilie herein, und zwar ausgerechnet, als sie sich endlich den Traum von einem eigenen Haus erfüllen kann und somit in Frieden leben könnte. Aber spätestens der plötzlich auftauchende Großvater ist der Auslöser für einen Kampf aller gegen alle [ …].

Dem Japaner Ishii, der offensichtlich seine Filmgeschichte gut studiert hat, ist mit dieser Anarcho-Groteske die Komödie des Jahres gelungen, die weit über dem 'turbogeilen' amerikanischen Geblödel oder westdeutschen Klamauk steht. Man muß die Interpretation gar nicht zu weit treiben und etwa in jedem einzelnen Familienmitglied die typische Verkörperung verschiedener Gruppen der japanischen Gesellschaft und ihrer Ideologien sehen: eine bitterböse und treffsichere (auch filmisch z.B. durch hektischen Schnitt adäquat umgesetzte) Paraphrase auf die Verheerungen, denen die frustrierte Kleinfamilie und ihr 'mai homu' (my home) ausgesetzt sind und die sie vice versa freisetzt, ist Ishii allemal gelungen."