Man stelle sich vor, man gehe in einen polnischen Film, der Regisseur heißt Roman Schmidt, und gleich zu Beginn sieht man groß das Logo von Pro7. Da wäre man doch mit Recht etwas argwöhnisch, wie
polnisch der Film überhaupt noch ist.
So ähnlich verhält es sich bei Maria full of Grace, der vom amerikanischen Kabelsender HBO produziert ist, und dessen Regisseur Joshua Marston heißt, was eben nicht wirklich kolumbianisch klingt, denn der Regisseur ist Amerikaner. Und auch, wenn etwa die Hälfte des Films in Amerika spielt, es kommt etwa eine Person in dem Film vor, die nicht spanisch spricht, und da man die Staaten hier völlig aus der Sicht von Maria sieht, ist der Film doch nicht ganz so amerikanisch wie befürchtet.
Die 17jährige Maria ist nicht zufrieden mit ihrem Leben in einer kolumbianischen Kleinstadt. Frisch geschwängert von ihrem Freund verliert sie ihren Fließbandjob in einer Blumenmanufaktur, und sie weigert sich auch, vor ihrem Boss zu Kreuze zu kriechen, um den Job wiederzubekommen. Ihr Freund Juan bietet ihr an, sie zu heiraten, doch statt dadurch endgültig an den Ort gebunden zu sein, macht sie lieber Schluß mit dem Kerl, der ebenso offen wie sie zugibt, sie eigentlich gar nicht zu lieben. Der gesamte Anfangsteil des Films erinnert ein wenig an Respiro (dt.: Lampedusa), in dem ebenfalls eine Frau am rückständigen Charakter ihres Dorfes zu zerbrechen scheint. Maria ist einfach eine Spur zu schön, zu intelligent und zu rebellisch für das Dorf und ihre Familie.
Da lernt sie Franklin kennen, der zwar irgendwie suspekt ist, aber immerhin ziemlich cool mit seiner Lederjacke und dem Motorrad und nicht so gleichgültig und gleichzeitig besitzergreifend wie ihr Ex, der sie immer noch argwöhnisch aus der Gruppe seiner Saufkumpane beäugt.
Franklin hat die Lösung für viele von Marias Problemen parat, insbesondere für das Geldproblem, denn unter anderem wird von ihr auch erwartet, bei der Versorgung des Kindes ihrer älteren Schwester Diana (alleinstehend mit Kind in Kolumbien, ein Schicksal, das Maria bevorsteht) mitzuhelfen. Franklin bietet ihr an, als Drogenkurier zu arbeiten, mit diversen Beutelchen Heroin im Verdauungssystem in die Staaten zu fliegen und so schnell 5000 US-Dollar zu verdienen, was Marias Leben für immer verändern würde. Einige von Marias Bedenken weiß Franklin wegzuwischen und schließlich sitzt sie ihrem neuen Chef, Javier gegenüber, der ihr den Job erklärt und ihr etwas Geld zusteckt, womit der Deal inoffiziell beschlossen ist.
Maria lernt Lucy kennen, die den Trip schon zweimal erfolgreich hinter sich gebracht ha, und die ihr einige Tips über unauffällige Kleidung oder das Verschlucken von Weintrauben zum Üben gibt. Allerdings warnt sie sie auch, daß schon ein einziger defekter Drogenbeutel im Magen fast den sicheren Tod bedeutet.
Mitanzusehen, wie Maria zunächst Weintrauben und später die etwas größeren Beutel verschluckt, geht einem als Zuschauer schon ziemlich nahe, als dann aber nicht nur Maria und Lucy, sondern auch Marias beste Freunden aus der Blumenfabrik, Blanca und mindestens ein weiterer Drogenkurier im selben Flugzeug sitzen, steht für den Zuschauer schon ziemlich klar, daß etwas schiefgehen wird. Lucy zeigt Symptome eines defekten Beutel und Maria muß dringend auf Toilette, zwei der vier werden später von den Zollbehörden aussortiert und befragt. Daß man mit einer Röntgenaufnahme sehr schnell feststellen kann, ob jemand einen verdächtigen Mageninhalt hat, hat Maria natürlich auch niemand gesagt …
Nicht nur der Regisseur liefert mit Maria full of Grace sein Regiedebüt ab, auch die Hauptdarstellerin, die man fast in jeder Einstellung des Films sieht, debütiert. Und Catalina Sandino Morena legt ein beeindruckendes Debüt vor, das mit Recht mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde.
Die Inspiration für den Film war übrigens ein Gespräch des Regisseurs mit einer wirklichen Drogenschmugglerin, weiterhin wurde viel recherchiert, auch bei den Techniken der Zollbehörde, und die Figur des Don Fernandos, einer Art Bürgermeister von Klein-Kolumbien in New York, ist ihrem Vorbild Orlando Tobón, der den Film sogar mitproduziert hat, auf den Leib geschrieben. Zwar nutzt der Film die große Leinwand nicht so aus, wie manch einer es sich wünschen könnte, aber von üblichen TV-Produktionen á la "Maria - Drogenkurier in Not" ist der Film weit entfernt, denn statt einer vorhersehbaren Dramaturgie zu folgen, zeigt er einem ein Berufsfeld, mit dem man in dieser Deutlichkeit wahrscheinlich noch nie konfrontiert wurde. Und man leidet mit Maria, wenn sich ihr unvorhergesehene Notsituationen aufdrängen, die ich in dieser Rezension aber nicht verraten will, und deshalb folgt auch kein Kommentar über den Schluß des Films, der auch manchen Zuschauer ein wenig verärgerte, aber mir persönlich passender erschein als die Alternative …