Julio Medem ist auch in Deutschland mittlerweile durch Filme wie
Die Liebenden des Polarkreises oder
Lucia und der Sex einigermaßen bekannt. Der kleine Kölner Verleih flaxfilm (der uns zuletzt
B. Aires brachte und sich vor allem auf spanischsprachige Produktionen spezialisiert hat) nahm sich nun eines zuvor entstandenen Films des bemerkenswerten Regisseurs an und beschert uns damit einen der besten Filme, die bisher in diesem Jahr angelaufen sind. Wie guter Wein musste der Film vielleicht erst reifen, um uns jetzt sozusagen auf der Zunge zergehen zu können.
In einer Weinregion Spaniens soll der 30jährige Ángel gegen die Rollassel vorgehen, einen Schädling, der für den erdigen Geschmack der dortigen Weinrebe verantwortlich ist. Auf dem Weg zu seinem Einsatzort erfahren wir bereits von Ángels Besonderheit: Wie sein Name schon andeutet, ist er halb Engel, halb Mensch - zumindest bildet er sich dies ein, er ist eine gespaltene Persönlichkeit.
Doch bereits zu Beginn des Films begeht Ángel eine Art Wundertat: Landarbeiter schicken ihn auf einen Hügel, wo ein Schäfer gemeinsam mit einigen Schafen vom Blitz getroffen wurde. In Anwesenheit Ángels erwacht der Schäfer für kurze Zeit wieder zum Leben und berichtet von seinen Erfahrungen, bevor er wieder dorthin geht, wo er hingehört. Ángel schnappt sich hingegen die Schafskadaver, man weiß nie, wofür sie noch gut sein können.
Im Ort angekommen, macht er die Bekanntschaft von Ángela, einer schüchternen braven Bäurin, die Ángel nicht nur durch ihren Namen anzieht. Sogar Ángelas Tochter heißt ebenso - aber dann ist da noch der eifersüchtige und zu Gewalttaten neigende Ehemann Patricio, dessen einzig friedfertiges Hobby sein mit einer Super-Stereoanlage ausgestatteter Traktor zu sein scheint.
Als Ángel dann noch die sexverrückte Mari kennenlernt, für die sich "seine andere Hälfte" sehr interessiert, wird es allerdings nicht weniger kompliziert - denn Patricio hat nebenbei auch mit Mari eine Affäre und wacht über diese genauso argusäugig wie über seine Ehefrau.
Während Ángel seinem Job nachgeht und mit angeworbenen Arbeitern in futuristisch anmutenden Schutzanzügen die Weinfelder ausräuchert, fühlt er sich immer mehr hin- und hergerissen zwischen den zwei Frauen - und der drohenden Gefahr durch Patricio. Bei einer Wildschwein-Treibjagd kommt es zu einer ersten Eskalation zwischen den beiden Konkurrenten - "zufällig" wird jemand angeschossen … Doch dies ist nicht die letzte Ladung Blei, die in diesem leidenschaftlichen Land ihr Ziel sucht.
Obwohl Tierra stellenweise weit entfernt von einer inszenatorischen Perfektion ist, gibt es Momente, für die selbst altgediente Regiemeister töten würden: Dazu gehören natürlich einige der erotischsten, intensivsten und überzeugendsten Liebesszenen, die man lange Zeit gesehen hat, aber auch die fast an La regle du jeu erinnernde Wildschweinjagd, der surreal anmutende Blick auf der Rollassel oder die Ausräucherung des Weinfelds, die auch einem Science-Fiction-Film zur Ehre gereicht hätte.
Manche sehen in Tierra einen Film über die Dualität, über die Widersprüche zwischen Liebe und Sexualität, Zärtlichkeit und Gewalttätigkeit, und die Anekdote aus der Produktion, daß für Carmelo Gómez, den Darsteller des Ángel, ursprünglich die Rolle des Patricio konzipiert war (bevor Antonio Banderas aus dem Projekt ausstieg), verstärkt diesen Eindruck nur. Doch auch wenn selbst der Hauptdarsteller entzweigerissen ist - Tierra gibt einen gänzlich runden Eindruck. Das Drehbuch ist ausgefeilt und voller Dopplungen und die Kameraarbeit von Javier Aguirresarobe (The Others, Hable con ella) ist ebenso exzeptionell wie die mit dem "Goya" ausgezeichnete Musik von Alberto Iglesias. Doch das i-Tüpfelchen sind die Darsteller: der ruhige, aber Kraft auströmende Ángel, die fast marienartige Ángela (Emma Suárez) und der flippige Gegenentwurf dazu - die Motorradbraut Mari (Silke alias Hornillos Klein, seinerzeit für den "Goya" als beste Nachwuchsdarstellerin nominiert) - mit solch einem Darsteller-Dreieck (oder dank Patricio Viereck) kann eigentlich kaum mehr etwas schiefgehen - und der Film schmeckt wie ein himmlisches Glas Wein - wenn auch (glücklicherweise) etwas erdig.