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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen


 

Mai 2004
Thomas Vorwerk
für satt.org

Filmtipp Berlin:
BritspottingBritspotting
Vom 6. - 12. Mai lief in den Berliner Kinos acud, central und fsk bereits zum fünften Mal das in Zusammenarbeit mit dem British Council veranstaltete Festival britspotting, das wieder Independent-Productionen aus Großbritannien vorstellt. Die Filmtitel und Regisseure sagen den meisten natürlich nichts, aber unter den Darstellern befinden sich beispielsweise Paul Bettany, Helena Bonham-Carter, Michael Caine, Colin Farrell, Denis Lavant, Kelly MacDonald, Michael McDowell, Colm Meaney, Aidan Quinn, Charlotte Rampling, Miranda Richardson.
» www.britspotting.de

Britspotting 2004
Teil 1 | Teil 2



Live Forever
(R: John Dower)

England 2002, Buch: John Dower, mit Noel Gallagher, Liam Gallagher, Damon Albarn, Jarvis Cocker, Louise Wener u.v.a., 84 Min.



Live Forever (R: John Dower)

Eine Dokumentation, die das Phänomen des "Brit Pop" untersucht, und dabei zu Einsichten gelangt, die zumindest mir trotz meines doch nicht geringen Interesses für die englische Pop- und Rockmusik Mitte der 90er noch einige neue Erkenntnisse offenbaren kann. Begann der Brit Pop mit dem Tod Kurt Cobains und endete er mit dem Tod von Lady Di? Ist Robbie Williams der direkte Thronfolger nach Oasis, das "Pop Idol" der Generation von Casting und Choreographie? - Fragen, die ich mir bisher nie gestellt hatte - genau, wie mir auch der Zusammenhang zwischen Noel Gallagher und Tony Blair bisher fast völlig entgangen war.

Auf mitunter perfide Art versucht der Film eine Art Chronolgie herzustellen, und neben einigen Journalisten sind es vor allem die Heroen des Brit Pop, die sich in Interviews dazu äußern: Damon Albarn, die Gallagher-Brüder oder Jarvis Cocker werden ein letztes Mal zum "Battle of the Bands" befragt, und die (Selbst?)Inszenierung der Musiker wirft dabei die größten Fragen auf. Während Louise Wener von Sleeper in einem Diner-ähnlichen Ambiente neben einer Ketchup-Flasche so gar nicht der Rebellion gegen alle amerikanischen Einflüsse entspricht, sitzt ausgerechnet "working class hero" Noel Gallagher in einem protzigen antiken Sessel, der den Eindruck erweckt, er sei spätestens durch seine Plattenmillionen endlich in die englische Oberschicht aufgestiegen.

Teilweise gelingt es dem Film fast zu perfekt, seine Protagonisten gegeneinander auszuspielen, wobei die offensichtlichen Differenzen zwischen den Gallaghers nicht unbedingt zu deren credibility beitragen und sich die ungleichen Brüder (insbesondere Liam) mitunter zu Witzfiguren degradiert werden, was durch die Inkludierung der Oasis-Tribute-Band Wonderwall in ihrem fast schon stolzen Dilletantismus endgültig auf den Punkt gebracht wird.

Durch die Konzentration auf die schon im Filmtitel vorherrschenden Oasis werden natürlich einige Bands wie Supergrass, Portishead, Radiohead usw. etwas übergangen, aber der mitunter sehr unterhaltsame Überblick über eine musikalische Epoche, die mittlerweile fast so weit weg erscheint wie der Punk wirkt definitiv ausdrucksstärker als die üblichen MTV-one hour specials.


Cowboys and Angels
(R: David Gleeson)

England / Irland / Deutschland 2003, Buch: David Gleeson, mit Michael Legge (Shane), Allen Leech (Vincent), Frank Kelly, David Murray, Amy Shields (Gemma), 89 Min.



Cowboys and Angels (R: David Gleeson)

Das schönste Kompliment, daß man Debütregisseuren machen kann, ist es, daß man es den Filmen in seltenen Fällen nicht anmerkt, daß ihre Schöpfer noch im Lernprozeß inbegriffen sind. Diesem Zustand wird Gleeson es wohl auch verdanken, daß er sein nächstes Projekt bereits mit Gabriel Byrne und oscar nominee Djimon Hounsou realisieren darf.

Die Geschichte eines Landeis, das im irischen Limerick durch seinen schwulen Flatmate und einige drug connections ein nicht von Sexerfahrungen, sondern von der Suche nach dem Sinn seines Lebens vorangetriebenes coming of age erlebt, ist zwar von einigen Klischees durchdrungen, setzt sich aber schon durch eine verhaltene Subtilität vom Gros ähnlicher Filme ab. Insbesondere die beiden Hauptdarsteller wirken trotz eines manchmal etwas konstruierten Skripts so unverbraucht, daß man ihnen ihre Geschichte beinahe abnimmt, wobei aber die kleinen Tupfer von Realismus wie ein fast surreal wirkender Autounfall und die Verbindung zum Tod des Vaters unseres Helden weitaus mehr Emotionen erwirken als dessen Wunsch, endlich "hip" zu sein.


Jelly Dolly
(R: Susannah Gent)

England 2003, Buch: Susannah Gent, Kamera: Rob Hardy, mit Rachael Walton (Audrey), Ashley Barnes (Henry), Stuart Laing (Jack), Leslie Briddon (Alice), 90 Min.





Ein emanzipatorischer Alptraum, der an Filme von David Cronenberg oder Lynch erinnert. In der Beziehung zwischen Audrey und Henry gibt es Probleme. Audrey will sich kaum mehr anfassen lassen, und verliert sich langsam in einer Traumwelt, in der sie vom neuen Freund ihrer Nachbarin vergewaltigt wird. Offensichtlich versteht sie sich mit jack auch sehr gut, aber als sie an ihrem Bauchnabel eine Schnur mit Ring entdeckt, die sie (wie Cowboy Woody in Toy Story) immer wieder dieselben Sätze sagen lässt, wird die symbolische Ebene des Films schnell klar: Der Bauchnabel als Ersatz-Vagina, als bodyport, der plötzlich wie ein Abfluss aussieht - die Trennung von ihrer öden Sexualität (und dem damit zusammenhängenden Henry) scheint unumgänglich. Daß Jack sich nur zu Beginn als gelungene Alternative anbietet, ist bei diesem Frauenfilm nur konsequent.

Der permanente Angriff auf das Auge und Ohr des Zuschauers, wie ihn Jelly Dolly praktiziert, ist nicht jedermanns (oder -fraus) Sache. Quietschende Türen, blutende Leiber, bellende Hunde. Doch mehr noch als an die in Großaufnahme und Zeitlupe angerissenen Streichhölzer in Wild at Heart erinnert der Film an den frühen Lynch. Statt eines Kalbsfötus wie in Eraserhead taucht hier immer wieder eine Hundeleiche auf, die dann auch einmal in zufällig herumliegenden blauen Samt eingeschlagen wird. Aus Blue Velvet stammt ferner die Verbindung einer zombieartigen Fastleiche mit Radioübertragungen, der immer wieder thematisierte Widerspruch zwischen unschuldiger Natur und dunkler Sexualität, die Schere als Verstümmelungs-Werkzeug und natürlich die Kamerafahrten durch die Unterwelt (der Bauchnabel von Mutter Erde gebiert eine Leiche). Doch auch die surreale Wundästhetik eines Cronenbergs, die blutende Körperöffnungen mit unausgelebter Sexualität assoziieren, trägt zur schlichtweg etwas kranken Atmosphäre des Films bei. Sehr interessant, aber sicher nicht das, was ich von einem anregenden Kinoabend erwarte.

Die gelungenste Szene des Films ist meines Erachtens ein Abendessen von Audrey und Henry, das einerseits bereits den Mann zum Bösewicht macht, dabei aber zumindest auch in den Dialogen etwas alltäglichen Realismus bewahrt. Diesen sucht man in weiten Strecken des Films vergeblich, und daß jemand wie Audrey unter der Unterdrückung einer Beziehung dergestalt leidet wie seinerzeit Dreyers Gertrud erscheint weder zeitgemäß noch mit der ansonsten bemerkenswerten Darstellung Rachael Waltons (offensichtlich ein alter ego der Regisseurin wie bei Lynch Kyle MacLachlan) vereinbar.

Jelly Dolly läuft auch auf der Leipziger Version von Britspotting, und zwar am Mittwoch, den 26. Mai um 20 Uhr 15 im Cineding.