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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Februar 2006
Thomas Vorwerk
für satt.org

Unter dem Eis
D 2005

Regie:
Aelrun Goette

Buch:
Thomas Stiller

Idee:
Holger Badura

Kamera:
Andreas Birkle

Schnitt:
Andreas Zitzmann

Musik:
Martin Todsharow

Darsteller:
Bibiana Beglau (Jenny Niemeyer), Adrian Wahlen (Tim Niemeyer), Dirk Borchardt (Michael Niemeyer), Barbara Focke (Hildegard Bohn), Sandra Borgmann (Sandra Kornatz), Nicole Mercedes Müller (Luzi Kornatz), Thorsten Merten (Günther Kornatz), Susanne Lothar (Frau Pötter)

88 Min.
Berlinale 2006

Unter dem Eis
German Cinema

Der beste vieler guter deutscher Filme der Berlinale 2006 lief (natürlich?) nicht im Wettbewerb, sondern sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit, in der nur für Akkreditierte zugängigen Reihe „German Cinema“. Aelrun Goette, deren Dokumentarfilm Die Kinder sind tot vor zwei Jahren verstörte, hat sich für ihr Spielfilmdebüt ein nicht unähnliches Sujet ausgesucht.

Der kleine Tim (Adrian Wahlen) führt ein wohlbehütetes Leben irgendwo am Stadtrand. Zwar steht sein Vater Michael (Dirk Borchardt) kurz vor der Beförderung als Ermittler bei der Polizei unter Stress, und auch die Mutter Jenny (Bibiana Beglau) hat mitunter nicht soviel Zeit für ihn, wie er es sich wünschen würde, doch Timmy spielt auch gerne für sich allein (mit seinem Kinderschwert auf imaginäre Monstren einschlagend) oder mit seiner besten Freundin Luzi (Nicole Mercedes Müller), der Tochter der befreundeten Nachbarsfamilie.


Filmszene

Filmszene

Filmszene

Filmszene

Bei einer Feier im Haus lernt man auch Jennys herrische Mutter Hilde (Barbara Focke) kennen, bei der die junge Familie sich Geld für das kostspielige Haus geliehen hat, und die sich vielleicht auch deshalb einbildet, sich in die Erziehung Timmys einmischen zu dürfen. Ohne Rücksprache mit den Eltern verspricht sie ihm etwa einen Hund, den sich der Junge schon lange wünscht, ist er doch insgeheim sehr neidisch auf Luzis Meerschweinchen Piggy. Eines Abends studiert Michael im Wohnzimmer noch die Akten eines aktuellen Falls, als er abgelenkt wird, und Timmy ausgerechnet die Fotos einer Mädchenleiche im Wald sieht. Auf Timmys Frage, ob das Mädchen tot sei, antwortet der Vater: „Nein, sie schläft nur“. „Und warum hat sie eine Plastiktüte über dem Kopf?“ - „Das ist ein Spiel.“

Am nächsten Tag spielt Tim wieder bei Luzi, während die versammelten Mütter Dessous ausprobieren. Als Luzi Tim nicht solange mit Piggy spielen lässt, wie dieser es möchte, sperrt Tim das Mädchen im Wandschrank ein und droht, Piggy „wehzutun“, wenn Luzi nicht aufhört zu schreien. Die aufgebrachten Mütter kommen dazu, doch Tim entschuldigt sich schließlich und Luzi ist ihm auch nicht lange böse, die beiden Kinder sollen im Garten vor Tims Haus weiterspielen. Als Tim stattdessen mit Luzi in den Wald geht, um „ein Spiel zu spielen“, bittet man als Zuschauer inständig, daß in diesem Spiel keine Plastiktüten vorkommen, doch aus dem Kinderspiel wird tödlicher Ernst.

Als Jenny schließlich zuhause ankommt, ist Timmy völlig verstört und Luzi nirgends zu sehen. Schließlich erzählt der Junge seiner Mutter von dem, was passiert ist (“wir haben doch nur ‘Schlafen’ gespielt“), und gemeinsam finden sie den leblosen Körper von Luzi, doch an dieser Stelle Jenny kommt auf die wahnwitzige Idee, diesen Todesfall dem Mörder des anderen Mädchen in die Schuhe zu schieben, um ihre Familie zu „beschützen“. Daß bei der Geheimhaltung eines so schwerwiegenden Geheimnisses nicht nur sie, sondern vor allem Timmy ernsthaften psychischen Schaden annehmen könnte, verdrängt sie völlig. Timmy kapselt sich zunehmend von seinem Vater ab, der als Ermittler in diesem Fall natürlich eine Feindrolle einnimmt (“Sperrt Papa mich jetzt ins Gefängnis?“). Und seine kleinen Kinderwünsche entwickeln eine erschreckende (dem Jungen unbewusste) Kaltblütigkeit: „Ich habe doch jetzt keine Freunde mehr zum Spielen und bin so allein - kann ich jetzt einen Hund haben?“

Das präzise Drehbuch von Thomas Stiller erspart dem Zuschauer kaum eine unerfreuliche Wendung, und verdüstert sich zunehmend, wie eine Tragödie von Shakespeare, wobei Bibiana Beglau hier nicht die Lady Macbeth, sondern die „Mutter Macbeth“ spielt. Hierbei bewahrt sich Timmy immer seine kindliche Unschuld, wenn er etwa auf Luzis Begräbnis deren Eltern fragt, ob er sich jetzt um das Meerschweinchen Piggy kümmern darf. Oder später nach dem (nicht erklärten) Tod Piggys die Beerdigung nachspielt: „Nein. Das kann dem lieben Gott nicht gefallen, daß Piggy jetzt tot ist.“ An solchen Stellen ist der Film drauf und dran, sich in eine tiefschwarze Komödie zu verwandeln, doch selbst, wenn Timmy später seinen Hund Luzi nennen will (die Mutter: „Auf keinen Fall!“), ist die psychologische Situation der Familie so bedrückend, daß das Gelächter nie wirklich befreiend wirkt.

Zu den Stärken des Drehbuchs gehört auch, daß die Widersprüche in den Handlungen der Protagonisten nie plakativ ausgeschmückt werden, sondern sich nur subtil andeuten. Wenn der Vater später den Veränderungen des Sohnes entgegenwirken will und zu seiner Frau sagt: „Ein bißchen Realität kann nicht schaden. Der Tod gehört zum Leben dazu.“, ist er sich selbst nicht bewusst, daß er mit seiner Aussparung des Todes und der Realität die Tragödie und damit auch den psychischen Verfall seines Sohnes erst ins Rollen gebracht hat.

Die schauspielerischen Leistungen sind ebenso wie das Drehbuch herausragend, insbesondere der junge Adrian Wahlen, für den die Dreharbeiten sicher nur so etwas wie ein Spiel waren, trägt den Film wie ein ganz „großer“ Schauspieler. An ganz wenigen Stellen merkt man noch, daß Unter dem Eis ein Spielfilmdebüt ist, doch den Namen Aelrun Goette sollte man sich spätestens jetzt merken - auch wenn ich hoffe, daß in ihrem nächsten Film zur Abwechslung mal kein Kind sterben muss.