Dokumentarfilmer suchen sich als Filmobjekte gerne Täter oder Opfer, wobei die Täter natürlich öfter überleben. Eines der schrecklichsten Verbrechen, der Kindsmord einer Mutter, bietet in diesem Kontext den Hintergrund eines bereits preisgekrönten Dokumentarfilms, der zu ergründen trachtet, wie es passieren kann, daß eine Mutter zwei kleine Kinder für 14 Tage in einer Neubauwohnung alleine lässt, wo sie jämmerlich verdursten, sich aber auch keiner der Nachbarn um die schreienden Kinder kümmert.
Daniela Jesse war damals 23 Jahre alt, junge Mutter vierer Kindern von ebensovielen verschiedenen Vätern. Neuberesinchen, einstmals ein Luxusviertel in Frankfurt/Oder mit sozialistisch modernem Plattenbauambiente, wurde nach der Wende, als man Altbauten plötzlich wieder schätzte, zu einem sozial schwachen Abstellgleis, der Film macht es klar, daß die Lebensumstände von Daniela J. keinesfalls einen Sonderfall darstellen.
Schon in den ersten Bildern macht der Film aber auch klar, daß Daniele nicht nur Täter, sondern auch Opfer ist. Ein Beamter bereitet sich darauf vor, eine Tür zu öffnen, und dann bricht ein Blitzlichtgewitter aus, die versammelte Presse benimmt sich wie bei der Fütterung der Raubtiere, würde Daniela am liebsten in der Luft zerreissen, während der Zuschauer durch diese Anfangsbilder eine gewisse Distanz aufbauen kann, die der Film aber durch spätere Aufnahmen spielender Kinder wieder zurücknimmt.
Doch Die Kinder sind tot ist nicht spekulativ oder meinungsbildend, sondern versammelt die erreichbaren Kommentare (größtenteils von Frauen, Danielas Vater war ebensowenig zur Auskunft bereit wie der damalig neue Freund, bei dem sie die Zeit verbrachte, während die Kinder vergebens auf sie warteten*) und lässt den Zuschauer allein mit dem Unfassbaren, daß auch Daniela in der Juztizvollzugsanstalt noch nicht verarbeiten kann.
Es geht nicht um die Probleme, „wenn Kinder Kinder kriegen“, nicht um eine rekonstruierte Chronologie des Zufalls, die zu dem Unglück führte, auch nicht um die Schilderungen des Beamten, der damals die Wohnung sicherstellte oder den Bestattungsunternehmer, der angesichts der kleinen abgemagerten Leichen damals unstandesgemäß berührt war.
Der Film behandelt die Auswegs- und Sprachlosigkeit, wie sie angesichts dieses Vorfalls besteht, aber auch unabhängig davon die Atmosphäre zu vergiften scheint. In einem Lokal angesprochene Nachbarn ziehen sich zurück, „darüber sprechen wir hier nicht“. Doch wenn man nicht darüber spricht, wie wird man dann agieren, wenn das nächste Mal leiser werdende Schreie aus einer Wohnung vernommen werden?
Wie der Filmtitel Die Kinder sind tot es schon thematisiert: Es ist zu spät, doch erschreckender ist, daß man nichts daraus gelernt hat. In Neuberesinchen (und anderswo) rufen immer noch Kinder aus verschlossenen Wohnungen, aber bevor nicht die BILD-Reporter zum Interview rufen, handelt niemand, jeder denkt, jemand anders wird sich schon darum kümmern, man verschließt die Augen vor dem seltsamen Verhalten seiner Mitbürger und kümmert sich um seinen eigenen Dreck. Das ist es, was der Film anklagt - viel mehr als eine überforderte Mutter, die das persönliche Glück für kurze Zeit über das Wohl ihrer Kinder stellt - bis auch sie merkt, daß man manche Dinge nicht ungeschehen machen kann: Die Kinder sind tot - Das erste und letzte Fazit dieses ergreifenden Films, den sich aber auch zu wenige anschauen werden, weil das Thema zu unangenehm ist und man sich lieber um etwas anderes kümmert und Welcome to the Jungle oder Gothika guckt, wo Kindesmisshandlung immerhin auch eine Rolle spielt, man aber nicht soviel über unangenehme Fragen nachzudenken braucht und der Tod nur ein Handlungselement auf dem Weg zur Unterhaltung darstellt und nicht einen Endpunkt, der gleichzeitig der Beginn der Reflexion und Diskussion - und hoffentlich der Veränderung - ist.
(
*) Regisseurin Aelrun Goette gelingt es ungleich besser als Julia Dittmann in
Rosa, aus jener (unfreiwilligen) Aussparung der männlichen Stimme auch einen profunden gesellschaftlichen Kommentar abzuleiten.