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Mai 2006 | Thomas Vorwerk für satt.org | |
Flug 93
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Fotos © 2006 Universal Pictures International Regisseur Paul Greengrass im Gespräch mit seinen Flugzeugentführern |
Nur wenige Monate vorm fünften Jahrestag von „9/11“ (mal abwarten, wie zeitgenau die DVDs erscheinen) kommt nun neben Oliver Stones in Cannes gelaufenem World Trade Center mit Paul Greengrass’ United 93 ein Film in die Kinos, der auf den ersten Blick auch eher wie eine nationale Gedenkstätte als wie eine herkömmliche Kinounterhaltung erscheint. Etwa fehlt dem Film fast sämtliche sonst unumgängliche Figurenentwicklung, denn es geht einfach nur um 44 Individuen, die zufällig (vielleicht mit Ausnahme der vier Terroristen) im selben Flugzeug sitzen. Als Kinozuschauer werden einem von den meisten dieser Personen nicht einmal die Namen vorgestellt. Was im Vorfeld aber noch schwerwiegender erscheint: „Wer möchte sich einen Film anschauen, bei dem von vornherein feststeht, daß niemand diesen Flug überleben wird?“ Bei herkömmlichen Katastrophenfilmen wie Earthquake, The Towering Inferno, Titanic oder demnächst Poseidon gibt es immer auch Überlebende, in die man als Zuschauer sein Herzblut investieren kann, bei United 93 wird ohne Tom Cruise oder Arnold Schwarzenegger semi-dokumentarisch und nahezu in Echtzeit etwas geschildert, von dem die Nachwelt trotz Flugschreiber, Telefonaten und Berichten der Hinterbliebenen nur eines genau weiß: keiner hat überlebt. Und somit besteht durchaus die Gefahr, daß sich der Terror dieses Himmelfahrtkommandos auch auf den Zuschauer überträgt. Und das tut sich nicht jeder gerne an.
Das Pressematerial zum Film gibt einen ungefähren Einblick, wie der Film in den Staaten an den Mann gebracht wird: Lebensläufe der Passagiere informieren über Details, die man im Film nie erfährt, die langwierigen Interview-Recherchen zum Film finden hier (und beim wahrscheinlichen DVD-Bonusmaterial) also jene Gedenkfunktion, die dem eigentlichen Film glücklicherweise größtenteils abgeht, denn zumindest aus meiner Sicht ist an United 93 am interessantesten, daß Greengrass wie schon in seinem Berlinale-Gewinner Bloody Sunday nicht nur eine Seite der Geschichte erzählt.
Der Film beginnt und endet mit einem Schwarzbild, zunächst hört man eine arabische Stimme, die womöglich ein Gebet intoniert. Ähnlich wie ein Telefonat eines der Entführer, der noch schnell jemandem „Ich liebe Dich“ (interessanterweise auf Deutsch) ins Ohr flüstert, finden auch die Gebete der Terroristen in den rasanten letzten Minuten des Flugs in einer sehr auffälligen Parallelmontage ihre Spiegelung in den letzten Aktionen der etwas passiveren Passagiere - alle 44 Personen werden mit ihren Ängsten gleichberechtigt behandelt. Sowohl die „unschuldigen“ Passagiere als auch die „schuldigen“ Terroristen, die sich ebenso in einer Extremsituation finden, die ihnen über den Kopf wächst. Der Terror jenes von den todesmutigen Passagieren bestürmten Entführers unterscheidet sich nur graduell von den letztendlich zur Erde taumelnden Fluggästen. „God help us all.“
Neben den Geschehnissen an Bord des Flugzeugs, das zunächst eine halbe Stunde auf die Starterlaubnis wartet, während derer man die Chance bekommt, mit den nervösen Terroristen mitzufühlen, zeigt der Film auch diverse zivile und militärische Flugkontrollzentren, die teilweise auch sehr ohnmächtig auf die clever konzertierte Terroraktion reagieren. Bei diesen Sequenzen wurden viele der Personen von „sich selbst“ gespielt, was natürlich an Bord des Flugzeugs nicht möglich war, auch wenn dort immerhin tatsächliche Piloten und Stewardessen neben größtenteils unbekannten Darstellern der Passagiere gecastet wurden. Und tatsächlich stellt sich eine sehr dokumentarische Atmosphäre ein, auch wenn beispielsweise selbst die Militärs trotz ihres hochmodernen Informationsapparats die eigentlich wichtigen Neuigkeiten immer zuerst bei CNN erfahren. Durch derlei kritische (wenn auch reale) Untertöne entgeht der Film der Gefahr, wie eine Glorifizierung des „American Way of Life“ zu wirken, selbst wenn die Farben Rot und Blau vergleichsweise häufiger als etwa Gelb und Grün zu sehen sind …
Zum Abschluß noch ein Zitat vom Regisseur: „Das letzte Bild verfolgt mich. Es zeigt den Kampf um ein vollbetanktes Flugzeug zwischen einer Bande religiös fanatischer Selbstmordattentäter und einer Gruppe Unschuldiger, die zufällig in diese Lage geraten sind. Auf gewisse Weise ist dieses Bild symbolisch für den Kampf in unserer heutigen Welt.“
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