Cinemania 45:
Berlinale Dokumente
[Berlinale 2007, Teil VII]
[Rezension zu
Invisibles von Thomas Vorwerk, Rest von Kathi Hetzinger]
Bei Dokumentarfilmen kommt es nicht nur auf die filmische Herangehensweise an (z.B. ob sie dem Inhalt angemessen ist), sondern auch auf das Thema an sich: Ist es interessant, ist es wichtig? In fünf der hier besprochenen Filme geht es um absolut Grundlegendes: darum, wie in Staaten, auch sogenannten Demokratien, Macht genutzt bzw. missbraucht wird, um das Leben der Bevölkerung auf vielfältige Weise zu beeinflussen. Dabei reicht die Spannweite der Filme einmal um den Globus, im geographischen wie im ideologischen Sinn: von den USA über Lateinamerika, Paris, Uganda und den Kongo bis nach Japan, China und Nordkorea. Beim letzten Film handelt es sich um eine Liebeserklärung an die Kunst.
Strange Culture (Lynn Hershman Leeson,
Panorama Dokumente)
USA 2006, Buch: Lynn Hershman Leeson, Kamera: Hiro Narita, Schnitt: Lynn Hershman Leeson, Musik: The Residents, mit Tilda Swinton, Thomas Jay Ryan, Peter Coyote, Josh Kornbluth, Steve Kurtz, 76 Min. Steve Kurtz ist Professor für Kunst an der Universität Buffalo und Gründungsmitglied der amerikanischen Kunst- und Theatergruppe
Critical Art Ensemble. Mit ihrer Kunst verfolgt die Gruppe u. a. das Ziel, Aufklärung zu betreiben über die Verbindungen zwischen Globalisierung, dem Militär und der Wirtschaft, besonders der Biotechnologie-Industrie. Konkret geht es dabei z.B. um die Gefahren von gentechnisch veränderten Lebensmitteln und ihre Verbreitung; die Künstler errichten u. a. Labors, in denen die Besucher Lebensmittel selbst auf genetische Veränderungen hin untersuchen können. Als am 11. Mai 2004 Kurtz’ Ehefrau Hope plötzlich im Schlaf an Herzversagen starb, wurden die Sanitäter misstrauisch: Kurtz hatte Petrischalen mit (ungefährlichen, über das Internet bestellten) Bakterienkulturen im Haus – letzte Vorbereitungen für eine kurz bevorstehende Ausstellung im Massachusetts Museum of Contemporary Art. Etwas später untersuchte das FBI das Haus und den Leichnam seiner Frau, Kurtz selbst wurde verhaftet: Verdacht auf Bioterrorismus. Die spätere Anklage lautete jedoch nicht mehr Terrorismus, sondern "federal mail and wire fraud". Es scheint als würde mit allen Mitteln versucht, Kurtz den Prozess zu machen; nur ist Kurtz kein Al Capone. Bis heute läuft das Verfahren gegen ihn, die Anhörung vor Gericht wurde mal um mal verschoben; wird er verurteilt, drohen ihm bis zu 20 Jahre Haftstrafe.
Strange Culture widmet sich also einem gefährlichen Thema: der politischen Instrumentalisierung bzw. Totalisierung der amerikanischen Kultur nach dem 11. September 2001. Dr. Robert Ferrell, Kurtz’ Mitangeklagter, langjähriger Mitarbeiter und ehemaliger Vorsitzender der Abteilung für Genetik der University of Pittsburgh Graduate School of Public Health, fasst die Gefahr, die der Film schildert, präzise zusammen: ein "civil dispute" wurde in einen "criminal dispute" umgewandelt, mit dem Ziel, einerseits Informationen über gentechnisch veränderte Lebensmittel von der Öffentlichkeit fernzuhalten; andererseits trägt der Prozess dazu bei, ein Klima der Angst aufrecht zu erhalten, in dem die Bevölkerung gewillt ist, wenn nötig auf ihre Rechte zu verzichten. Den Filmemachern ist es wichtig, die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Vorfall zu richten; und obwohl die Beschäftigung damit nicht ohne Risiko ist, schätzen sie das Risiko, wenn sie den Film nicht machen, noch höher ein. Es droht die willkürliche Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.
Der Film erweist sich dabei als sehr komplex: er lässt Beteiligte zu Wort kommen, vor allem Kurtz selbst, auch wenn dieser sich nicht direkt zu seinem Fall äußern darf. Deshalb werden die Geschehnisse andererseits mithilfe von Schauspielern nachgestellt, was eine direkte Anteilnahme des Zuschauers ermöglicht, besonders an Kurtz’ Schock angesichts des völlig unvermittelten Todes seiner langjährigen Gefährtin Hope (der der Film gewidmet ist). Ergänzt werden die vielfältigen Berichte durch Nachrichtensendungen und andere Dokumente, etwa Fotos von Kurtz’ Haus wie es das FBI zurückgelassen hat: total vermüllt, auch mit dem angeblich gefährlichen Beweismaterial“; die Katze war ohne Futter oder Wasser auf dem Dachboden eingesperrt.
Strange Culture versucht, möglichst keine Aussage allein für sich stehen zu lassen, es wird immer wieder nachgefragt; so kommen z.B. auch die Schauspieler in ihrer eigenen Person zu Wort. Eine weitere Dimension erhält der Film durch den Einsatz von Comicbildern über Kurtz’ Verhaftung ("Suspect Culture").
Insgesamt bekommt man in
Strange Culture einen überzeugenden Überblick über die eigentlich unglaublichen Vorfälle, allen voran das über haarsträubende Vorgehen des FBI (das Freunde von Kurtz z.B. gefragt hat, ob sie überrascht wären, wenn sie hörten, dass es eine Explosion in Kurtz’ Wohnort gegeben hat). Der Film weckt aber auch das Interesse an der Person Steve Kurtz und an der Tätigkeit des
Critical Art Ensemble, dessen Selbstverständnis Kurtz so beschreibt: "What
Critical Art Ensemble does is identify things that we think are counter to the advancement of social justice and then we are trying to do something about it and we are trying to do that at a cultural level." Genau das gilt auch für diesen Film.
Für weitere Informationen siehe:
www.caedefensefund.orgCrossing the Line
(Daniel Gordon, Panorama Dokumente)
UK 2006, Kamera: Nick Bennett, Schnitt: Peter Haddon, Musik: Craig Armstrong, Sister Bliss, Heather Fenoughty, Narration: Christian Slater, 90 Min. Zwischen 1962 und 1965 setzten sich insgesamt vier amerikanische Soldaten, die in Südkorea stationiert waren, quer durch die verminte entmilitarisierte Zone in den Norden ab. Heute lebt nur noch einer von ihnen in Nordkorea: James Joseph Dresnok. Ihn portraitiert der Film. Wie die anderen drei Überläufer – zwei von ihnen, Jerry Wayne Parrish und Larry Allen Abshier, sind inzwischen verstorben – kommt auch Dresnok aus armseligen Verhältnissen: von den Eltern abgelehnt, von einem Waisenhaus ins nächste geschickt, kein Schulabschluss; selbst in der Armee findet er weder einen Vaterersatz, noch die erhoffte Anerkennung, und Freiheit lässt sie ihm schon gar nicht. Hätte er sich am 15. August 1962 nicht über die Grenze gemacht, hätte ihm am nächsten Tag ein Militärprozess gedroht. Er sah für sich wohl keine andere Wahl; Nordkorea war nah und doch so weit weg, wie man von der Heimat USA nur fliehen kann. Und ein grandioser Vaterersatz ist dort garantiert.
Der Film erzählt die Geschichte mithilfe von Interviews mit Dresnok und seiner Familie, mit Freunden, Vorgesetzten und anderen Soldaten, in den USA und in Nordkorea. Er greift außerdem auf alte Fotos, Propagandamaterialien, Radioberichte und Filmausschnitte zurück, viel davon aus nordkoreanischen Archiven; er zeigt aktuelle Aufnahmen von den Dresnoks mitten in Pjöngjang. Journalisten, und so wohl auch dieses Filmteam, dürfen Nordkorea nur unter strengen Kontrollen besuchen. (Zur Erinnerung: in der Rangliste zur Pressefreiheit der "Reporter ohne Grenzen" lag Nordkorea 2004 auf dem letzten Platz.) Für Regisseur Daniel Gordon und sein Team sprach aber wohl, dass dies bereits ihr dritter Film in Nordkorea war; sie hatten sich schon einen gewissen Ruf erarbeitet und genossen daher ungewöhnlich große Freiheiten.
Dresnok macht allerdings auch gar nicht den Eindruck als müssten seine Aussagen noch zensiert werden: Er hat im Prinzip nichts an Nordkorea auszusetzen, betont immer wieder wie glücklich er dort ist, dass er immer gut zu essen hatte, auch in Zeiten schlimmster Hungersnöte. "Man is the master of his life" – mit diesem nordkoreanischen Gedanken konnte Dresnok sich anfreunden. Er ist stolz auf seine Arbeit als Schauspieler im koreanischen Propagandafilmbetrieb, für den alle vier Amerikaner instrumentalisiert wurden: Sie mussten die bösen Amerikaner spielen. Dresnok ist verheiratet und hat drei Söhne. Er raucht und trinkt gern, auch wenn der Arzt es ihm verboten hat. Am liebsten geht er Fischen, was eigentlich nicht erlaubt ist, aber die Behörden drücken gern ein Auge zu – bei ihm sogar beide. Beim Lächeln glänzen seine Goldzähne in der Sonne.
Charles Robert Jenkins war der letzte der vier Soldaten, der nach Nordkorea überlief, und der einzige, der das Land auch wieder verließ. Im Jahre 2004 bot ihm die nordkoreanische Regierung die Möglichkeit eines Treffens mit seiner Frau, die zwei Jahre zuvor in ihre Heimat Japan zurückgekehrt war. Von dort war sie einst entführt worden, um nordkoreanische Spione in japanischer Sprache zu unterrichten. Aber Jenkins und die beiden Töchter kehrten nicht wieder nach Nordkorea zurück; er stellte sich der US-Armee in Japan (Anklage auf Desertation), und äußerte sich öffentlich über seinen Aufenthalt in Nordkorea. Sein Bericht ist voll mit Beschuldigungen, z.B. soll Dresnok ihn im Auftrag des Regimes geschlagen haben, wenn er sich nicht ideologiekonform verhalten bzw. geäußert hätte. Außerdem sollte hinter der auffälligen Wahl der Ehefrauen der Amerikaner System stecken: Alle vier waren bzw. sind mit ausländischen Frauen verheiratet, Dresnok etwa mit der Tochter einer Nordkoreanerin und eines togolesischen Diplomaten. Laut Jenkins sollten die ausländisch aussehenden Kinder dieser Ehen zu idealen Spionen herangezogen werden. Dresnok bestreitet die Anschuldigungen, die ihn überhaupt nur durch das Filmteam erreichen, vor laufender Kamera. Sein ältester Sohn studiert Englisch und möchte einmal Diplomat werden; der zweitälteste ist beim nordkoreanischen Militär und patrouilliert die entmilitarisierte Zone, im Norden versteht sich. Der Gedanke liegt nahe, dass es für Jenkins mit einer solchen Aussage leichter war, sich seiner Anklage zu stellen, als wenn seine Version der Ereignisse sich mit der von Dresnok gedeckt hätte. Andererseits erscheint Dresnok in der Tat nicht gerade regime-kritisch (wie das in Nordkorea wohl auch sein muss).
Dennoch hat Dresnok die Zuschauer auf seiner Seite; er ist offen, humorvoll, emotional. Er spricht über heikle Dinge, wie seine Abneigung gegen Jenkins und seine schwere Vergangenheit, warum er aus der amerikanischen Armee geflohen ist usw. Andererseits kommt die andere Seite im Film zur Sprache, Dresnoks Schwärmereien bleiben nicht ganz unwidersprochen stehen. Crossing the Line ist so ein äußerst spannendes Dokument geworden: Er beantwortet zwar viele Fragen, lässt aber auch einige offen – ein geschickter Weg, die nordkoreanische Zensur zu umgehen. Vor allem zeigt er Schicksale, die davon bestimmt sind, dass sie zwischen die Fronten zweier verfeindeter Mächte mit gegensätzlichen ideologischen Systemen geraten sind; ihnen bleibt nichts anderes übrig als sich anzupassen.
Campaign (Kazuhiro Soda, Forum)
Originaltitel: Senkyo, Japan / USA 2007, Kamera, Schnitt: Kazuhiro Soda, mit Kazuhiko Yamauchi, Junichiro Koizumi, Sayuri Yamauchi, Yoriko Kawaguchi, Nobuteru Ishihara u.a., 120 Min. Kazuhiro Soda verfolgte mit seiner Kamera den Wahlkampf eines jungen Tokyoter Unternehmers (er handelt mit Briefmarken und Münzen), der bei der letzten Wahl für die Liberale Partei Jiminto von Premierminister Koizumi für den Stadtrat von Kawasaki kandidierte. Er beobachtet Kazuhiko Yamauchi in den letzten Wochen und Tagen vor der Wahl, wie er sich mit Megaphon vor Bahnhöfen stationiert, Hände schüttelt, Flyer verteilt oder mit dem ebenfalls Megaphon-bestückten Minivan die Wohnviertel der Stadt beschallt. Um Inhalte geht es in diesem Wahlkampf nicht – außer man zwingt Yamauchi zu einem Versprechen, wie die Frau, die von ihm verlangt, die häufig überschwemmte Kanalisation vor ihrem Laden in Ordnung zu bringen. Sodas Kamera ist dagegen so nah am Geschehen, dass man auch Yamauchis Gespräche mit der eigenen Partei mitbekommt, die nicht gerade mit Ratschlägen bzw. Anordnungen geizt. So erfahren wir z.B., dass die Aufmerksamkeitsspanne eines Passanten nur drei Sekunden beträgt, und Yamauchi deshalb alle drei Sekunden seinen Namen – am besten in Verbindung mit dem Wort "Reformen" – nennen sollte. Oder man sieht wie Yamauchi seine Frau zurechtweist, die sich mutig weigert, sich von den Parteiälteren vorschreiben zu lassen, ob sie arbeitet oder nicht: Sie brauche sich ja nicht an die Ratschläge zu halten (er will auch nicht, dass sie ihren Job aufgibt), aber sie solle doch um Himmels willen nicht widersprechen. Am Abend des (knappen) Wahlsiegs kommt Yamauchi einige Minuten zu spät in die Zentrale; einer der Älteren scherzt: Im Samuraizeitalter hätte er dafür Harakiri begehen müssen.
Die Hierarchie ist klar: Yamauchi als Politikneuling, der noch keine Wahl gewonnen hat, steht ganz unten auf der Leiter, er hat sich von jedem alles sagen zu lassen. Und dafür hat er gefälligst dankbar zu sein. In seiner Rede am Ende des Films wird klar, dass er sich allein durch die Teilnahme an der Wahl so tief in ein Netz aus Verpflichtungen verstrickt hat, dass ihm ein unabhängiges Handeln oder Denken in Zukunft praktisch unmöglich sein wird. So funktioniert japanische Demokratie, ganz von unten aufgerollt. Ganz oben auf der Leiter steht Junichiro Koizumi, der Politikerstar Japans mit dem unverwechselbaren Haarschnitt. Er hat einen kurzen Gastauftritt im Film, da auch er den Wahlkampf seiner Partei in Kawasaki unterstützt. Für Yamauchi blieb dabei leider kein Platz mehr auf dem Dach des Busses, von dem aus Koizumi spricht; aber er darf ihm im Vorbeigehen kurz und ehrfürchtig die Hand schütteln. Diese Ehre bleibt ihm für den Rest seines Lebens erhalten.
Was Yamauchi aber die Politik einbringt bleibt fraglich. Bezeichnend ist die Szene in der U-Bahn, als sich Yamauchi mit einer jungen Postangestellten unterhält; einzig bei diesem Thema kommt der passionierte Briefmarkensammler so richtig in Fahrt und lässt seine professionelle Komödie für einen kurzen Moment hinter sich.
Mona Lisa (Li Ying, Forum)
Originaltitel: Meng Na Li Sha, China, Japan 2007, Buch: Li Ying, Kamera: Liu Yonghong, Schnitt: Li Ying, mit Xiu Xiu, A Qiong, 110 Min. Regisseur Li Ying hat Erfahrung mit Dokumentarfilmen, er war zuletzt 2003 mit
Aji – Dream Cuisine im Forum zu Gast.
Mona Lisa dagegen ist ein Spielfilm, allerdings spielen die Akteure sich selbst und ihre eigene Geschichte. Was also ist Realität, was Fiktion? Fakt ist, dass die chinesische Ein-Kind-Politik dazu geführt hat, dass viele kleine Mädchen von den Eltern ausgesetzt wurden, die lieber einen Sohn wollten. Es fällt daher schwer, in der Hauptfrage dieses Films zu einem Schluss zu kommen: Hat Xiu Xius Mutter die angenommene Tochter damals von den liebenden Eltern entführt oder hat sie ein allein gelassenes Kind vor der Verwahrlosung bewahrt? Xiu Xius drängendste Frage an die Mutter ist denn auch, warum sie dachte, Xiu Xiu wäre ausgesetzt worden; die Antwort der Mutter (dass sie allein und schmutzig den ganzen Vormittag auf dem Markt gespielt hat) genügt ihr nicht.
Um dieses tragische Familienschicksal herum – sicher kein Einzelfall in China – entwickelt sich die Geschichte des Films. Die Eltern sitzen inzwischen für ihr Verbrechen im Gefängnis. Als sich herausstellt, dass die Großmutter an Krebs erkrankt ist und nur noch kurze Zeit zu leben hat, bemühen sich Xiu Xiu und ihre Schwester A Qiong (die leibliche Tochter) darum, den letzten Wunsch der Großmutter zu erfüllen: Sie versuchen, die Eltern für einen Besuch am Totenbett aus dem Gefängnis zu bekommen. Xiu Xiu wehrt sich zunächst gegen diese Aufgabe – schließlich hat sie die Eltern angezeigt – doch dann macht sie sich auf den Weg ins Gefängnis, um die kurzfristige Entlassung der Mutter zu erreichen. Die Zugfahrt aus dem weit entfernten Gefängnis erlaubt den beiden ihre Aussprache, in der jedoch letztlich nichts geklärt wird. Der Besuch am Totenbett fällt den Umständen entsprechend tränenreich aus, zuerst steht die Mutter noch mit Handschellen da; die gesamte Verwandtschaft hat sich versammelt und hört gar nicht mehr auf, laut zu weinen und zu schluchzen.
Wie bei den meisten Filmen, die versuchen, durch den Anschein des Dokumentarischen eine größere emotionale Beteiligung der Zuschauer zu erreichen, geht die Rechnung nicht ganz auf. Nachdem man spätestens im Nachspann darüber aufgeklärt wurde, dass hier die echten Personen sich selbst spielen, fängt man an sich immer weiter zu fragen, was denn dann wohl echt war, und was nachinszeniert. Die Geschichte, so wie sie ist, als Fiktion aufgefasst, lebt von ihrer Dringlichkeit (die unter Umständen auch einige Längen überspielen kann): Alles muss schnell geschehen, der Großmutter bleibt nicht mehr viel Zeit, die Mutter muss bald wieder zurück ins Gefängnis. Sieht man sie als Nacherzählung verliert sie diese Dringlichkeit unweigerlich; die Großmutter liegt dann ja wohl nicht tatsächlich im Sterben; oder doch? All die Hinterfragung (z. B. auch ob die ganzen Leute, die auf einmal zu Besuch sind, tatsächlich alle zur Familie gehören, oder nicht vielmehr von der Kamera angelockt wurden …) führt letztendlich dazu, dass sich Dokument und Fiktion gegenseitig im Wege stehen; man weiß nicht mehr, was man glauben soll. Interessant ist dagegen vor allem der Einblick in das ärmliche chinesische Leben in der Provinz, etwa die Zustände im Krankenhaus, die Wohnverhältnisse, die Formalitäten der Gefängnisentlassung oder die vorhandene (Armreifen) oder fehlende (Hosenboden bzw. Windel) Bekleidung von Xiu Xius Baby. Dieser Aspekt des Films, sein Hintergrund, beansprucht sicherlich den authentischsten Dokumentarcharakter.
Invisibles (Panorama Dokumente)
Spanischer Titel: Los Invisibles, Spanien 2007, Schnitt: Mathilde Bonnefoy, Production Design: Luis Fernández Lago, Produktion: Javier Bardem, 95 Min.[Rezension von Thomas Vorwerk]
Produziert vom Schauspieler Javier Bardem (Goyas Geister, Das Meer in mir, Montags in der Sonne) besteht dieser Film aus fünf Episoden, die sich den Schicksalen von "unsichtbaren" Opfern. Es geht um vergessene Konflikte, um jene, die wir nicht wahrnehmen und jene, die diese Menschen nicht aus den Augen verloren haben. Anders formuliert, war der Beweggrund dieses Films die Gründung der spanischen Abteilung von "Médecins sans frontìeres" vor zwanzig Jahren, und auch, wenn es im Film nie an die große Glocke gehängt wird, haben die fünf Filmemacher jeweils diese "Ärzte ohne Grenzen" an einem oder mehreren ihrer Einsatzorte besucht, und daraus entstanden die sehr unterschiedlichen Dokumentationen. Gemein haben alle Episoden übrigens die Einblendung der jeweiligen Orte zu Beginn, die Songs, die die Missstände anprangern und entweder eingespielt werden oder auch mal direkt von den Protagonisten gesungen werden, und die Schrifttafeln am Schluß jeder Episode, die nochmal die Situationen und etwaige Zukunftsperspektiven zusammenfassen.
Cartas a Nora (Isabel Coixet)
Int. Titel: Letters to Nora, Buch: Isabel Coixet, Kamera: Emili Guirao, Schnitt: Arantxa Roca Eine Dokumentation mit dem Titel "Based on a true story" beginnen zu lassen, wirkt schon mal widersinnig oder suspekt, und inwiefern die Bilder dieses Films (die übrigens stark an Coixets Episode in Paris je t'aime erinnern) zumindest halbinszeniert sind, bleibt etwas offen. Doch die eigentliche Geschichte des Films offenbart sich auch nicht über die Bilder (Anreise zur Arbeit, Altenpflege, Weinen in Telefonzelle, Kinderspielplatz), sondern über die im Off verlesenen Briefe, deren Problematik sich so offensichtlich schleppend zeigt, daß es sich zumindest bei diesen Briefen um wahre (oder nur geringfügig editierte) Dokumente zu handeln scheint, denn von einer herkömmlichen Dramaturgie sind diese Texte zunächst weit entfernt. Man bedankt sich bei Nora für Geld, das die Briefeschreiberin für Schulbücher brauchte, die kleine Sarah wird erwähnt, wenn ihr Name ausgesprochen wird, schauen die Geschwister zum Himmel, Walter ist im Krankenhaus. Im nächsten Brief ist Walter, der Mann der Autorin Sara bereits drei Wochen tot, man bekommt heraus, daß Sara in Bolivien wohnt, ihre Schwester Nora in Spanien, und das Walter an einer "Schlafkrankheit" starb, die in Lateinamerika bereits 18 Mio. Opfer gefordert hat, was aber für die (zumeist westlichen) Pharmaziekonzerne keinen interessanten Markt darstellt, weshalb dagegen auch nichts entwickelt wird, während sich momentan aber ca. 1800 Diätprodukte in Entwicklung befinden, denn wer zu fett ist, hat wahrscheinlich auch Geld für Diätprodukte, während jemand, der zu arm ist, seinen Kindern Schulbüchern zu kaufen, wahrscheinlich auch nicht soviel für ein lebensrettendes Medikament zahlen kann oder will, wie anderswo für allenfalls kosmetische Produkte.
Invisible Crimes (Wim Wenders)
Span. Titel: Crímenes invisibles, Buch: Wim Wenders, Kamera: Alberto Venzago, Schnitt: Mathilde Bonnefoy Wim Wenders' Episode setzt das Sinnbild der "Unsichtbaren" am konsequentesten um, denn während man aus dem Off eine Frauenstimme hört, sieht man zunächst nur einen leeren Stuhl mit einer Schultafel dahinter. Erst nach und nach wird die Sprecherin sichtbar, und diese Sichtbarkeit / Unsichtbarkeit setzt Wenders bei mehreren Frauen, die von ihren Erlebnissen berichten, als sie während des Bürgerkriegs im Kongo oft tagelang von Soldaten oder Rebellen vergewaltigt wurden, immer wieder um. Zwischen den einzelnen Dörfern liegen zumeist mehrere Kilometer, selbst in einer Dreiergruppe sind Frauen noch stark gefährdet, und die Opfer von Vergewaltigungen werden von ihren Männern später oft verlassen. Zwischen den einzelnen Berichten der Opfer zeigt Wenders immer wieder Dorfstrassen, auf denen oft einige Menschen unterwegs sind, wobei die Frauen zum größten Teil wie Geistererscheinungen nur halbbelichtet sind. Wenn eine unsichtbare Mutter ihr Kind trägt, wirkt das hier nicht wie ein Spezialeffekt, sondern wie eine kongeniale Umsetzung des Problems.
Buenas noches, Ouma (Fernando León de Aranoa)
Int. Titel: Good Night, Ouma, Buch: Fernando León de Aranoa, Kamera: Jordi Abusada, Schnitt: Yago Muñiz In Nord-Uganda gibt es ähnliche Probleme wie im Kongo, nur sind es hier die Kinder, die sich nachts nicht auf die Strasse trauen und deshalb in Hilfsstätten wie "Noah's Ark" nachts Unterschlupf suchen. Wie man es vor kurzem im US-Spielfilm
Blood Diamond sah, besteht die Gefahr darin, daß die Kinder entführt werden und zu Kindersoldaten abgerichtet werden, mit denen die LRA (Lord's Resistance Army) gegen die Regierung kämpft. Die filmische Umsetzung ist unspektakulär, die Kinder selbst werden befragt, und man sieht einen Theaterworkshop für ehemalige Kindersoldaten, die wieder integriert werden sollen.
Los sueños de Bianca (Mariano Barroso)
Int. Titel: Biancas Dream, Buch: Mariano Barroso, Kamera: David Omedes, Schnitt: Yago Muñiz Wirkte schon die dritte Episode wie ein Rehash der zweiten, folgt nun eine zweite Betrachtung des Medizinproblems, daß sich angesichts der Ausgangsposition der Filmemacher natürlich aufdrängt. Auch in Zentralafrika gibt es die Schlafkrankheit (jedes Jahr über 50.000 Opfer), übertragen von der Tsetse-Fliege, doch das bestehende Gegenmittel Eflornithin ist als Krankheitsbekämpfung mal wieder nicht profitabel. Als sich herausstellte, daß das Mittel auch den Haarwuchs reduziert, wurde es wieder interessant für die Pharmakonzerne, denn nun kann man es reichen Frauen, die ein Problem mit einem Damenbart oder anderer ungewünschter Behaarung haben, feilbieten.
Der Film zeigt ein inszeniertes Gespräch zweier Reporter mit einem für diverse reale Personen stehenden Manager einer pharmazeutischen Firma, der sich geduldig die Probleme anhört, dann aber immer wieder erwähnt, daß es nicht die Aufgabe seines Konzerns ist, sich um politische Missstände zu kümmern oder ohne Auftrag Medikamente zu entwickeln, für die niemand etwas bezahlen will. Eflornithin wirkt zwar, doch die Behandlung damit ist noch umständlich und nur in Krankenhäusern umsetzbar. Die Kranken können aber könne 20 bis manchmal 50 Kilometer zum nächsten Krankenhaus laufen, bräuchten dann noch Verwandte zur Begleitung und eigenes Essen, das sie mitbringen müssten. Dazu der Pharma-Mokel: "Wir sind eine pharmazeutische Firma und kein Reisebüro".
Durch den Kontext und dadurch, daß die inszenierten Szenen in Schwarzweiß gehalten sind, ist dem Zuschauer der Inszenierungseffekt durchaus bewußt, die Realität zeigt sich dann wieder in Farbbildern, die teilweise auch sehr wirksam in die Schwarzweißbilder eingefügt sind. Man sieht dann beispielsweise rechts den wenig kooperativen Manager in Schwarzweiß, und links einige der Opfer.
La voz de piedras (Javier Corcuera)
Int. Titel: The Voice of the Stones, Buch: Javier Corcuera, Kamera: Jordi Abusada, Schnitt: Martin Eller Die letzte Episode begibt sich nach Kolumbien, wo Zivilisten ihr Land und Leben gegen allenfalls halblegale Landenteignungstruppen verteidigen müssen, wo immer wieder junge Leute "verschwunden werden", und der Protest mithilfe farbig bemalter Steine umgesetzt wird. Sowohl vom Thema als auch von der filmischen Umsetzung ist dies die schwächste Episode, und man fragt sich, warum die Filmemacher die drei international bekannten Regisseure gleich zu Beginn verschlissen haben, die filmisch interessanten Episoden (2 + 4) wie
Polka Dots über den Film verteilt wurden, und das Ergebnis klar war, daß insbesondere in der von mir besuchten Pressevorführung ein Großteil der Zuschauer den Sahl bereits nach den Beiträgen der "wichtigen" Regisseure und ausreichenden Darstellungen von Vergewaltigungen verlassen haben. Die letzte Episode bringt zwar mit einer Traumerzählung und den von Kindern bunt bemalten Steinen auch ein etwas optimistischeres Ende, doch aus meiner Sicht hat man bei der Dramaturgie schlichtweg versagt und hätte lieber Coixet, Wenders und de Aranoa über den Film verteilen sollen und das Ganze mit einer der zwei besonders gelungenen Episoden (Wenders bietet sich natürlich an) enden lassen. Aber gerade als Jubiläumsbeitrag war der Optimismus gegen Ende wohl wichtige als beim Zuschauer eindringlich die noch bestehenden Missstände einzubleuen.
Scott Walker – 30 Century Man
(Stephen Kijak, Panorama Dokumente)
USA 2006, Kamera: Grant Gee, Schnitt: Grant Gee, Mat Whitecross, mit Scott Walker, David Bowie, Radiohead, Alison Goldfrapp, Marc Almond, Jarvis Cocker, Sting, Brian Eno, Gavin Friday, Damon Albarn, Johnny Marr, Ute Lemper, Rob Ellis, JD Beauvallet, 95 Min. Wer kennt Scott Walker nicht? Bitte melden! Erstaunlich wenige Hände gingen hoch in der Vorführung im CineStar 7. Es scheint sich hier um eine Veranstaltung für Eingeweihte zu handeln, bei der die Zuschauer – stolz, Anteil am Leben bzw. Werk eines so berühmten wie mysteriösen Menschen nehmen zu dürfen – voll und ganz in die ehrfurchtsvolle Lobeshymne miteinstimmen. Der Film scheint in der Tat für Fans gemacht; nur sie können sich eventuell nicht durch die grässlichen Computeranimationen (ja, wie im Windows Media Player) abschrecken lassen, die hier zu Walkers Musik dargeboten werden, teilweise mit eingeblendeten Songtexten wie beim Karaoke. Erstaunlich ist auch die Riege prominenter Fans, die wohl selbst den wenigen Zuschauern, die Scott Walker bisher nicht kannten, klarmachen, um was für einen außergewöhnlichen Musiker es sich hierbei handelt. Anhand der Musik dieser "Fans" kann man auch gut nachvollziehen, in welcher Hinsicht Walker Musiker wie Roy Orbison, Lou Reed, Marc Almond, Goldfrapp oder Radiohead beeinflußt hat. Aber wird auch nur eines seiner Stücke komplett ausgespielt? Ich glaube nicht.
Dennoch bekommt man einen guten Einblick in Walkers Schaffen (das vor allem durch seine tiefe, volle Baritonstimme besticht), Filmfreunde erfahren nebenbei sowohl etwas über seine Begeisterung für europäische Filmemacher wie Fassbinder, Bergman oder Chabrol, die dann beim Soundtrack zu Leos Carax'
Pola X auch noch eine musikalische Entsprechung finden. Deutlich wird auch der Wandel in Walkers Musik: In den 60ern erlangte er noch Weltruhm mit den Walker Brothers ("The sun ain’t gonna shine any more", "Make it easy on yourself") und seinen ersten Solo-Alben, dann wurde er mit jeder Platte unkonventioneller, dunkler und melancholischer und verwirrt sein Publikum beispielsweise mit seiner Jacques-Brel-Phase oder klanglichen Experimenten mit Eselsschreien oder dem Einschlagen auf Tierfleisch. Walker sagt an einer Stelle, er versuche bewusst, die Melodie eines Songs zu verstecken. Als gewagte Mischung aus abstrakter, atonaler Musik und Pop kann "The Drift" von 2006 jedenfalls schon nicht mehr durchgehen. Man bekommt außerdem einen Eindruck von Walkers Arbeitsweise und einige spannende Anekdoten zu hören. Aber wer Scott Walker wirklich kennenlernen will, sollte sich eine Platte kaufen und sie in aller Ruhe von vorne bis hinten durchhören.
Scott Walker – 30 Century Man kann nicht mehr leisten, als es die Musik bereits tut; außer endlich mal ausführlich Scott Walkers Gesicht zu zeigen, ganz ohne verschleiernde Baseballkappe und "garboesque leaning towards seclusion". Das Mysterium Walker wird dadurch nicht aufgelöst – und das kann und sollte es auch gar nicht.