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April 2007
 


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Cinemania 46:
Marktflüsterer
[Berlinale 2007, Teil VIII]

[Rezension zu Hei yan quan von Kathi Hetzinger, Rest von Thomas Vorwerk]

Berlinale 2007

Der Zutritt zu den Vorführungen des European Film Market ist dem “normalen” Berlinale-Besucher nicht möglich, in vielen Fällen weiß dieser nicht einmal davon, daß in den Studio-Kinos des CinemaxX, einigen Sälen des CineStars und diversen Screening Rooms zwischen Martin-Gropius-Bau und dffb weitaus mehr Vorführungen stattfinden als in den gesammelten Rubriken der “gewöhnlichen” Berlinale. Selbst für die ansonsten hofierten (und vom gemeinen Publikum verhassten) Presseakkreditierten sind diese Vorführungen nur unter Aufbietung einer gewissen Türklinkenputzerei (oder oscarverdächtiger Chuzpe) zugänglich. In diesem Jahr liefen hier unter anderem neue Filme von Gianni Amelio, Paul Auster, Tom Di Cillo, Christopher Guest, Ethan Hawke, Marco Kreuzpaintner, Kiyoshi Kurosawa, Andrew Lau, Nanni Moretti, Manoel de Oliveira, Frank Oz, Alain Robbe-Grillet, Susan Seidelman oder Apichatpong Weerasethakul, satt.org gelang es aber “nur”, folgende Filme zu begutachten.

Sprængfarlig bombe
(Tomas Villum Jensen,
European Film Market)

Int. Titel: Clash of Egos, Dänemark 2006, Buch: Anders Thomas Jensen, Kamera: Mads Thomsen, Schnitt: Mogens H. Christiansen, Musik: Jeppe Kaas, mit Ulrich Thomsen (Tonny Jensen), Nikolaj Lie Kaas (Claus Volter), Mille Dinesen (Pernille Jepsen), Line Kruse (Klara), Kristian Halken (Per Schack), Nicolaj Kopernikus (Jan Godtfredsen), Jakob Cedergren (Allan Henriksen), Lars Brygmann (Tim Holstein), Christian Heldbo Wienberg (Brian / Gustav), Frederikke Thomassen (Ida), Lars Ranthe (Laust Hatling), Nicolai Villum Jensen (TV-Fotograf), Tomas Villum Jensen , Uffe Holm (sich selbst), 90 Min.

Sprængfarlig bombe ist ein Film, der für die Berlinale wie geschaffen ist. Vielleicht sehen das die Verantwortlichen im Auswahlgremium aber anders, denn die Art und Weise, wie die Berlinale hier sogar zweimal zum Thema wird, könnte Zeitgenossen wie Dieter Kosslick nicht ganz behagen. “That festival sucks anyway” heißt es einmal in den Untertiteln, und gleich zu Beginn des Films sehen wir einige vielsagende Ausschnitte aus einem Film-im-Film namens Morderen (dt.: Der Mörder), der etwa so wirkt, als hätte jemand versucht im Stil von Ingmar Bergman eine schlecht geschnittene (der Jump-Cut als künstlerisches Mittel, das handwerkliche Unzurechnungsfähigkeit kaschieren soll) Telenovela zu inszenieren. Und dieser unsägliche Streifen, in den der mitunter aufbrausende (“I took my medicine”) Tonny Jensen (Ulrich Thomsen) seine Kinder einlädt, weil der aktuelle Harry-Potter-Streifen bereits ausverkauft ist, wird auch noch als “Meisterwerk” deklariert, hat er doch immerhin in Berlin den “Preis der katholischen Kirche” gewonnen. Wie hier die (insbesondere künstlerische) Filmbranche auf den Arm genommen wird, dürfte zwar ein Großteil der Berlinale-Zuschauer begeistern, ist aber aus medienpolitischer Sicht wohl eine Spur zu zynisch.

Nachdem Tonny aufgrund des Films mal wieder die Beherrschung verliert, und nun endgültig die wenigen verbliebenen Rudimente eines Sorgerechts verlieren könnte, will er Entschädigung vom Regisseur Claus Volter (Nikolaj Lie Kaas). 471 Kronen für die Tickets, Popcorn und Cola. Er taucht bei den Dreharbeiten zum nächsten Film einer geplanten Trilogie Volters auf (nach dem Liebhaber und Mörder nun Der Künstler), und klettert als Statist in das Kostüm eines Sensenmannes. Inmitten von Naziflaggen, einer Chorus Line aus Sensenmännern und einem seltsamen blutenden Wal kommt es bei den Dreharbeiten zu einem Unfall, und Tonny schlägt die großzügige Kompensation der Versicherung aus, um lieber den nächsten Film der Trilogie mitschreiben und -inszenieren zu können, und darin sogar noch eine Rolle zu bekommen. Man kann sich den Clash of Egos vorstellen, und Volter fasst es früh passend zusammen: “I’d rather go to jail”. Doch diese Wahl bleibt ihm nicht, und mit der etwas anderen Mentalität (und Logik) Tonnys wird das Drehbuch rigoros umgeschrieben: “She could win the lottery, buy a gun and kill those rapist bastards instead of bawling for two hours.”

Allein die Diskussionen zwischen Claus und Tonny sind den Kinobesuch wert. “Kennst Du Bertold Brecht?” --- “Nein.” --- “Verfremdungseffekt?” --- “Ich kenne keinen von diesen Typen.” Und der entstehende Film, bei dem die mathematische Struktur des kurzfristig zum Co-Autoren aufgestiegenen Makler-Bruder Tonnys eine ebensogroße Rolle spielt wie die tarantinoesken Action-Sequenzen und das bad editing - mal wieder als Verfremdungseffekt - ist im Endeffekt trotz aller Übertreibung gar nicht so weit entfernt von einigen auf dieser Berlinale gezeigten Filmen. Ich denke da beispielsweise an Ferien oder Fay Grim …


Hei yan quan
(Tsai Ming-liang,
European Film Market)

Int. Titel: I don't want to sleep alone, Taiwan / Frankreich / Österreich 2006, Buch: Tsai Ming-liang, Kamera: Liao Pen-jung, Tsai Ming-liang, Schnitt: Chen Sheng-chang, mit Lee Kang-sheng (Hsiao-kang), Chen Shiang-chyi (Chyi), Norman Bin Atun (Rawang), Pearlly Chua (Chefin), 115 Min.
[Rezension von Kathi Hetzinger]

Tsai Ming-liang hat einen so klaren, eindeutigen Stil wie ihn nur wenige Filmemacher haben: die unbewegten Einstellungen, die oft zwei bis drei Minuten gehalten werden, die ausdruckslosen Gesichter immer derselben zwei Hauptdarsteller, der Handlungsstrang, der ohne Dialoge auskommen muss und meist mehr Fragen aufwirft als beantwortet, die dunkelblau/grau/grünen Farbschattierungen, das fast vollständige Fehlen von Musik. Minimalismus im Dienste eines vollkommenen Entfremdungsgefühls. (Es wirkt fast trotzig, wenn ab und zu eben doch eine intensive, verzweifelte Zärtlichkeit in den Bildern aufflackert.) Nach seinem provokanten Musical-Abstecher (dem "Melonenporno" The Wayward Cloud, Berlinale 2005) verlässt sich Tsai in I don’t want to sleep alone wieder ganz auf seine ureigene Poetik und zumindest eines gelingt ihm dadurch auf Anhieb: er bleibt auch hier unverkennbar.

Die beiden Hauptdarsteller (einzig die Stabangaben weisen darauf hin, dass es wieder dieselben Figuren sind …) befinden sich diesmal nicht im heimischen Taipeh, sondern im schwülen Kuala Lumpur, Malaysia – der eigentlichen Heimat des Regisseurs. Ein neuer Aspekt der Fremdheit kommt dadurch ins Spiel, die für Tsai so typische Sprachlosigkeit hat plötzlich nicht mehr nur einen übertragenen Sinn. Hsiao-kang, der bös zusammengeschlagene Taiwanese, und Rawang, der selbstlose Malaysier, der ihn gesund pflegt, können nicht anders als sich durch ihre Körper zu verständigen: Alle Zuneigung, die Rawang für Hsiao-kang empfindet, merkt man seinen unbeholfenen, aber liebevollen Bewegungen an, mit denen er Hsiao-kang stützt, wäscht, füttert oder eine Plastiktüte mit Eis auf seiner Stirn befestigt (mithilfe einer weiteren Plastiktüte). In der parallel erzählten Geschichte der Taiwanesin Chyi tritt die fehlende Kommunikation sogar noch deutlicher hervor, denn sie pflegt einen jungen Mann, der im Wachkoma liegt. Ihm fehlt jede Möglichkeit (jedes Bedürfnis?), sich mitzuteilen – ebenso fehlen der Pflegerin Respekt und Zuneigung. Es ist als wolle Tsai die Isolation seiner Figuren so weit konkretisieren, dass sie universell begreiflich und erklärbar wird. Und er etabliert dabei die grundsätzliche Dualität von Geben und Nehmen. Denn was einen Menschen liebenswert macht, ist hier seine Fähigkeit auf andere Menschen zu reagieren, so minimal das Verständnis dabei auch ist. Reines Mitleid wirkt dagegen nur in beschränktem Maße.

Noch auf einer anderen Ebene nimmt der Mangel an menschlichem Miteinander für Tsai eine existentielle Dimension an. Anstatt durch Wasserknappheit (wie in The Wayward Cloud) wird er hier jedoch durch den Qualm symbolisiert, den die Waldbrände in Indonesien über ganz Kuala Lumpur verteilen. Liebe hat man so nötig wie die Luft zum atmen; was tun wenn sie knapp wird? Das Liebesspiel von Chyi und Hsiao-kang (für das dieser seinen aufopferungsvollen Freund Rawang verrät) wird jedenfalls durch Atemnot und Hustenanfälle verhindert. Als Strafe für seinen Verrat droht Hsiao-kang die ultimative Durchtrennung seiner Luftzufuhr. Doch I don’t want to sleep alone schlägt insgesamt einen hoffnungsvolleren Ton an als Tsais frühere Filme. Trotz aller Verständnisschwierigkeiten und Sprachbarrieren erlaubt Tsai seinen drei Protagonisten eine Form des Austauschs, eine leise, vorsichtige Annäherung – schlicht und einfach deshalb, weil alle drei lebendig sind. Eines der schönsten Symbole, in einem an Symbolen nicht gerade armen Film, ist die letzte Einstellung: Alle drei schlafen friedlich nebeneinander auf der Matratze, die langsam von oben ins Bild treibt: auf dem nacht-schwarzen Wasser im Keller einer Bauruine aus Rohbeton. Die absolute Stille wird nur von einer weiblichen Stimme durchbrochen, die ein melancholisches taiwanesisches Lied anstimmt.

Tsai gelingt es nicht nur, seinem Stil treu zu bleiben; es gelingt ihm einmal aufs Neue, ihn durch den Inhalt zu rechtfertigen, ihn mit neuen Bedeutungen zu versehen und durch ihn Poesie entstehen zu lassen.


Fallen
(Barbara Albert,
European Film Market)

Int. Titel: Falling, Österreich 2006, Buch: Barbara Albert, Kamera: Bernhard Keller, Schnitt: Karina Ressler, Sound: Dietmar Zuson, mit Nina Proll (Nina), Birgit Minichmair (Brigitte), Ursula Strauss (Alex), Kathrin Resetarits (Carmen), Gabriela Hegedüs (Nicole), Georg Friedrich, 88 Min.

Barbara Albert ist nicht nur für den österreichischen, sondern für den europäischen Film eine derart treibende kreative Kraft, daß es schon ein wenig verwundert, daß ihr neuer Film, noch dazu mit Nina Proll, Birgit Minichmair und Kathrin Resetarits prominent besetzt, auf dem European Film Market hausieren gehen muss und immer noch keinen deutschen Verleih hat. Fallen ist deutschsprachiges Autorenkino par excellence, und wenn man bedenkt, wie Frau Albert den letztjährigen Wettbewerb der Berlinale mit Slumming und Grbavica (jeweils Co-Buch) mitbestimmt hat, ist hier mal wieder ein erstklassiger (und sozusagen überdurchschnittlicher) Wettbewerbsbeitrag verloren gegangen.

Ähnlich wie in Böse Zellen erzählt auch Fallen facettenartig von Einzelschicksalen (diesmal von fünf Frauen), die nahezu aristotelisch über den Ort und die Zeit (ziemlich genau 24 Stunden) verbunden sind. Nach etwa anderthalb Jahrzehnten treffen sich die ehemaligen Klassenkameradinnen, nun anfang 30, bei der Beerdigung des ehemaligen Lehrers wieder. Nach und nach, ohne ein dramaturgisches Zwangskorsett, erfährt man mehr über die drei Frauen. Eine ist jetzt Lehrerin an der selben Schule, und hatte bis vor kurzem was mit dem verstorbenen Lehrer (eine andere bereits zu Schulzeiten). Eine ist nach Deutschland gegangen und dort als Schauspielerin berühmt geworden. Zwei wohnen in Wien, eine davon arbeitet beim Arbeitsamt, die andere ist ohne Arbeit und schwanger. Und die letzte hat ihre 12jährige Tochter Daphne mitgebracht, und erst gegen Ende des Films erfährt man, daß sie nur einen Tag Freigang von ihrer Haftstrafe, extra für diese Beerdigung, bekommen hat. Doch wie bei einem ganz normalen Klassentreffen, sind die Karrieren und Familienbildungserfolge eigentlich zweitklassig, interessanter ist, wie sich nach unzähligen Jahren die ehemaligen Freundschaftskonstellationen wieder zusammenfügen. Barbara Albert macht nicht den Fehler, zuviel zu erklären, sie lässt lieber vieles angedeutet. Rein filmisch arbeitet sie mit rigiden Strukturen, die sie aber selbst wieder aufbricht. So gibt es zwischendurch mal kleine schwarz-weiß-Einstellungen von der Natur oder man kann den Film in fünf Akte aufbrechen, die jeweils über einen fotografischen Schnappschuß (eine Art flash forward) und ein Lied (vielfach Folksongs wie Danny Boy oder Gospel we We shall overcome) eingeleitet werden. Dem außergewöhnlichen Darstellerensemble ist es zu verdanken, daß der Film trotz all seiner Fragmente niemals auseinaderzubrechen droht, ganz im Gegenteil, trotz seiner eher zufällig erscheinenden Drehbuchentwicklung (relativ vergnügungssüchtig trifft man sich nacheinander auf einer Weinverkostung, der denkwürdigen Hochzeit von Norbert und Sandra, und in der Disco “Brooklyn” wieder) wirkt der Film schon durch die dramaturgische Klammer, die die Frauen zusammen- und wieder auseinanderführt, wie aus einem Guss. Und es bleibt zu hoffen, daß irgendein Verleih diesem Film eine Chance gibt. Verdient hat er sie allemal!


Hana yori mo naho
(Hirokazu Kore-Eda,
European Film Market)

Int. Titel: Hana, Japan 2006, Buch, Schnitt: Hirokazu Kore-Eda, Kamera: Yutaka Yamasaki, Kostüme: Kazuko Kurosawa, mit Junichi Okada (Aoki “Soza” Souzaemon), Rie Miyazawa (Osae, Widow), Tadanobu Asano (Jubei Kanazawa), Arata Furuta (Sadashiro), Teruyuki Kagawa (Jirozaemon Hirano), Susumu Terajima (Kichiemon Terasaka), Seiji Chihara (Tomekichi), Ryuhei Ueshima (Otokichi), Yuichi Kimura (Magosaburo), Tomoko Tabata (Onobu), Ryo Kase (Sodekichi), Yui Natsukawa (Oryo), Yoshio Harada (Junai Onodera), Jun Kunimura (Isekan, Landlord) Katsuo Nakamura (Shigehachi), Renji Ishibashi (Shozaburo Aoki), Shohei Tanaka (Shinnosuke, Osae's son), 127 Min

Wenn Hirokazu Kore-Eda, der Regisseur von Filmen wie After Life, Nobody Knows oder Maboroshi, sich dazu entschließt, erstmals nach guter japanischer Tradition einen Kostümfilm zu drehen, ein period piece, einen Samurai-Film gar, dann erwartet den Zuschauer nicht automatisch ein Multimillionen-Dollar-Spektakel mit aufwendigen Stunts, denn nach den Ereignissen vom 11. September 2001 hat Kore-Eda erstmal keine Lust auf Rachegeschichten, und beglückt uns deshalb mit dem wohl pazifistischsten Samuraifilm, den man je gesehen hat.

Aoki Sozaemon, genannt “Soza” (dargestellt von Junichi Okada, einem Mitglied der japanischen Boygroup V6, die durch Sabus Hard Luck Hero auch internationale Bekanntheit erreichte), ist ein junger Samurai (streng genommen nennt man einen Samurai ohne Auftraggeber natürlich Ronin, aber das nur am Rande), der nach Edo kam (wir schreiben das Jahr 1702), um seinen Vater zu rächen, wofür er Jubei Kanazawa töten muss, einen Mann mit einem riesigen Geburtsmal im Gesicht. Hört sich recht einfach und ehrenhaft an (daß der Vater bei einem Go-Turnier umkam, muss man ja nicht unbedingt erwähnen), doch statt dafür die stattliche Summe von 100 Ryo zu kassieren, scheint der Feind unauffindbar, Sozas finanzielle Unterstützung aus der Heimat hält nicht ewig (auch, weil ein “hilfreicher” Nachbar ihn durch immer neue falsche Fährten geschickt ausnimmt), und schließlich gibt Soza Schreib- und Abakus-Stunden (was natürlich eine Schande ist) und vegetiert in einem Armenviertel vor sich hin.

Der einzige Lichtblick in Sozas Leben ist die schöne Witwe Osae (Rie Miyazawa aus Tony Takitani und The Twilight Samurai), deren Sohn Shinnosuke er schließlich im Schwertkampf unterrichten soll. Doch was sich bereits andeutete, als Soza beim Schließen seiner Tür arge Probleme hatte, wird bald offensichtlich: Im Schwertkampf ist er gänzlich unbegabt, sein Talent beim Weglaufen hingegen ist unbestritten, wie er beim jährlich aufgeführten Rache-Spiel beim Kirschblütenfest beweisen kann. Als er schließlich den Feind mit dem Geburtsmal ausfindig macht, ist nicht nur fraglich, ob er gegen diesen bestehen könnte (selbst blutige Amateure lassen Soza ziemlich dumm dastehen), dadurch, daß der ruhmverheißende zu erlegende “Feind” mittlerweile das Schwert beiseite gelegt hat, und als Arbeiter mit Frau und Kind (ziemlich genau im Alter von Shinnosuke) nicht wirklich als “Nemesis” herhalten kann, sondern für Soza eher familientechnisch ein Vorbild ist, werden Sozas Zweifel am Nutzen einer solchen Rache immer stärker.

Ich will gar nicht zuviel vom Ausgang dieser leisen Komödie verraten, statt ausgedehnter Schwertkämpfe geht es eher um die liebevolle Nachbarschaft in der Armensiedlung, in der selbst Fäkalien wertvoller erscheinen als kriegerische Taten. Selbst die berühmten “47 loyalen Ronin” (eine der populärsten klassischen japanischen Rache-Geschichten), die in der Gegend inkognito unterkommen, um ihren Herren zu rächen, können den pazifistischen Grundton des Films nicht umstimmen. Der Weg des Samurais führt wie jede Rachelawine letztendlich nur zu dessem Tod, und am Beispiel des Soza zeigt sich, daß Schwäche oft versteckte Stärke ist, denn nicht nur die Witwe Osae begreift, daß ein Lehrer, der in brenzlichen Situationen auch mal die Flucht ergreift, ein weitaus besserer Fang ist als ein Killer, der nur darauf wartet, abermals für seinen Rachemord zur Verantwortung gezogen zu werden. Ein Film, den sich mal einige blutrünstige Politiker anschauen sollten …


Koorogi (Shinji Aoyama,
European Film Market)

Int. Titel: Crickets, Japan 2006, Buch: Ryo Iwamatsu, Story: Motohiro Hatanaka, Adaption: Shinji Aoyama, Kamera: Masaki Tamura, Schnitt: Yuji Ohshige, Musik: Hiroyuki Nagashima, mit Kyoka Suzuki (Kaoru), Tsutomu Yamazaki (blinder Mann), Masanobi Ando, Ayumi Ito, 102 Min.

Regisseur Shinji Aoyama hatte mal Anfang des Jahrtausends einen deutschen Kinostart mit Eureka (2000), einem größtenteils schwarzweißen Film mit Überlänge, der sich auf eigentümliche Art mit einer Geiselnahme und den Spätfolgen beschäftigte. Seitdem hat er fast jedes Jahr einen neuen Film gedreht (am bekanntesten davon Desert Moon), nur auf den deutschen Kinoleinwänden hat man davon wenig gemerkt.

Wenn er es seinen Zuschauern ähnlich schwer wie in Crickets gemacht hat, kann man dies vielleicht auch ansatzweise verstehen. Nach einer Intro, die etwas über die Portugiesen erzählt, die 1620 in Izo auftauchten, geht es lange Zeit um die seltsame Beziehung zwischen Kaoru (Kyoka Suzuki, bekannt aus Welcome Home, Mr. McDonald und Starlit High Noon), einer langsam verblühenden Schönheit, und einem viel älteren, mitunter trampelhaften alten Mann (Tsutomu Yamazaki aus Kagemusha und Tampopo), den sie pflegt - “finally a man who couldn’t live without her”. Der Blinde sieht ein bißchen aus wie der alte Robert Mitchum, isst wie ein Schwein (wozu sie lächelt), und stiehlt sich mitunter fort, um wie ein Obdachloser durch die Gegend zu stolpern und dann irgendwann wieder von ihr nach Hause gebracht zu werden. Währenddessen erkundet Kaori eine seltsame Gewerkschaftskneipe, wo sie umsonst Ginger Ale trinkt und auf einen gutaussehenden Mann aufmerksam wird. Der Blinde, der beispielsweise bemerkt, wenn sie geraucht hat, wird später mit seinem ausgeprägten Geruchssinn auch merken, wenn der Gutaussehende mal ihr Handgelenk ergriffen hat.

Die Orientierungslosigkeit teilt sich mehrfach auch über die Kameraarbeit mit, die mal holprig ist, dann wie bei einem Double Take bestimmte Details (den Gutaussehenden in der Bar) erst bei einem zweiten Schwenk wahrnimmt, oder die Wärme des Lichtes, an der sich der Blinde auf fast religiöse Art orientiert, in Prismen umsetzt.

Später verfolgt der junge Mann den plötzlich grauhaarigen Alten, der ins Wasser geht, in dem Kräne nach der Galleonsfigur eines portugiesischen Schiffes suchen, einer geflügelten Göttin. Der Blinde stirbt, ein junges Paar taucht auf (Eiko & Taichi), es gibt eine eigentümliche Beerdigungsfeier (“celebrating your freedom”) mit einem jonglierendem Clown. Über die junge Eiko, die wohl aus der Gegend stammt, stellt sich heraus, daß der Blinde “schon immer” in der Gegend umhergeirrt sein soll, und hin und wieder verschwand, aber dann wiederkehrte. Das ganze bekommt mythische Ausmaße, die Grenzen zwischen Realität und Illusion verwischen und ich schreibe mir bei einer Gesangsdarbietung auf der Beerdigung den Text mit, weil er mir zu diesem Zeitpunkt wichtig erscheint:

Life is an ocean that never ends, it’s like a journey on a boat
Nothing can be relied on except for the one whom you married
It’s the boat of love
The husband is the mast, the wife is the rudder
Against the waves and the wind they will always be together
It’s the boat of love
The boat drifts along whereever the wind of life takes them
Until the day it rests in the port
The port of heaven above, it’s the boat of love [usw.]

Am nächsten Tag erwacht Kaori, weil jemand Steine an ihr Fenster wirft, die seltsame Gruppe bricht (mit Clown) auf, beobachtet die Bergung der geflügelten Göttin, Eiko steht am Strassenrand und sagt “Ave, stella maris”, bevor sie von einem Lastwagen überfahren wird. Ihr Körper kann aber nirgends gefunden werden. Ein Jahr später ist der Blinde wieder da, und Kaori betritt eine Höhle, in der die Kopie der Galleonsfigur angebracht ist (was zuvor ein Geheimnis war). Und darin steht auch irgendwas von “Hail, star of the ocean”, wodurch sich mal wieder zeigt, daß der Lateiner manchmal einen Wissensvorsprung hat, doch geheimnisvoll bleibt die ganze Geschichte dennoch.

Doch auch ohne jedes Detail zu durchschauen, bleibt Crickets ein interessanter Film, dessen Details (Hemden, Schuhe, Steine, Grillen, Dunkelheit etc.) und die mitunter wunderschöne Kameraarbeit den Kinobesuch auf jeden Fall zu einem kleinen Ereignis machen, selbst wenn man nach dem Film etwa so orientierungslos ist wie der alte Mann.


Coming soon in Cinemania 47: Kinostarts April 2007:
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