Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




April 2005
Thomas Vorwerk
für satt.org

Nobody Knows
Japan 2004

Nobody Knows

Regie, Buch
& Schnitt:
Hirokazu Kore-Eda

Kamera:
Yutaka Yamazaki

Musik:
Gontiti

Darsteller:
Yuya Yagira (Akira), Ayu Kitaura (Kyoko), Hiei Kimura (Shigeru), Momoko Shimizu (Yuki), Hanae Kan (Saki), You (Keiko, die Mutter), Susumu Terajima (Baseball Coach), Takako Take (Mini-Markt-Besitzer)

141 Min.

Kinostart:
7. April 2005

Nobody Knows

Egal, ob in den neuen Bundesländern, in Russland oder in Paris: Junge Frauen, die ungewollt früh schwanger werden, haben ein Problem - insbesondere, wenn der Kindsvater sich aus dem Staub macht und man sich das Leben eigentlich ganz anders vorgestellt hatte. In den letzten zwei Jahren gab es drei sehr unterschiedliche Filme, die diese Problematik als Ausgangspunkt nahmen. In Isild LeBescos umstrittenen Demi-Tarif wurde eine semidokumentarische, verspielte Momentaufnahme dreier vernachlässigter Kinder gezeigt, in Lukas Moodyssons verstörendem Lilya 4-ever ging es vor allem um Mädchenhandel und in Alrun Goettes Dokumentarfilm Die Kinder sind tot wurde versucht, die Beweggründe der Mutter nachzuvollziehen. Hirokazu Kore-Edos Nobody Knows erscheint wie ein missing link zwischen diesen drei Filmen, reifer als Demi-Tarif, in der Allegorie nicht so plump wie Lilya 4-ever, und glücklicherweise nicht ganz so fatalistisch wie der Film, dessen Titel ich jetzt nicht wiederhole.

Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene

Zusammen mit ihrem 12jährigen Sohn Akira stellt sich Keiko bei ihren neuen Vermietern vor. Die Vermieterin trägt einen hässlich schielenden Mops auf dem Arm und ist erfreut darüber, daß Akira so brav und schon so groß ist. Mit kleinen Kindern hat man ja nur Ärger …

Nach der Vorstellung kommt der Möbelwagen an, und wenn man aus einem der Koffer seltsame Geräusche vernimmt, glaubt man als Zuschauer zunächst, daß hier versucht wird, ein Hund oder ein ähnliches Haustier einzuschmuggeln, doch schnell stellt sich heraus, daß in zweien der Koffer Akiras jüngste Geschwister Shigeru und Yuki versteckt sind, die zweitälteste Kyoko wird abends beim Bahnhof abgeholt und schleicht sich unter Akiras Anleitung in die Wohnung.

Nachdem Shigeru, der etwa achtjährige „kleine Schreihals“, Schuld daran war, daß die Familie aus der vorherigen Wohnung ausziehen musste, wiederholt Keiko auch für die kleinste Yuki nochmal die Regeln: 1. kein Lärm machen, 2. nicht nach draußen - auch nicht auf den Balkon! Denn wenn die eingeschmuggelten Kinder gesehen werden, ist zu befürchten, daß der nächste Umzug ansteht.

Als Zuschauer erfährt man nach und nach, daß die vier Kinder allesamt unterschiedliche Väter haben, noch nie eine Schule besucht haben, und auch die Wohnung fast nie verlassen. Dennoch haben sie sich eigentlich ganz gut entwickelt, bilden eine liebevolle Familieneinheit und lernen eifrig unter der Anleitung der berufstätigen Mutter. Akira ist für die Kommunikation mit der Außenwelt zuständig, macht die Einkäufe, Kyoko bedient die Waschmaschine auf dem Balkon (eine Ausnahmeregel).

Probleme deuten sich an, als die Mutter Akira von einem netten Mann erzählt, den sie kennengelernt hat. „Schon wieder?“ lautet Akiras lakonische Antwort, doch die Mutter versteift sich darauf, daß dieser nette Mann vielleicht die Rettung für die ganze Familie sein könnte, auch wenn sie ihm zu Beginn der Beziehung noch nicht von ihren vier Kindern erzählen mag. Fortan kommt die Mutter später als gewohnt nach Hause und riecht auch mal nach Alkohol. Als sie dann „aus beruflichen Gründen“ für längere Zeit aus dem Haus ist und erst nach über einem Monat zurückkehrt, überschüttet sie die Kinder mit Geschenke. Kyoko steht etwas abseits, Akira versucht ein Gespräch zu entwickeln: „Hast Du mit ihm schon über uns gesprochen?“ - „Ich werde es ihm bald sagen. Zufrieden?“

Als die Mutter kurz darauf wieder „verschwindet“ und nicht wie versprochen zu Weihnachten zurück ist, verwahrlosen die Kinder und ihre Wohnung immer mehr. Regisseur Kore-Eda weiß es, mit kleinen Details einen immensen Suspense aufzubauen. Ein Gasherd, der nicht immer sofort anspringt, könnte genauso verheerend sein wie Shigerus auf den Balkon gerollter Knetgummiball, der gleich neben dem Schlauch der Waschmaschine liegt -eigentlich unerreichbar, wenn man nicht eine der Regeln bricht.

Auch ein noch in Anwesenheit der Mutter entstandener Nagellackfleck ist wie ein Vorbote des langsamen Abstiegs der Kinder. Einzig Akira weiß, daß seine Mutter inzwischen unter einem neuen Familiennamen ein neues Leben begonnen hat - eine erschreckende Wahrheit, vor denen er seine Geschwister schützt. Doch ohne finanzielle Unterstützung steht er vor einem unlösbaren Problem, nach und nach werden das Telefon, der Strom und sogar das Wasser abgestellt, die Mahnungen werden von den kleinen Kindern unwissend mit Wachsmalkreiden verziert …

Die Dreharbeiten zu Nobody Knows dauerten fast ein Jahr, Kore-Eda drehte chronologisch, wodurch sich auch die reale physische Veränderung der Laiendarsteller im Film zeigt. Themen aus den eingangs erwähnten Filmen finden sich auch hier wieder, doch trotz der semidokumentarischen Erzählweise, die sich natürlich durch die Kinderdarsteller und die kleine Wohnung aufdrängt, findet Kore-Eda (ähnlich wie LeBesco und Moodysson) auch in dieser traurigen Geschichte kleine Details, die die Freude der Kindheit illustrieren. Ebenso wie die freundliche Gitarren- und Ukulelemusik, die den Film begleitet, verbreiten auch Kyokos Miniaturklavier oder Yukis geliebte „Apollo-Schokolade“ eine poetische, warme Grundstimmung, ähnlich wie in einem Klassiker des japanischen Animationsfilms, Hotaru no haka (Grave of the Fireflies, Isao Takahata, 1988). Auch wenn man in beiden Fällen die Kinder als Zuschauer am liebsten gleich adoptieren will, ist es abermals verblüffend, wie auch Nobody Knows die üblichen Fallstricke des Kitsches umgeht und dadurch ein Film wird, bei dem ich trotz fast zweieinhalbstündiger Lauflänge nicht einmal meine Cola ausgetrunken habe - Da zeigt sich wahre Qualität.