Cinemania 49:
Locarno 2007
von Eva Lia Reinegger
Statt einer Postkarte schickt uns Eva Lia Reinegger fünf kurze Filmkritiken aus dem sonnigen Locarno. Mussolini-Bettwäsche, Stream of Conciousness, ein Bauchansatz, eine deutsche Lolita und ein digitaler Schmetterling.
Vexille (Fumihiko Sori)
Japan 2007, Buch: Haruka Handa, Fumihiko Sori, Musik: Paul Oakenfold
Der Animationsfilm Vexille von Fumihiko Sori spielt in Japan im Jahr 2077. Die UN hat eine Vereinbarung getroffen, keine Roboter mehr zu produzieren, damit die Menschheit nicht untergeht. Japan ist das einzige Land, das sich nicht an die Vereinbarung halten wollte und hat sich seit zehn Jahren vom Rest der Welt abgeschottet. Die USA sendet die Spezialeinheit SWORD, um sich einen Einblick in die Tätigkeit der Firma Daiwa zu verschaffen, die Androiden baut. Schnell dezimieren japanische Abwehreinheiten die Gruppe unter Commanderin Vexille. Eine Widerstandsgruppe rettet Vexille und bringt sie in ein seltsames Dorf, in dem noch alles so zu sein scheint wie früher. Doch schnell stellt sich heraus, dass die dortigen Bewohner gar keine Menschen sind.
Seine Weltpremiere hatte der gänzlich digital produzierte Film auf dem Festival in Locarno, wo er als Eröffnungsfilm auf der Piazza Grande lief und mit dem neuen High-Definition Projektor gezeigt wurde.
Vexille ist in einem fotorealistischen Stil gehalten und setzt auf einen mitreißenden Soundtrack mit Stücken von z.B. Basement Jaxx, Asian Dub Foundation, Underworld oder The Prodigy. Die Geschichte ist allerdings kaum nachvollziehbar erzählt. So funktioniert Vexille weniger als Film, denn als Clip, in den man immer wieder einmal hineinschauen kann, um dann garantiert einen Kampf, eine Emotion oder den Auftritt des Bösen abzugreifen. Um was es dabei genau geht, scheint unwichtig. Viele japanische Animationsfilme sind so geführt. Es mag an der europäischen Erzähltradition liegen, dass diese Art der Narration irritiert. Doch tatsächlich stellt sich die Frage, warum digital produzierte Filmen Stoffe behandeln und Geschichten erzählen, die als Vehikel dienen, um ein weiteres Mal vorzuführen, was die neue Technik zu leisten in der Lage ist. Dass das beeindruckend ist, weiß inzwischen jeder. Häufig handeln diese Filme von der zunehmenden Technisierung und Computerisierung der Welt, was als äußerst bedrohlich, inhuman und apokalyptisch geschildert wird. Wenn dann am Ende der durch und durch digitale Schmetterling als Zeichen der Hoffnung durchs Bild fliegt, wirkt das doch etwas absurd.
Knocked Up (Judd Apatow)
Dt. Titel: Beim ersten Mal, USA 2006, Buch: Judd Apatow, Kamera: Eric Edwards, Schnitt: Craig Alpert, Brent White, Musik: Joe Henry, Loudon Wainwright III, mit Seth Rogen (Ben Stone), Katherine Heigl (Alison Scott), Paul Rudd (Pete), Leslie Mann (Debbie), Jason Segel (Jason), Jay Baruchel (Jay), Jonah Hill (Jonah), Martin Starr (Martin), Charlyne Yi (Jodi), Iris Apatow (Charlotte), Maude Apatow (Sadie), Joanna Kerns (Alison’s Mom), Harold Ramis (Ben's Dad), Alan Tudyk (Jack), Kristen Wiig (Jill), Bill Hader (Brent), Ken Jeong (Dr. Kuni), Craig Robinson (Doorman), Tim Bagley (Dr. Pellagrino), Loudon Wainwright III (Dr. Howard), Stephanie Mnookin (Dr. Howard’s Nurse), Adam Scott (Male Nurse), J.P. Manoux (Dr. Angelo), Mo Collins (Female Doctor), B.J. Novak (Young Doctor), Emerson Riley (Jonah’s Girlfriend), James Franco, Steve Carell, Andy Dick, Ryan Seacrest (themselves), 129 Min., Kinostart: 23. August 2007
Ben Stone (Seth Rogen) ist der klassische Hängertyp, der seinen Namen wahrlich nicht zu unrecht trägt. Er verbringt seine Zeit damit, auf jede erdenkliche Weise stoned zu werden, mit seinen Freunden auf der Couch seinen Bauchansatz zu pflegen, und eine bahnbrechende Website zu planen, die Nacktszenenanteile bekannter Schauspielerinnen aus Filmen versammelt. Ben hat also wirklich allen Grund zu Jubeln, als ihm eines Tages das Unmögliche passiert und er beim Ausgehen die attraktive TV-Journalistin Alison (Katherine Heigl) kennenlernt, die an diesem Abend einen Grund zum Feiern hat, nämlich ihren Aufstieg zur Moderatorin einer Promi-Sendung, und deshalb bereit ist, sich so weit gehen zu lassen, dass sie mit Ben ins Bett geht. Acht Wochen später muss sie feststellen, dass der One-Night-Stand zu einer Schwangerschaft geführt hat. Sie beschließt, das Baby zu behalten und Ben davon in Kenntnis zu setzen. Weil der zumindest ein herzensguter Kerl ist, verabredet Alison mit ihm, sich um des Babys willen näher kennen zu lernen. Nach und nach nehmen die beiden die Hürden ihrer unwahrscheinlichen Annäherung.
Knocked up bringt im Sinne der romantischen Komödie ein ungleiches Paar zusammen, zwei Menschen, die sich im echten Leben nicht die Mühe gemacht hätten, zusammen zu kommen. Aus der pragmatischen Beziehung zweier Singles entwickelt sich angesichts einer Verantwortung erfordernden Situation eine romantische. Zumindest für den Mann bedeutet das auch: Coming of age. Eine moderne Konstellation, die romantische Liebe als etwas beschreibt, das entsteht, wenn die Situation es erfordert und die Beteiligten es schaffen, Singles zu bleiben.
Judd Apatow hat lange für TV-Comedy-Formate geschrieben, z.B. für die Ben Stiller-Show oder Freaks and Geeks, und das merkt man: Knocked up hat Tempo und einen wunderbar direkten Witz. Glücklicherweise speist der sich nicht nur aus Drug Humor, sondern wird vor allem auch von Alison und ihrer zickigen Schwester (Leslie Mann) bedient, die sich in der Tradition von Sex and the City und Desperate Housewives über die eigenen Ansprüche ans moderne Frausein lustig machen.
Mio fratello è figlio unico (Daniele Luchetti)
Italien 2007, Buch: Daniele Luchetti, Lit. Vorlage: Antonio Pennacchi, Kamera: Claudio Collepiccolo, Schnitt: Mirco Garrone, Musik: Franco Piersanti,
mit Elio Germano (Accio Benassi), Riccardo Scamarcio (Manrico Benassi), Angela Finocchiaro (Sgra. Benassi), Diane Fleri (Francesca), Luca Zingaretti (Mario Nastri), Anna Bonaiuto (Bella), Massimo Popolizio (Benassi), Ascanio Celestini (Padre Cavalli), Alba Rohrwacher (Violetta), Vittorio Emanuele Propizio (Accio)
Schon als Kind ist Accio Benassi (Elio Germano) eine Nervensäge und bringt mit seiner eigensinnigen, sturen Art regelmäßig die ganze Familie gegen sich auf. Im Gegensatz zu ihm ist sein älterer Bruder Manrico (Riccardo Scamarcio) ein gut aussehender, liebenswerter Bursche. Die beiden unterschiedlichen Brüder haben ein schwieriges, aber dennoch liebevolles Verhältnis zueinander, das sich in Prügeleien und Balgereien äußert.
Daniele Luchetti erzählt diese Familiengeschichte nach dem Buch Il Fasciocomunista von Antonio Pennacchi vor dem Hintergrund der 60er und 70er Jahre in Italien in einem kleinen Ort im Arbeitermilieu. Während Accio Mitglied bei den Faschisten wird, ist Manrico Kommunist. Als sich Accio in Manricos Freundin Francesca (Diane Fleri) verliebt, verringert das die Distanz zwischen den Brüdern nicht gerade. Erst als Accio es ebenfalls mit den Kommunisten versucht, nähern die beiden sich einander wieder an.
Daniele Luchetti erzählt mit leichter Hand und komischem Ton einen versöhnlichen Film. Die politischen Strömungen in Italien mag er nicht ernst nehmen. Der faschistische väterliche Freund, an dem Accio sich orientiert, schläft in Mussolini-Bettwäsche, die kommunistische Versammlung besteht aus vollbärtigen Totdiskutierern. Am Ende, als Manrico sein Engagement bitter bezahlt, beschließt Accio im Sinne seiner Mutter (von der hervorragenden Schauspielerin Angela Finocchiaro gespielt) zu handeln und verhilft ihr und vielen anderen Arbeitern zu den Wohnungen, die seit Jahren fertig, aber aufgrund bürokratisch-mafiöser Strukturen nicht freigegeben werden. Der Film war in Italien ein großer Erfolg. Vielleicht auch deshalb, weil sich alle Strömungen auf ihn einigen können.
Slipstream (Anthony Hopkins)
USA 2007, Buch, Musik: Anthony Hopkins, Kamera: Dante Spinotti, Schnitt: Michael R. Miller, mit Anthony Hopkins (Felix Bonhoeffer), Stella Arroyave (Gina), Lisa Pepper (Tracy), Michael Clarke Duncan, Fionnula Flanagan, Kevin McCarthy, Christian Slater, Jeffrey Tambor, John Turturro, 96 Min.
Anthony Hopkins hat einen Film gemacht. In seiner dritten Regiearbeit Slipstream spielt Sir Anthony einen alternden Drehbuchautor, dem im Laufe des Schreibprozesses seine eigenen Ideen so um die Ohren fliegen, dass die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion unmöglich wird. Slipstream ist der Versuch, den Zuschauer mit hinein zu nehmen in den Bewusstseinsstrom, den die kreative Arbeit auslöst. Bilder flackern auf und kehren an unpassenden Stellen wieder, Objekte wechseln ihre Farbe, Figuren tauchen auf, werden ersetzt, sterben und kommen zurück, um sich zu beschweren. In diesen assoziativen Gedankenfetzen, die der Film auffährt, taucht vor allem eines immer wieder auf, das Set, an dem der Film gedreht wird, den der Drehbuchautor schreibt. Ein wahnsinniger Produzent, ein gequälter Regisseur und ein zynisches Schauspielerteam versuchen mit dem Umstand fertig zu werden, dass das Script, nach dem sie agieren, aus dem Ruder läuft.
Slipstream ist eine Film-im-Film-Geschichte und voller Anspielungen auf die Filmgeschichte und die verrückten Eitelkeiten Hollywoods. Viele Bewerber an Filmhochschulen haben vor oder während ihrer Ausbildung wie Hopkins die Idee, sich mit dem auseinander zu setzen, was sie gerade tun, nämlich mit ihrem eigenen Schaffensprozess beim Drehbuch schreiben und Filme machen und von den inneren und äußeren Hindernissen zu erzählen, die diese Arbeit mit sich bringt. Anthony Hopkins ist in der glücklichen Lage, soviel Geld zu haben, aus dieser Idee einen langen, gut gemachten Film auf die Leinwand zu bringen, der in den Kinos dieser Welt laufen und seine Zuschauer finden wird.
Slipstream wird an den Stellen interessant, wo man Hopkins als verwirrten, alten, bedürftigen Mann erleben darf und der Eindruck entsteht, dass die Gedankenfetzen, die wir sehen, etwas über das labile Gehirn eines alternden Mannes erzählt. Schade nur, dass er das nicht zum Thema gemacht hat. Hätte er sich doch entschieden persönlich zu werden und von der Angst zu vergessen zu erzählen, die das Altern begleitet, von der Angst, sich zu verlieren in den eigenen und den kollektiven Erinnerungen, den Kontakt zur Realität zu verlieren.
Früher oder später (Ulrike von Ribbeck)
Deutschland 2007, Buch: Ulrike von Ribbeck, mit Lola Klamroth (Nora), Peter Lohmeyer, Harald Schrott, Beata Lehmann, Fabian Hinrichs, Thorsten Merten, Katharina Heyer, Marie–Lou Sellem, 91 Min.
Die Regisseurin Ulrike von Ribbeck führt ihre Hauptfigur, die 14jährige Nora (Lola Klamroth), mit leichter Hand durch diesen Sommerfilm und umgibt sie mit Bonbonfarben, Lollis, Schmetterlingen und einer poppig-zarten Mädchenmusik. Nora hat Sommerferien und lebt allein unter Erwachsenen. Sie verliebt sich in Thomas, den neuen Nachbarn und alten Bekannten ihrer Eltern, einen GZSZ-mäßig gut aussehenden Vierzigjährigen. Sie versucht, ihm näher zu kommen. Thomas hat nichts dagegen und erzählt dem bewunderungswilligen jungen Mädchen von seinen abenteuerlichen Bergtouren. Als sie mit ihm und seinem kleinen Sohn an den See fahren darf und er sie zum ersten Mal berührt, bekommt ihre romantische Vorstellung einen Knick. Erst nach und nach versteht Nora, welche Spielchen um Anerkennung ihre Eltern am Laufen haben und dass ihr Vater (Peter Lohmeyer) nicht ohne Grund so empfindlich auf Thomas’ und Noras Verliebtheit reagiert. Am Ende ist sie in der Lage einen anderen Blick auf ihre Eltern und die Liebe zu werfen.
Wer Ping Pong und Sommer ‘04 gesehen hat, der wird von Früher oder Später nicht überrascht sein. Der Blick ins bürgerliche Wohnzimmer, in dem der Dialog über die Spülmaschinentauglichkeit des Geschirrs als Zeichen für die Fassade fungiert, hinter der verbotene Wünsche und gemeine Geheimnisse unausgesprochen lauern, ist hier aus der Perspektive eines jungen, romantischen Mädchens erzählt.
Der Film hat etwas von einer umgekehrt erzählten Lolita ohne die berechnende Art der Ur-Filmfigur, ein bisschen etwas von The Virgin Suicides mit seiner Feier der weiblichen Merkwürdigkeit. Er hat einen leichten, oft komischen Ton, seine rosa Grundfarbe ist ganz auf die Hauptfigur abgestimmt. Wem diese Farbe auf den Wecker fällt, hat hier verloren.