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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Februar 2008
 


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Cinemania 51:
Berlinale Teil 1

In diesem Jahr gibt es als Titel keine Wortspiele oder zwanghaft nationalverbundene Speisen und Getränke, sondern einfach nur schnelle Nummern: Berlinale Teil 1, 2, 3 usw. mit jeweils den Kritiken, die sich zum Zeitpunkt schon eingefunden haben. Einzig beim Thema Musik scheint der Zusammenschluss einiger Filme unvermeidlich, aber dazu kommen wir erst im zirka dritten oder vierten Teil ...

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Green Porno
(Isabella Rossellini, Jody Shapiro,
Forum Expanded)

Buch: Isabella Rossellini, mit Isabella Rossellini
[Rezension von Thomas Vorwerk]

Das “Forum Expanded” expandiert immer mehr. Im Keller des Filmhaus, dem “Atrium” des Arsenal, sieht es auf den ersten Blick so aus, als hätte sich nur die runde Bar vergrößert, die Lounge mit ihren kleinen Ausstellungsperlen hingegen verkleinert, doch wer sich genauer informiert, findet heraus, dass die Bar selbst auch ein Kunststück ist, das “CHEAP Gossip Studio”. Dies jedoch nur am Rande, der beste Grund, dieses Kinofoyer aufzusuchen, ist neben dem preiswerten Erwerb von Kinotickets (nur Generation ist noch billiger als Forumskarten für fdk-Mitglieder) das völlig kostenlose Kinoerlebnis Green Porno, das sich trotz einiger Vorführungen als Vorfilm von My Winnipeg auf der großen Leinwand hier im “Originalformat” präsentiert, auf Monitoren, wie sie die meisten von uns oft mit sich führen, in Form ihres Handy-Displays. Hier präsentiert Frau Rossellini ihre Affinität zu Insekten und anderem Krabbelgetier. Wo David Lynch früher mit der Kamera regelrecht in den Erdboden hineinfuhr, um das Gewusel von Käfern zu zeigen (Blue Velvet), konzentriert sich Frau Rossellini vor allem auf das Liebesleben verschiedener Kleintiere. In kurzen, sehr lehrreichen, aber auch unterhaltsamen Filmen, zeigt sie uns, jeweils als Männchen kostümiert (außer natürlich, wenn es wie beim Regenwurm kein Männchen im traditionellen Sinn gibt), wie Fliegen, Glühwürmchen, Spinnen etc. sich fortpflanzen. Wie man alles besteigt, was sich bewegt, oder man allen Mut aufbringen muss, um sich der Partnerin zu nähern. Ein ergötzliches Erlebnis mit schönen Effekten und Kostümen, das man nicht verpassen sollte ...
Und die Terrarien, in denen die Monitore versteckt sind, sind schon fast allein den Weg wert.


Regarde-moi
(Audrey Estrougo, Forum)

Frankreich 2007, Int. Titel: Ain’t scared, Buch: Audrey Estrougo, Kamera: Guillaume Schiffman, mit Emilie de Preissac (Julie), Eye Haidara (Fatimata), Terry Nimajimbe (Jo), Paco Boublard (Yannick), Jimmy Woha Woha (Khalidou), Renaud Astegiani (Renaud), Lili Canobbio (Eloise), Oumar Diaw (Mouss), Salomé Stévenin (Daphné), 97 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk]

Vor vier Jahren lief auf der Berlinale L’esquive, ein Film über junge Liebe mit Migrationshintergrund, der sich nebenbei auch mit einer Theateraufführung befasste. Regarde-moi zeigt eine ähnliche Welt (die Pariser Vorstadt Colombes), ähnliche Probleme, und benutzt teilweise ähnliche Mittel, denn die Theatralität, die Brecht’sche Brechung, spielt hier mitunter eine große Rolle - und dies, ohne dem Film seinen Realismus zu nehmen.
Im Laufe eines Tages lernen wir Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ihren Problemen und Hoffnungen kennen. Die verheißungsvollste Zukunft hat sicher Jo, der für die Jugendmannschaft von Arsenal London entdeckt wurde, also “raus” kann. Während wir Jos Freunde Yannick und Mouss bei ihren Bemühungen erleben, Mädchen zu beeindrucken oder wiederzugewinnen, verfolgt die Kamera sie teilweise wie bei den Brüdern Dardenne, doch oft bleibt der Zuschauer auch außen vor, vor der Tür, draußen. Oder (etwas auffällig) die Kamera umkreist die Protagonisten, zieht dadurch deren primäre Bewegungsrichtung (im Kreis) nach. Doch dann gibt es einen Sprung in der Narration und langsam begreift man, dass man zunächst diesen Mikrokosmos aus der männlichen Sicht kennengelernt hat, doch sich manche Details erst zeigen, wenn man auch die weibliche Perspektive gesehen hat. Der Wettstreit zwischen Julie und Fatimata, die beide in Jo verliebt sind, drängt sich in den Vordergrund, und die Art und Weise, wie dieser Konflikt ausgetragen wird, ist abermals theatralisch, aber sicher auch in ähnlichen realen Vorkommnissen verwurzelt, was die unnötige Tragik nur noch unterstreicht. Bis zu dem Zeitpunkt, wo die allzu männlichen props von den Mädchen aufgegriffen werden, ist Regarde-moi ein herausragender Film, doch so, wie das “ein paar Monate später” die aristotelische Einheit zerstört, so bekommt durch einige überflüssige Szenen die eingeschworene community sowie der ganze Film einen Knacks, was schade ist. Doch auch, wenn ich einen anderen Film sehen wollte, akzeptiere ich die Entscheidungen der jungen Regisseurin, von der wir hoffentlich noch viel hören werden.


My Winnipeg
(Guy Maddin, Forum)

[Rezension von Thomas Vorwerk & Daniel Walther]

Leicht verwackelte Zwischentitel versichern uns, dass Guy Maddins neuer Film vom “Documentary Channel” produziert wurde, doch in seiner liebevollen Huldigung an seine verschneite und verschlafene Heimatstadt Winnipeg sollte man vielleicht nicht alles glauben, was Maddin so an “Tatsachen” über die Stadt mit dem seltsamen Namen zusammenträgt. Eine Art Schnitzeljagd soll es hier jedes Jahr geben, ein großes Ereignis, in dem seit hundert Jahren der Hauptpreis ein Bahnticket aus der Stadt heraus vergeben wird. Doch keiner der Sieger, die Winnipeg so gut kannten, um den Schatz zu finden, hat diesen Preis jemals eingelöst, was durchaus im Sinne des Veranstalters ist.
Maddins Mutter, die mancher schon aus Brand upon the Brain kennt, soll in einer täglichen Fernsehshow, einer Art Soap Opera gespielt haben, die Ledgeman hieß, und das Schicksal eines suizidgefährdeten Mannes zeigt, der sich Tag um Tag vom Mauervorsprung vor seinem Fenster stürzen will, ehe seine Mutter ihn vom Sinn des Lebens und ihrer Liebe überzeugt und wieder ins Innere lockt. Ein ödipales Thema kündigt sich an.
An der Mündung der Flüsse Assiniboine und Red River liegt Winnipeg, diese Mündung wird sowohl “the forks” als auch “the lap” genannt, und über (geschmackvolle) Einstellungen eines weiblichen Schoßes wird das Thema der Rückkehr zum “kuscheligen” Winnipeg weiter ausgebaut.
Die “Kuschligkeit” dieses Ortes, in dem selbst ein Aufmarsch der Nazis nur ein Garant für die Redlichkeit seiner Bürger ist, ist auch eines der Hauptprinzipien des Films, denn so verschlafen und verschneit wie Winnipeg ist auch My Winnipeg. Immer wieder fängt die Kamera Schneetreiben im Dunkel auf, Maddins sonore Stimme erklärt uns zu leise plätschernder Musik weitere Geheimnisse seiner Jugend (“the smells of female vanity and desperations - I grew up under their influence into what I am”), und mitunter beschleicht einen das Gefühl, als hätte es der Filmemacher durchaus darauf angelegt (“sleepy, so sleepy”), Teile seines Publikums in den Schlaf zu versetzen. Und diese These ist von mir keineswegs negativ zu verstehen, denn wie Wim Wenders glaube ich mal sagte, zeugt es von einem immensen Vertrauen des Zuschauers, bei einem Film einzuschlafen. (Mein erstes Kino-Einschlaferlebnis hatte ich übrigens bei Paris, Texas)
Um es nochmal klar zu sagen: My Winnipeg ist kein Film zum Einschlafen, sondern ein immens kuschliger Film, ein Film zum Liebhaben. Maddin nutzt angeblich die Filmförderung, um das Wohnzimmer seiner Jugend wieder aufzubauen. Im Zentrum seine Mutter, drumherum Darsteller in den Rollen seiner Geschwister und ein mopsähnlicher Hund (Pekinese?), der den “lange lange verstorbenen” Familienhund Toby spielt, eigentlich ein Chihuahua. Die Mutter rebelliert gegen den Film, in dem sie ihre Takes verhaut.
Dann geht es auch um das Eishockeyteam der Stadt, wie die NHL mit ihrer Preistreiberei alles kaputtgemacht hat, umd einige alte Recken, die als die “Black Tuesdays” immer noch in der alten Halle herumgeistern, die sich selbst Sprengungen auf perfide Art widersetzt.
Fast noch schlimmere Schurken als die NHL findet man natürlich im Rathaus, und wie die Stadt Sehenswürdigkeiten wie den kleinsten Park der Welt, ein dreistöckiges Schwimmbad (ich dachte, so etwas gibt es nur in meinen Träumen) oder ein großes Kaufhaus niederreißt, gehört zu den traurigsten Kapiteln dieses Films. “Demolition is one of our city’s few growth industries”. Die Ersatzbauten sind seelenlos oder wie das “MTS centre”, bei dem das S in der Leuchtschrift defekt ist, einfach nur “leer” (dieser Wortwitz geht bei der Untertitelung, die auch “to spoon” mit “schmusen” übersetzt, leider unter).
Eine Mischung aus Dokumentation, Fieber- oder Tagtraum, über eine Stadt, in der die Strassen nach ehemals der High Society angehörigen Prostituierten benannt sind ... Wie sich Maddin auf 75 Minuten beschränken konnte, ist ein kleines Wunder. Ich könnte noch lange über diesen Film schwärmen, über die St. Mary’s Academy of Girls, über “Happyland”, die Buchstaben “YUG”, das Schlafwandeln, den Farbeinsatz, die Animationen, den gerne besuchten Eisgarten, aus dem die Köpfe verunglückter erfrorener Pferde herausschauen, oder einen Verkehrsunfall mit einem Hirsch.
No innocent girl stays out after ten with blood on her fender. The blood. The fur. The forks. The forks beneath the forks. Winnipeg, my Winnipeg.


Transsiberian
(Brad Anderson)

Spanien / Deutschland / Großbritannien / Litauen 2008, Buch: Brad Andersonn, Will Conroy, Kamera: Xavi Giménez, Schnitt: Jaume Marti, Musik: Alfonso De Villalonga, mit Emily Mortimer (Jessie), Woody Harrelson (Roy), Ben Kingsley (Ilya Grinko), Kate Mara (Abby), Eduardo Noriega (Carlos), Thomas Kretschmann (Kolzak), Etienne Chicot (Franzose), Mac McDonald (Minister), Colin Sinton (Botschafter), 111 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk]

Regisseur Brad Anderson, dessen The Machinist vor vier Jahren nur knapp am Panorama Publikumspreis vorbeischrappte, durfte mit seinem neuen Film zum Panorama zurückkehren. Nach einem kleinen Prolog mit Ben Kingsley als russischem Inspektor (der nach beeindruckender Vorführung seiner Russischkenntnisse plötzlich und unvermittelt wieder ins Englische wechselt), schildert der Film zunächst die als “Abenteuer” gedachte Zugreise eines amerikanischen Ehepaares von Beijing nach Moskau. Jessie (Emily Mortimer) und Roy (Woody Harrelson) hatten sich für eine Kinderhilfsorganisation engagiert und sich statt eines schnöden Flugzeugs für den transsibirischen “Expresszug” entschieden, der zwar sechs Tage braucht, wo das Flugzeug in ein paar Stunden angekommen wäre, dabei aber neben verschneiten Landschaften auch eine Art exotische Gefährlichkeit verspricht. Roy interessiert sich besonders für Lokomotiven aller Art, und weil ihn das Gefühl beschleicht, er und sein Leben als Eisenwarenhändler könnten seiner vormals “wilden” Frau zu langweilig sein, ist die Reise auch dafür gedacht, die unübersehlichen Eheprobleme vielleicht zu lösen. Doch dann kündigt sich in Gestalt zweier Mitreisender nicht nur eine etwas andere Lösungsmöglichkeit für eingefrorenen “ehelichen Pflichten” an, zumindest für den Zuschauer drängt sich ein Zusammenhang zwischen dem Mordfall, bei dem Rauschgift verschwunden ging, und dem etwas mysteriösen jungen Paar mit den vielen Holzpuppen im Gepäck auf.
Hierbei ist am interessantesten, wie es Anderson gelingt, die Atmosphäre der “Gefährlichkeit” ganz langsam aufzudrehen. Noch in China erzählt etwa ein älterer Mitreisender von den Gefahren der chinesischen und vor allem russischen Polizei, die man nicht erzürnen sollte. Es habe da einen Fall gegeben, bei dem jemand ein Visum hatte, auf dem der Name falsch geschrieben war. Der an diesem Fehler gänzlich unschuldige Passagier hatte sich schon “aus Prinzip” geweigert, hierfür eine saftige Geldstrafe zu bezahlen, und soll stattdessen mit zwei von der Polizei abgeschnittenen Zehen für sein “Vergehen” bezahlt haben. Sprach das Väterchen und humpelte davon ...
Lange Zeit behält der Film das Potential, “eigentlich ganz harmlos” zu sein. Zwischen Jessie und dem in Zollfragen erstaunlich bewanderten Carlos entwickelt sich eine sexuelle Anziehungskraft, und wenn Carlos bei einem Zwischenhalt als letzter Roy gesehen hat, von dem sich dann irgendwann herausstellt, dass er nicht auf dem Zug ist, so könnte Carlos aus Eifersucht oder anderen Motiven Roy einfach erschlagen und verscharrt haben, bei einer Wanderung mit Jessie ist es aber ebenso wahrscheinlich, dass Roy durch eine abgekarterte “Abenteuergeschichte” nur seine Ehe retten will. Über den Ausgang der Geschichte will ich nicht zuviel verraten, nur dass Ben Kingsley natürlich auch irgendwann auf dem Zug landet und dass das Rauschgift tatsächlich irgendwo auftauchen wird, sollte niemanden überraschen. Und dass der Standard-Spruch “We’re Americans” mitten in Russland nicht automatisch die Bereinigung sämtlicher Probleme nach sich zieht, ist eines der feinen politischen Signale des Films.
Der plot von Transsiberian ist eigentlich recht straight, und deshalb zählt zu den wenigen Ärgernissen des Films, dass man dem Zuschauer nicht allzuviel Intelligenz zutraut und mit überflüssigen Flashbacks Dinge erklärt, die eigentlich mehr als offensichtlich sind. In solchen Passagen ist der Film vielleicht doch etwas zu “amerikanisch”, auch wenn die USA gar nicht unter den Produktionsländern aufgeführt ist.
Während Woody Harrelsen in seiner Rolle vor allem erstaunlich jung und “harmlos” wirkt, brillieren Emily Mortimer und Ben Kingsley mit etwas mehr Tiefe in der Darstellung, und Kate Mara als Carlos’ Freundin Abby hätte unter anderen Umstände eine überzeugende Hauptrolle innehaben können. Ein Panorama-Beitrag, bei dem der baldige Kinostart vorprogrammiert scheint. Und dabei ist der Film durchaus besser als die üblichen US-Beiträge, die in früheren Jahren mit einem offensichtlichen Schielen zum roten Teppich, der ja auch gefüllt sein will, ins Programm aufgenommen wurden (etwa Stay, Beyond the Sea, Moonlight Mile).


Leo (Josef Fares)

Schweden 2007, Buch, Schnitt: Josef Fares, Kamera: Aril Wretblad, mit Leonard Terfelt (Leo), Josef Fares (Josef), Shahab Salehi (Shahab), Sara Edberg (Amanda), 98 Min.
[Rezension von Daniel Walther]

In freudiger Erwartung, einen heiteren, verspielten und etwas abgedrehten Film zu sehen ließ ich mich in den Kinositz sinken. Da ich den neuen Fares-Film sowieso sehen wollte hatte ich mir sozusagen als kleines Geschenk für mich überlegt, dass ich mich überraschen lassen wollte, obwohl ich ja insgeheim auf eine Komödie gehofft hatte. Nach 78 min. wusste ich es dann besser, denn der neue Film Leo des schwedischen Regisseurs Josef Fares ist von einer Komödie so weit entfernt, wie England von der Europameisterschaft.
Leo (Leonard Terfelt) feiert seinen 30. Geburtstag mit Freunden und Familie. Als er sich mit seiner Freundin Amanda (Sara Edberg) auf dem Heimweg befindet, werden sie von zwei Unbekannten überfallen von denen sich besonders einer durch besondere Gewaltätigkeit hervortut. Leo wird erniedrigt und ist hilflos der Situation ausgeliefert. Nachdem diese eskaliert und Schüsse fallen, stirbt Amanda kurz darauf im Krankenhaus. In der Folgezeit versinkt Leo in Scham, Schuld und Rachegefühlen. Obwohl sich seine besten Freunde Josef (Josef Fares) und Shahab (Shahab Salehi) nach besten Kräften um ihren Freund bemühen. Ihr Bemühen geht sogar so weit, dass sie in Leos Rachefeldzug einwilligen und sich bereit erklären, ihn tatkräftig zu unterstützen. Obwohl Josef große Bedenken dem Vorhaben gegenüber hat, willigt er trotzdem ein, denn sein Verantwortungsgefühl seinem Freund gegenüber ist stärker. Trotzdem entgleitet Leo ihnen zunehmend und die Situation eskaliert erneut, bis sie wie eine Lawine nach dem Schneeballprinzip wächst und wächst, nur um dann den Protagonisten um die Ohren zu fliegen.
Bereits zu Beginn des Films gibt es diese Leere in Leos Gesicht und seine Sprachlosigkeit, die bereits erahnen lassen, dass er ebenfalls spürt, dass etwas passieren wird, in diesem Moment sicherlich eher in Richtung Familie und dem 30. Geburstag als ohnehin problematisches Ereignis. Fares zeigt die Freundin, Freunde und Familie feiern, nur um dann umso glaubwürdiger das Ausmaß von Gewalttaten, welches eben auch über das simple Täter-Opfer-Verständnis hinausgeht, zu zeigen. Die Unfähigkeit von Leo nach dem Mord alltägliche Konflikte zu lösen, ist nur der Beginn seines selbstzerstörerischen Weges. Dass den handelnen Personen die Situation nicht leicht fällt, wird sehr gut durch Stille und Blicke transportiert und passt sich auch den nüchternen Aufnahmen an. Bis auf wenige Stellen, wie z.B. als Leo am Grabstein sitzt und weint, jedoch etwas übertrieben dazu sabbert oder aber unmittelbar daran im Anschluss als die drei Freunde kollektiv zusammenbrechen und der etwas plumpe Satz Warum musste das passieren?“ in den grauen Himmel geschrien wird, aber zum Glück sind das zwei kleine Ausnahmen. Ansonsten... Leo ist ein ziemlich unheiterer, unverspielter und unabgedrehter Film zum Thema Gewalt, das aber mitreißend und aufwühlend.


Lemon Tree (Eran Riklis)

Israel / Deutschland / Frankreich 2008, Buch: Zuha Arraf, Eran Riklis, Kamera: Rainer Klausmann, Schnitt: Tova Ascher, Musik: Habib Shehadeh Hanna, mit Hiam Abbass (Salma Zidane), Ali Suliman (Ziad Daud), Doron Tavory (Verteidigungsminister), Rona Lipaz-Michael (Frau des Verteidigungsminister), Tarik Copty (Abu Hussam) Amos Lavie (Hauptmann Jacob), Danny Leshman (Gefreiter Quickie), 106 Min.
[Rezension von Thomas Vorwerk]

In einer kleinen palästinesischen Siedlung in der Westbank wohnt die 45jährige Witwe Salma Zidane, die gemeinsam mit einem älteren Herren, der sie wie ein Vater aufgezogen hat, einen kleinen Hain von Zitronenbäumen führt, der die beiden mehr schlecht als recht ernährt. Auf der anderen Seite ihres Zaunes zieht nun der israelische Verteidigungsminister ein, und aus Sicht der Security stellen die Zitronenbäume ein Sicherheitsrisiko dar, weshalb sie per schnell gefälltem Beschluss eben - gefällt - werden sollen. Während auf einem Hochsitz ein unfähiger Gefreiter per Kopfhörer seine logischen Fähigkeiten schult (was das Sicherheitsrisiko zwar nicht verringert, aber klarmacht, dass die Prioritäten der Bodyguards nicht immer nachvollziehbar sind), wird Salmas Hain eingezäunt (sie Einspruch eingelegt), sie darf sich nicht mehr um ihre Bäume kümmern. Doch sie stiehlt sich immer wieder zu den Bäumen hinein, der letzten Hinterlassenschaft ihres Vaters, nur um unter Waffengewalt wieder abgeführt zu werden. Mithilfe eines jungen Rechtsanwalt, der sich auf vermeintlich unschickliche Weise für seine etwa doppelt so alte Mandantin zu interessieren beginnt (der Film hat viele kleine Subplots, auf die hier nicht eingegangen werden kann), tritt man vor Gericht an und geht bis zur höchsten Instanz, während der Verteidigungsminister langsam nicht nur von der Öffentlichkeit, sondern auch von seiner eigenen Frau, die sich in der Nachbarin wiedererkennt, Ärger bekommt.
Eran Riklis’ Film erzählt keine neue Geschichte, er erzählt auch nicht besonders innovativ, aber dafür stringent und immer unterhaltsam. Für kleine running gags wird die Integrität der Geschichte nicht riskiert, aber teilweise ist das Drehbuch etwas zu geradeheraus. Wenn der Verteidigungsminister eine Party gibt, man feststellt, dass der Caterer der Zitronen vergessen hat, und kurzerhand welche von der Nachbarin stiehlt, so reflektiert dies wohl kaum das Verhalten eines national bedeutsamen Politikers, der sich gerade in einem lästigen Rechtsstreit befindet. Diese Art von Humor, von einer Eskalation vom Zitronenbaum zum höchsten Gericht, hat durchaus eine lange Tradition, doch Lemon Tree gelingt es nicht, dieser oder seinem Thema wirklich neue Facetten zu verleihen oder Aspekte abzugewinnen. Dennoch eine solide Arbeit.

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Im nächsten Cinemania:
Mehr Berlinale, vielleicht mit Rezensionen zu Filmen wie Chiko, Coupable, Elegy oder Julia ...