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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




28. Juni 2009
Thomas Vorwerk
für satt.org


Filmtip Berlin:
· Dialoge mit Filmen ·
vier Jahrzehnte Forum

Kino Arsenal

Vom 1. bis 5. Juli 2009 feiert man im Berliner Arsenal Kino 40 Jahre der “filmischen Gegenbewegung” des Berliner Filmfestivals. Um in den Festlichkeiten zur 60. Berlinale im Februar 2010 nicht unterzugehen, aber auch, weil man das erste Gegenprogramm bereits im Sommer 1969 organisierte, wird dieses Jubiläum außerhalb des Berlinale-Rummels gefeiert - und nur so gibt sich dem geneigten Zuschauer auch die Chance, dies gebührend wahrzunehmen. Denn während der Berlinale ist es nichts besonderes, wenn bei Filmvorführungen Regisseure auftauchen - die Programmplaner vom Arsenal hingegen haben sich etwas Besonderes ausgedacht: denn die 13 Vorführungen haben jeweils einen Paten oder Präsentator, und dadurch entsteht ein Dialog sowohl zwischen den Filmemachern und einem jeweils nicht von ihnen stammenden Werk - und im günstigeren Fall auch zwischen dem Präsentator und dem Publikum. Wenig überraschend wählte man Forumslieblinge aus wie Sabu, Ulrike Ottinger oder Angela Schanelec (Aki Kaurismäki ließ sich entschuldigen), aber auch weniger bekannte Filmemacher, die erst in den letzten Jahren im Forum auftauchten, beispielsweise Jasmila Zbanic (Lost and Found, Grbavica), Ulrich Köhler (Montag kommen die Fenster), Bradley Rust Gray (The Exploding Girl) oder Aditya Assarat (Wonderful Town). Und das sind nur einige der Präsentatoren! Bei den Filmen hat man noch stärker einen Querschnitt durch die Jahrzehnte vollbracht, vom Briten Bill Douglas (2 kürzere Filme aus den Jahren 1972 und 73) über Jean-Luc Godards “Comeback” Sauve qui peut (la vie) von 1980, Michael Snows So is this (Freitag, 3. Juli, um 16 Uhr 45) bis hin zu den (Forum-)Standards wie Souleyman Cissé, Chantal Akerman oder - eben jetzt auf dieser Seite - Aki Kaurismäki.

Dt. Titel: Die Kleinstadt, Türkei 1997, Buch, Kamera: Nuri Bilge Ceylan, Vorlage: Emine Ceylan, Schnitt: Ayhan Ergürsel, Musik: Ali Kayaci, mit Emin Toprak, Havva Saglam, Cihat Bütün, Fatma Ceylan, Emin Ceylan, Sercihan Alioglu, Semra Yilmaz, Latif Altintas, Muzaffer Özdemir, schwarzweiß, 85 Min.

 

Samstag, den 4. Juli, um 19 Uhr
(vorgestellt von Jia Zhangke)
Kasaba (R: Nuri Bilge Ceylan)
Kasaba (R: Nuri Bilge Ceylan)

Der mittlerweile weltbekannte Ceylan (Drei Affen) widmete sich schon in seinem Debüt dem Thema der Familie und den Eigenarten der Generationen. In seinem Low-Budget-Film (wäre nicht mal kurz Simpsons-Merchandise zu sehen, würde man die dokumentierten Verhältnisse etwa in den 1970ern verorten) scheint er die nach der Biographie seiner Schwester entstandene Geschichte (klar inspiriert von Tschechow) auch mit einigen Familienmitglieder zusammen umgesetzt zu haben, wenn man sich den Vorspann so ansieht.

Die Geschichte beginnt im Winter und zeigt den Schulalltag zweier Geschwister (Asiye und Ismael). Fast roboterhaft werden patriotisch gefärbte Texte (“Glücklich ist, wer sich Türke nennen kann”) heruntergebetet oder in unrealistischer Dieter-Thomas-Heck-Geschwindigkeit vorgelesen, doch die offiziellen Texte stehen im direkten Kontrast zu dem, was die Kinder wirklich interessiert. Selbst das Wasser, das von Ismaels nassen Socken auf den kleinen Ofen mitten im Klassenzimmer tropft, wirkt interessanter als alle gesellschaftliche Doktrin. Im zweiten Teil des Films scheinen die Geschwister nach Hause aufzubrechen, doch plötzlich ist der Schnee verschwunden und man durchstreift die blühende Natur (was bereits durch eine Katze am Fenster des Klassenzimmers ein wenig vorweggenommen wurde). Außerdem lernt man Saffet kennen, der motivisch überzeugend unter einem Kettenkarussell raucht und ähnlich ungebunden wie die Kinder wirkt. Zwischendurch mal eine Kamerafahrt, die von geschächteten Ziegen, die auf einen Stapel gelegt werden, während sie noch zuckend ausbluten, über Ziegen am Spieß, die sich in Zelten über Feuerstellen drehen. Die Industrialisierung entfernt den Menschen von der Natur, könnte man dies zusammenfassen. Die Kinder, offensichtlich aus ärmlichen Verhältnissen, diskutieren darüber, ob man die Pflaumen vom Friedhof essen darf. Solange man beim Pflücken nicht auf einem Grab steht, vielleicht. Der Knabe Ismael erschlägt eine Spinne und dreht eine Schildkröte auf den Rücken, nachdem seine Schwester ihn darüber aufgeklärt hatte, dass die Tiere sich aus solch einer Haltung nicht retten können und verenden. Später hat er Gewissensbisse, die sich mit der Geschichten der älteren (über Kriegsgefangenschaft und Imperialismus) verweben, während die Kinder am nächtlichen Lagerfeuer wegschlummern und der Film die kindliche Wahrnehmung nachvollzieht. Grundsatzdiskussionen über verschiedene Lebensansätze schieben sich unterschwellig in den Vordergrund, schließlich folgt eine Traumsequenz, der überzeugendste Teil des Films, und über einen Flashback wird die einzige ernstzunehmende Zukunftsperspektive demonstriert: das Dorf zu verlassen. Kasaba hat einen betont langsamen Erzählrhythmus, wobei “Erzählen” vielleicht schon übertrieben ist, denn der Film wirkt eher wie ein philosophisch angehauchtes Gedicht, es geht mehr um Eindrücke, Kontraste und Atmosphäre. Wie ein visueller Reim wirkt auch das Thema der zunächst blinzelnden Augen (erst der Lehrer, dann ein Esel, dessen Auge von diversen Fliegen umlagert wird), das schließlich mit einem Close-Up von Tränen seinen Endpunkt findet. Für einen Debütfilm (und die geringen Mittel) schon beeindruckend, aber manches (wie etwa das Freeze Frame zum Schluss) wirkt auch ziemlich aufgesetzt, zu sehr an die Nouvelle Vague (insbesondere Godard) angelehnt.

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USA 2000, Buch: David Gordon Green, Kamera: Tim Orr, Schnitt: Stephen Gonzales, Zene Baker, Musik: Michael Linnen, David Wingo, Andrew Gillis, Brian McBride, Mazinga Phaser, mit Candace Evanofski (Nasia), Donald Holden (George), Damien Jewan Lee (Vernon), Curtis Cotton III (Buddy), Rachael Handy (Sonya), Paul Schneider (Rico Rice), Eddie Rouse (Damascus), Janet Taylor (Tante Ruth), Derricka Rolle (Whitney), Ebony Jones (Denise), Jonathan Davidson (Euless), Scott Clackum (Augie), Beau Nix (Ricos Vater), Jason Shirley (Lancaster), Christian Gustaitis (Tyler), Joyce Mahaffey (Tylers Mutter), Smokey (Dog), 89 Min.

 

Samstag, den 4. Juli, um 21 Uhr 30
(vorgestellt von Aditya Assarat)
George Washington (R: David Gordon Green)
George Washington (R: David Gordon Green)

Auch George Washington ist ein Debütfilm, und was Regisseur David Gordon Green so in letzter Zeit gedreht hat, darauf komme ich später zurück. Hier gibt es sogar ein laut Forumskatalog elfjähriges Mädchen als Erzähler, und wir lernen Nasia kennen, als sie gerade Buddy Schluss macht, sie im Off-Kommentar aber bereits über ihren Freund George auslässt. Auch hier leben die Protagonisten in ärmlichen, heruntergekommenen Verhältnissen, und auch wenn Nasia bemerkt, dass die Erwachsenen in ihrer Stadt niemals “Kinder wie wir” waren, so bekommt man beim Vergleich der Kinder mit den Erwachsenen (die ähnlich ziellos herumhängen, wenn sie nicht gerade einen Job haben) das Gefühl, dass die Veränderung durch die Generationen hier noch mehr zu stagnieren droht. Der Hauptjob der Erwachsenen scheint übrigens im Demolieren zu bestehen, was auch nicht gerade auf eine Fortschrittsperspektive zu deuten scheint. Doch lassen wir die Erwachsenen malaus dem Spiel. Buddy, George, der stämmige und etwas größere Vernon, Nasia und die etwas kleinere, aber teilweise sehr selbstbewusste Sonya (hat immerhin schon mal ein Auto geklaut) spielen miteinander, sie scheinen sich für Äußerlichkeiten wie Hautfarben nicht im geringsten zu interessieren. Der Film konzentriert sich ein wenig auf George, der immer mit einem Fußballhelm herumläuft, weil seine Schädelplatten nicht komplett zusammengewachsen sein sollen und er deshalb durch einen für andere Kinder harmlosen Unfall schnell in Lebensgefahr geraten könnte. Während Nasia noch damit beschäftigt ist, George überhaupt für sie zu interessieren, ist Buddy bereits von einer für ihn ungewohnten Eifersucht durchdrungen, die er aber zu unterdrücken versucht. “She dumped me for this guy who was poor, stupid and ugly.” Im Schwimmbad (George geht nicht ins Wasser, weil seine Fontanelle auch nicht nass werden soll) lernt George Tyler kennen, einen schwächlich wirkenden Jungen, der ebenfalls eine Krankheit hat. Etwas später ist man wieder auf irgendeiner Baustelle, und Sonya versucht ungelenk, mithilfe eines Stocks und eines Hundehaufens etwas zu schreiben. Vernon warnt sie noch, dass sie das lassen soll, und schon sieht man noch einem elliptischen Schnitt George, Buddy, Vernon (mit einem unübersehbar verdreckten Shirt) und Sonya (mit einer angeblich gebrochenen Nase) in einem abermals heruntergekommenen Waschraum, und hier eskaliert es ein wenig (man will ja nicht zuviel verraten). Aus unterschiedlichen Gründen wird George später mit einem Cape (wie Captain America), einem Ringerdress und einer an Davy Crockett erinnernden Mütze herumlaufen, von seinen Freunden geschnitten werden, und für eine “Heldentat” sogar interviewt werden, doch auch wenn der Film später auch noch eine am Nationalfeiertag, den 4. Juli, veranstaltete Parade zeigt, und es viel um amerikanische Heldenbilder geht (seien es nun Dick Allen, George Washington oder Chubby Checker), so ist George Washington vor allem ein sehr ernüchternder Film über die Qualen des Erwachsenwerdens. Die kleine Sonya vertraut sich mal einem der Jungs an: “Can you keep a secret? I’m not a good person. I don’t think nice thoughts.” Und um diesen Kinderwunsch, ein “guter” Mensch zu sein (und die Probleme beim Erreichen dieses Ziels), dreht sich der Film.

In der Alternative-Musik-Szene gab es mal die Lo-Fi-Bewegung, wo Bands wie Pavement sich Mühe gaben, niemals perfekt zu klingen, jeweils die etablierten Songstrukturen möglicher Hits (Strophe - Refrain - Strophe) zu umgehen, oder auch mal absichtlich näselnd zu singen. Ähnliche Tendenzen kann man auch in der Comic-Szene finden (Tom Hart, John Porcellino, James Kochalka), und für mich wirkt George Washington wie das filmische Äquivalent des Lo-Fi. Einerseits gibt es perfekt ausgeleuchtete Kameraeinstellungen, dann wieder Szenen, die wie lieblos heruntergekurbelt wirken. Die kindlichen Laiendarsteller sollen absichtlich nicht perfekt sein, und es gibt einige Hinweise darauf (das variierende Alter von Buddy), dass dieser Wahnsinn durchaus Methode hat. Und so wirkt der Film mal wie von Terrence Malick, dann wieder wie von helge Schneider inszeniert. Doch auch, wenn der Zuschauer durch den Kontrast von beispielsweise ausgefeilten Zeitlupeneinstellungen und teilweise lächerlich wirkenden Dialogen immer auf Distanz gehalten wird, funktioniert der Film. Wenn einer der Erwachsenen das große Trauma seiner Kindheit offenbart, will man beispielsweise loslachen, so lächerlich, harmlos und alltäglich wirkt das geschilderte Ereignis, insbesondere im Kontrast zu der Figur, die hier unerwartet ihr Innerstes nach außen kehrt. Doch diese dem Film innewohnende Zerbrechlichkeit, gepaart mit Ruppigkeit, eine durchdachte Ästhetik der Hässlichkeit, berührt den Zuschauer ungeachtet davon, ob einige der Schlampereien der Filmemacher vielleicht doch einfach nur Unfälle waren. David Gordon Green arbeitet immer noch als Regisseur, sogar noch mit seinem damaligen Kameramann, Tim Orr, zusammen. Sein vorletztes Werk, die Verfilmung von Stewart O’Nans Romandebüt Snow Angels, hat den Weg in die deutschen Kinos leider nicht geschafft, aber bei seinem letzten Streifen, Pineapple Express, findet man viele der hier geschilderten Unstimmigkeiten seines Debüts wieder. Nur legt die nun kaum einer mehr zu seinen Gunsten aus.