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27. Januar 2010
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Ein russischer Sommer (R: Michael Hoffman)
Ein russischer Sommer (R: Michael Hoffman)
Ein russischer Sommer (R: Michael Hoffman)
Fotos © 2009 Warner Bros. Ent.
Ein russischer Sommer (R: Michael Hoffman)
Ein russischer Sommer (R: Michael Hoffman)
Ein russischer Sommer (R: Michael Hoffman)


Ein russischer Sommer
(R: Michael Hoffman)

Originaltitel: The Last Station, Deutschland / Russland / USA 2009, Buch: Michael Hoffman, Lit. Vorlage: Jay Parini, Kamera: Sebastian Edschmid, Schnitt: Patricia Rommel, Musik: Sergei Yevtushenko, mit James McAvoy (Valentin Bulgakov), Christopher Plummer (Leo Tolstoy), Helen Mirren (Sofya Tolstoy), Paul Giamatti (Vladimir Chertkov), Anne-Marie Duff (Sasha Tolstoy), Kerry Condon (Masha), Patrick Kennedy (Sergeyenko), John Sessions (Dushan), David Masterson (Reporter), Nenad Lucic (Vanja), Tomas Spencer (Andrey Tolstoy), 112 Min., Kinostart: 28. Januar 2010

The Last Station - ein Titel, der vieles zusammenfasst. Es geht um die letzten Stationen im Leben von Leo Tolstoi, wobei eine Bahnstation hier auch den Schlusspunkt des Lebens, die Endstation markiert. Für den deutschen Titel wählte man hingegen das nichtssagende “Ein russischer Sommer”, wobei erwähnt werden sollte, dass weder Tolstoi noch andere Figuren des Films jetzt nur für einen Sommer nach Russland kamen, und der Zeitraum des Films sich meteorologisch nicht wirklich mit der Jahreszeit Sommer deckt. Kurzum, “Ein russischer Sommer” ist ein Titel, der so blöd ist wie “Neulich in Belgien”, man kann aber halbwegs nachvollziehen, warum man sich dafür entschieden hat. Denn The Last Station ist meines Erachtens das, was ich als Tantenfilm bezeichnen würde.

Tantenfilme haben in den Hauptrollen zumeist vielfach ausgezeichnete Qualitätsdarstellerinnen im FrühpensionsalterPlus, und suchen auch ihr Zielpublikum unter den 45- bis 80jährigen Damen, die zumeist in kleinen Gruppen ins (Tanten-)Kino gehen, um dort Zeuginnen starker Frauenpersönlichkeiten zu werden. Exemplarische Filme und Darstellerinnen dieses seltsamen Genres sind etwa On Golden Pond (1981, mit Katherine Hepburn), Steel Magnolias (1989, mit Sally Field, Shirley MacLaine und Olympia Dukakis), Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Cafe (1991, mit Kathy Bates und Jessica Tandy), Calendar Girls (2003, mit Julie Walters und Helen Mirren), oder Ladies in Lavender (2004, mit Judi Dench und Maggie Smith). Wie man schon an meiner Titelauswahl erkennt, spielt oft eine gewisse Naturverbundenheit ins Thema hinein (das Zielpublikum gärtnert, kocht und strickt womöglich gern, wobei sich das Stricken filmisch nur schwerlich ausbeuten lässt), aber vor allem geht es um Frauenfreundschaften, wobei die Lebensfreude vor feministischen Traktaten steht, trotz einiger Schicksalsschläge gibt es zumeist auch viel Humor, und die Sexualität spielt auch oft eine Rolle, manchmal mit vermeintlichen Skandalen, manchmal über die Nebenhandlungen jüngerer Darsteller.

Als Filmtitel bringt “Ein russischer Sommer” das Thema “Lebensfreude” natürlich ungleich besser rüber als das fast morbide “The Last Station”, und ähnlich wie bei den Romantic Comedies, wo man jahrelang die weiblichen Zuschauer (und manchen männlichen Begleiter) mit Signalworten in den deutschen Titeln in die Kinos locken konnte, ist auch hier die Werbefunktion des Titels (noch dazu bei so eisigen Temperaturen) wichtiger als der eigentliche Film.

Wobei man andererseits darauf zählt, dass das Zielpublikum gut informiert über den Film ist (dahingestellt, ob aus der Brigitte oder der FAZ), und somit auch weiß, dass es hier um die letzten Tage von Tolstoi geht - im Gegensatz zu mir hat man womöglich sogar die Romanvorlage gelesen (und die Exkursion über Biopics nach Romanvorlagen verkneife ich mir an dieser Stelle). Die Hälfte des Films, die sich um James McAvoy als jungen Autoren und seine frühen (oder vielleicht auch nicht so frühen) sexuellen Erlebnisse dreht, erinnerte mich ein wenig an Welcome to Wellville oder The Cider House Rules (jeweils die Verfilmungen), doch The Last Station hat immerhin einige politische Untertöne (auch wenn mir diese recht beliebig erschienen) und die eigentliche Funktion von James McAvoy und seiner lebensfreudigen Liebhaberin Sasha ist eigentlich vom Roman- und / oder Drehbuchautor ziemlich geschickt konstruiert, denn während das alte Ehepaar Tolstoi (Christopher Plummer und Helen Mirren) inzwischen auch viel streitet, wirkt das junge Paar wie ein geschickter Ersatz für die ansonsten obligatorischen Flashbacks in die Jugend der Hauptfiguren. Tolstoi investiert viel Interesse in das Geschick des jungen Autors, und seine Frau erkennt sich natürlich auch irgendwie in der Tochter Sasha wieder. Bei der Inszenierung des ersten Schäferstündchens scheint der Regisseur zwar das von mir vermutete Zielpublikum etwas außer Acht zu lassen und eher auch dem heterosexuellen männlichen Publikum etwas zu bieten wollen (warum sind nur die meisten Film-Sexszenen so langweilig?), aber ansonsten verbindet man größtenteils die von mir bereits vielfach beschriene Naturverbundenheit und kombiniert Humorelemente (Helen Mirrens Eheführung, James McAvoys nervöses Niesen) mit der erwarteten tragischen Entwicklung, die künstlich ein wenig auf den Melodrama-Faktor von Krieg und Frieden oder Anna Karenina angehoben werden. Das Zielpublikum kann sich dann entweder am Melodrama entlang die Taschentücher vollheulen, Helen Mirren als starke Frauenfigur bewundern, die Verklemmtheit der McAvoy-Figur belachen oder sogar die geschichtlichen und politischen Entwicklungen verfolgen (die aber schon recht vereinfacht wirken - Paul Giamatti ist hier als Darsteller komplett verschenkt). Für mich persönlich wirkt das Ganze ziemlich bieder und uninteressant, ähnlich wie die Version, die der Regisseur vor einigen Jahren von Shakespeares Midsummer Night’s Dream darbot.

Sehr schön ist aber der Einsatz von Archivmaterial im Nachspann.