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15. Februar 2010 | Thomas Vorwerk für satt.org | |||||
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Die Fremde
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Vorführungen:
Fotos: Majestic Filmverleih 2010
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Bevor ich erkläre, woran das liegt, eine kurze Exkursion zum Beginn des Films, der in sich bereits meisterhaft wirkt. Zwei kleine Momentaufnahmen, winzige Szenen. Die eine zeigt die Möglichkeitsform einer kleinen Familie, endet aber mit einem unübersehbaren Gewaltpotential und einer Schwarzblende. Danach eine Flucht, eine Verwirrung, ein Blick zurück durch das Heckfenster eines Busses - und diesmal eine Weißblende. Die Ellipse als Erzählprinzip spielt in Die Fremde eine große Rolle, und die ersten zwei Szenen werden wie eine dunkle Gewitterwolke über dem Rest des Films schweben, so wie der Leser von Romanen von Thomas Hardy weiß, dass es nur in den seltensten Fällen ein Happy End gibt ...
Umay hat gerade - und der Film spricht das böse Wort nie aus, arbeitet auch hier mit Ellipsen und Andeutungen, die man aber kaum übersehen kann - abgetrieben, und kehrt mit ihrem Sohn Cem und einer Verbündeten zur Familie ihres Ehemannes Kemal zurück, wo der überforderte kleine Cem aber eine Ablenkungsgeschichte auffliegen lässt, weshalb es Verwirrung, Streit und Stress gibt. Kemal ist resolut und aufbrausend, die vage Idee einer Abtreibung wirkt für ihn wahrscheinlich wie ein Verrat, doch die Art und Weise, wie er seinen Sohn und seine Frau einschüchtert und auch vor Gewalt nicht halt macht, und die folgende Szene, die Umay bei der Ausübung ihrer “ehelichen Pflichten” zeigt (wobei die nichts macht, sondern es nur stumm über sich ergehen lässt), lassen den folgenden Schritt, dass sie ihren geliebten Sohn nimmt und mit ihm zusammen zurück zu ihrer Familie nach Deutschland reist, natürlich und nachvollziehbar erscheinen.
Doch ihre Familie ist verwirrt. Vater Kader (Settar Tanriögen) und Mutter Halime (Derya Alabora) wollen wissen, wo Kemal denn ist oder wann er nachkommt, der ältere Bruder Mehmet zeigt sich schnell ähnlich ungehalten wie der zurückgelassene Gatte. Cem ist ein “armes Kind”, so “ohne Familie, ohne Vater” und Umay bringt über die Familie Aslan Ungnade, auch wenn ihre kleine Schwester Rana und der jüngere Bruder Acar ihr genau wie die Mutter Unterstützung anbieten, scheint es schnell entschiedene Sache, dass Umay entweder zu Kemal zurückkehren muss (was dadurch, dass der mit der “Deutschenschlampe” nicht mehr zu tun haben will, nicht vereinfacht wird) oder zumindest Cem zurück zu seinem Vater gebracht werden muss. Zu Beginn des Films wirkt es noch wie ein kleiner Widerspruch, dass Umay ihr eines Kind gerade abgetrieben hat, für das andere aber kämpft wie eine Löwenmutter, doch es wird schnell klar, dass beide Aktionen Teil ihrer Emanzipation sind. Umay kämpft für ihr Glück (wie Tess), will aber auch ihre Familie weder verlieren noch schädigen noch in Ungnade fallen lassen.
Die Fremde ist sehr handlungsreich. Die Schilderung der patriarchalen Hölle, die Umay durchleben muss, dieses teilweise zutiefst unehrenhafte Streben nach einem äußerlichen, oberflächlichen und menschenverachtenden Ehrbegriffs ist noch frappierender als in När mörkret faller, einem schwedischen Panorama-Beitrag von 2007. Vielleicht nicht so schockierend wie damals die Szene an einer Autoschnellstrasse, aber noch berührender.
Ich bin nicht besonders nahe am Wasser gebaut, und habe in den letzten fünf Jahren und 1000 Kinobesuchen vielleicht zwei- oder dreimal andeutungsweise feuchte Augen gehabt, aber hier habe ich geheult, und ich schäme mich dafür nicht. Hoffentlich wird man in den Gesellschaftsschichten, die es betrifft, ähnlich schnell wie damals bei Hardy begreifen, dass Umay kein Täter ist, kein Schandfleck, keine Unwürdige, sondern “A Pure Woman”, höchstens ein Opfer - und natürlich trotz einiger Fehlentscheidungen und Missverständnisse ein leuchtendes Beispiel für immerhin den Versuch eines lebenswerten Lebens.
Und ein ebenso leuchtendes Beispiel ist Feo Aladag, die mit diesem Spielfilmdebüt Mut und ein zielsicheres Gespür als Autorin und Regisseurin gezeigt hat. Thomas Hardy hätte diesen Film gemocht, und jeder, der ein Jahrhundert später geboren ist, sollte zumindest die Weitsicht aufbringen, gewisse gesellschaftliche Wertvorstellungen, die nicht mehr zeitgemäß sind (wenn sie es überhaupt je waren), in Frage zu stellen. So wie damals “A Pure Woman” als Untertitel von Tess of the D’Urbervilles in manchen Kreisen einen Aufschrei der Entrüstung auslöste, sollte man mal überdenken, inwiefern der im Verlauf des Films öfter benutzte Begriff “ein echter Mann” noch mit dem zu vereinen ist, was hier demonstriert wird.
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