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16. Februar 2011 | Thomas Vorwerk für satt.org | ||||||
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Japan 2010, Originaltitel: Karigurashi no Arrietty, Buch, »Planning«: Hayao Miyazaki, Lit. Vorlage: Mary Norton, Kamera: Atsushi Okui, Musik: Simon Caby, Cécile Corbel, mit den Originalstimmen von Mirai Shida (Arrietty), Ryûnosuke Kamiki (Sho), Kirin Kiki (Haru), Tomokazu Miura (Pod), Shinobu take (Homily), Keiko Takeshita (Sadoko), Kinostart: 2. Juni 2011
Auf Anhieb wären mir zwei Gründe eingefallen, den neuen Film aus dem Ghibli Studio auf dem European Film Market nicht zu schauen. 1. Regie hatte nicht Altmeister Hayao Miyazaki, sondern ein 36jähriger »Jungspund«. 2. Der Film hat laut imdb bereits einen deutschen Kinostart, und zwar schon im Juni.
Grund 1 brachte ein befreundeter Kritiker vor, den ich netterweise von der Vorführung in Kenntnis setzte. Und seiner Meinung nach sind die »Nicht-Miyazaki-Ghiblis« nichts besonderes (Natürlich mit Ausnahme von Hotaru no haka). Dummerweise wusste er aber nicht, dass das Drehbuch von Miyazaki stammt. Und dass der Film durchaus was besonderes ist. Grund 2 (von dem ich erst einen Tag nach der Vorführung erfuhr) entbehrt jeder Bedeutung, weil ich bei der stiefmütterlichen Vermarktung von Ghibli über die Disney-Tochtergruppe Universum schon Startverschiebungen im Umfang eines Jahres erlebt habe. Offenbar organisiert man sich dort die Weltrechte vor allem, um sicherzustellen, dass die Einspielergebnisse von »echten« Disney-Produkten durch die japanischen Mitbewerber nicht geschmälert werden.
Aber zum Film, in dem es um die »Burrowers« geht, kleine menschenähnliche Kreaturen, die versteckt in einem Haus ihr Dasein fristen, bis sie durch die Entdeckung der 13jährigen Tochter Arrietty durch einen gleichaltrigen »Großen« in große Bedrängnis geraten. Wem dies irgendwie bekannt vorkommt, die Kinderbuchvorlage wurde in der Tat als The Burrowers (dt.: Ein Fall für die Borger) beriets im Jahre 1997 verfilmt. Und zwar mit John Goodman und Jim Broadbent sowie Tom Felton (mittlerweile als Draco Malfoy aus den Harry-Potter-Filmen weltbekannt) als dem jungen Knaben. Vom Tonfall der klamaukigen Special-Effects-Komödie ist die Miyazaki-Bearbeitung aber weit entfernt, in seiner unnachahmlichen stellt er wieder eine reine platonische junge Liebe in den Mittelpunkt der Geschichte und stellt die Burrowers (mit Ausnahme der leicht hysterischen Mutter Homily) als würdevolle anmutige, vom Aussterben bedrohte Spezies da, die ähnlich zum irischen Feenvolk (und den traditionell japanischen Gottheiten diverser Miyazaki-Filme) vor allem an der verschwindenden Naturverbundenheit der menschlichen Zivilisation zu nagen hat.
Der Zauber Miyazakis legt sich auch über diesen Film, auch wenn die Geschichte vergleichsweise überschaubar bleibt. Doch der junge Nachwuchsregisseur versteht es unter der Führung seines Chefs, ebenso eine ganz eigene Welt zu erschaffen, wo aus einer Garnrolle ein Fahrstuhlmotor wird, aus Heftklammern eine Leiter, aus einer Briefmarke ein Wandschmuck, aus beidseitigem Klebeband (oder Ohrringen) eine Kletterhilfe, und aus einer gefundenen Stecknadel eine Waffe, die man hütet wie Excalibur.
Dieser Zauber erinnert weniger an die modernen Effektspektakel für reizüberflutete Kinder als an fantasievolle Filmklassiker wie Dr. Cyclops oder The Incredible Shriking Man (auch weil das Medium traditioneller Zeichentrick ist und nicht eine Abfolge an CGI-Effekten. Wenn die kleine Arrietty erstmals mit ihrem Vater zum »Borgen« ausgeht, und auf einem kleinen Vorsprung dem gigantischen leeren Raum der Menschenküche gegenübersteht, werden die kleinen Geräusche wie Uhrwerke oder dem Kühlschrankmotor unaufdringlich überhöht, dass man als Zuschauer in eine neue Perspektive gedrängt selbst seinem eigenen Alltag mit Ehrfucht gegenübersteht (oder im Kino eher sitzt).
Und dieser Zauber, der Klein- und Kleinsttiere nicht automatisch zur Bedrohung macht (wie bei Matheson / Arnold), sondern ein friedvolles Zusammenleben propagiert (oder eine respektvolle Distanz Ratten gegenüber), macht Arrietty zu einem Zeichentrickerlebnis, das man wie bei den Miyazaki- oder Pixar-Filmen gerne mit seinen Kindern, Enkeln oder Neffen und Nichten teilen möchte. Und das man unbedingt im Kino erleben sollte, denn nur dort sind die gefährlichen Menschen wirklich überlebensgroß und selbst in einer Totalen wirken die Burrowers eigentlich wie unsere gleichgroßen Leinwand-Verwandten.
Frankreich 2011, Buch: Céline Sciamma, Kamera: Crystel Fournier, Schnitt: Julien Lacheray, mit Zoé Heran (Laure / Mikaël), Malonn Lévana (Jeanne), Jeanne Disson (Lisa), Sophie Cattani (Laures Mutter), Mathieu Demy (Laures Vater), Yohan Véro (Vince), Noah Véro (Noah), Cheyenne Lainé (Cheyenne), Ryan Boubekri (Ryan), 84 Min., empfohlen ab 11 Jahren
Donnerstag, den 17. Februar 2011, um 16 Uhr 30 im Haus der Kulturen der Welt 2 (Cross Section innerhalb der Generation Kplus) |
Laure (Zoé Heran) ist zehn, sieht mit ihren kurzen Haaren und dem schlaksigen Körperbau nicht besonders weiblich aus, und spielt lieber mit den Jungs als mit Puppen. Nach einem Umzug (Standardbeginn für Kinderfilme) trifft sie vorm Haus die gleichaltrige Lisa und stellt spontan als »Mikaël« vor. Aus einer Eingebung, einer spielerischen Laune heraus, die Laure höchstwahrscheinlich nicht begründen könnte, macht sie aus einem Kinderfilm ein kleines Transgender-Drama. Der Film beschreibt die Veränderungen in Laures Leben. Mit den Jungs herumgetollt hat sie schon vorher, aber jetzt darf sie auch gleichberechtigt mit Fußball spielen. Ihre Beziehung zu Lisa, die ansonsten vielleicht einfach »nur« ihre neue beste Freundin geworden wäre, erhält durch die Rollenveränderung andere Vorzeichen. Und Laures Eltern sind sogar positiv überrascht, als sie von ihrer »Freundin« erzählt, und sich somit endlich »normal« entwickeln zu scheint.
Doch der spielerische Geschlechtertausch hat auch ganz banale Probleme. Sich nahe des Bolzplatzes mit den anderen Jungs zum (ein klitzeklein bißchen machohaften) Pinkeln hinstellen funktioniert nicht, und sie beginnt, aktiv ihr Geheimnis zu verbergen, was gleich zu Beginn bereits in die Hose zu gehen droht, doch vorerst denken die anderen Jungs nur, Mikaël hätte sich ein bißchen bepisst, und der neue Junge ist ansonsten cool genug, um darüber hinwegzusehen.
Laures kleine Schwester Jeanne ist die erste, die das Geheimnis entdeckt, doch mit ein bißchen Erpressung spielt sie das aufregende neue Spiel gerne mit, es scheint die Schwestern sogar noch zusammen zu bringen. Mit Lisa spielt »Mikaël« Schminken (»You look great as a girl«), was angesichts des erstaunlichen Muts des Jungen, Grenzen zu überschreiten, ebenfalls eine intime Nähe eröffnet, die in einer zweigeschlechtlichen Kinderfreundschaft wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre. Es gibt eigentlich fast nur positive Veränderungen, doch zum Schwimmen muss Laure jetzt ihren schönen Badeanzug zu einer Hose umschneidern und sich mithilfe von Knetgummi (das in der Farbgebung unnötig riskant wirkt) »ausstatten«. Nie wirkte eine Geschlechtsoperation harmloser.
Der Film verrät übrigens Laures Geheimnis (abgesehen vom verräterischen Titel) erst nach etwa einer Viertelstunde, und die Inszenierung cum Drehbuch gehen an das Thema mutig, geschmacksicher, jugendfrei und stringent heran. Nach etwa einer halben Stunde hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte sich eigentlich nur so entwickeln konnte, wie sie sich entwickelt hat. Dieser Eindruck hält sich zwar nicht bis zum Ende, aber das Drehbuch ist erfrischend unangestrengt, und der Film funktioniert für Groß und Klein, was sicher auch an den großartig gecasteten Kindern liegt. Ganz klar mein Favorit für den Panorama-Publikumspreis, und auch beim Teddy nicht chancenlos.
USA 2010, Buch: Jonathan Raymond, Kamera: Chris Blauvelt, Schnitt: Kelly Reichardt, Musik: Jeff Grace, Production Design: David Doernberg, Kostüme: Victoria Farrell, mit Michelle Williams (Emily Tetherow), Bruce Greenwood (Stephen Meek), Will Patton (Soloman Tetherow), Rod Rondeaux (The Indian), Shirley Henderson (Glory White), Neal Huff (William White), Zoe Kazan (Millie Gately), Paul Dano (Thomas Gately), Tommy Nelson (Jimmy White), 104 Min.
1845, irgendwo in Oregon: drei Siedlerehepaare und deren Führer Stephen Meek (Bruce Greenwood mit der von sich selbst eingenommenen Bravura eines Buffalo Bill) sollten nach zwei Wochen harten Marsches die Gebirgskette mit fruchtbarem Land erreichen - mittlerweile sind fünf Wochen vergangen, und das Vertrauen in die Fähigkeiten des vor allem als Geschichtenerzähler hervorragenden Meek geht zunehmend abhanden. Immer wieder stimmen die drei Männer über Kursveränderungen ab, wobei Soloman (Will Patton) am ehesten die Leitung der Gruppe übernehmen würden, während William (Neal Huff) und der junge Thomas (Paul Dano) in ihrer Entscheidungsfreudigkeit eher schwach wirken. Die Charaktereigenschaften der Männer spiegeln sich auch in ihren Frauen (und falls es da eine Kausalkette gibt, geht die eher von den Frauen aus). William schränkt sich bei Speis und Trank auf ungesunde Weise ein, um seiner schwangeren Frau Glory (Shirley Henderson) und dem gemeinsamen Sohn Jimmy (Tommy Nelson) zu größeren Rationen zu verhelfen. Thomas’ Frau Millie (Zoe Kazan) kümmert sich vor allem um ihren Kanarienvogel und neigt bei gefährlichen Situationen schnell zu Hysterie. Emily (Michelle Williams) hingegen ist die einzige, die sogar Meek die Stirn bietet, wenn dieser zu sehr über die Stränge schlägt (Meek: »We’re not lost, we’re just finding our way.« --- Emily: »There’s no need to patronize me.« --- Meek: »Oh, now you’re flirting with me ...«). Dass Stephen Meek von Frauen genauso wenig versteht wie vom derzeitig Standpunkt der Gruppe, ist offensichtlich.
Während die Wasservorräte sich langsam verbrauchen, taucht ein Indianer auf, laut Meek’s Expertise ein Angehöriger eines besonders blutrünstigen Stammes, weshalb man ihn am besten gleich töten sollte. Doch da auch der Indianer durstig ist, hofft man darauf, dass zumindest er Wasser finden wird und versucht, sein Vertrauen oder zumindest sein sprachliches Verständnis zu erringen. Auch Emily versucht, zum Indianer durchzudringen, z. B., indem sie seine Mokassins flickt. Doch Lächeln sieht man den Indianer erst, als ein Planwagen inklusive Wasserfass bei der Überwindung einer Böschung verloren geht ...
In Wendy and Lucy, dem früheren gemeinsamen Film von Regisseurin Kelly Reichardt mit Hauptdarstellerin Michelle Williams, ging es um den Zustand des heutigen Amerikas, um das Fehlen sozialer Empathie, und ungeachtet des Western-Genres ist das Thema von Meek’s Cutoff sehr ähnlich. Missvertrauen und angeberische Lügen prägen die Interaktionen innerhalb der kleinen, auf sich gestellten Gruppe. Noch viel stärker als True Grit mit seinem aus dieser Sicht problematischen Ende ist Meek’s Cutoff ein feministischer Western, die weibliche Intuition und Logik setzen sich gegen männliche Machoallüren und die maroden Grundfesten des Patriarchats durch. Das wahrscheinlich männlichste aller Genres wird von Kelly Reichardt gänzlich neuinterpretiert. Der Planwagentrek ist hier das Sinnbild sich zusammenschließender Familien, der großkotzige Scout Meek ist ein Eindringling, der seinen Anführerstatus durch immer neue Fehlentscheidungen schließlich einbüßt. Ganz so, wie es auch in der Politik sein sollte. Hier hantieren die Männer mit Pistolen herum, doch die Frauen sind es, die die Waffen benutzen, wenn es drauf ankommt. Wichtiger für’s Überleben sind die »Frauenarbeiten«, die der Film immer wieder subtil in den Mittelpunkt rückt: in stockfinsterer Nacht begrüßen sich die Frauen vor den Zelten mit »Good morning« und fassen ihr Dasein zusammen: »Working like niggers. Once again.«
Das Erzähltempo und die Handlungsdichte erinnern auch an Wendy and Lucy. Und die Bilder, die Reichardt hier findet. Wenn Millie ihren Vogelbauer bei einer Flußdurchquerung trägt oder die schwangere Glory einem wegwehenden Taschentuch durch die Salzwüste hinterherläuft, wirken die Frauen in ihren Jane-Austen-Kleidern töricht, doch sie bringen die Menschlichkeit, die Zivilisation in die Wildnis. Auch als Farbtupfer. Eine detaillierte Analyse wäre ein mittelschwerer Spoiler für den Film, der schon durch die Andeutung einer Klapperschlange eindringliche Spannung aufbauen kann, aber nach dem Film sollte man mal kurz darüber nachdenken, wie hier welches Westernelement benutzt wurde. Wo Auf der Suche dem Film noir hinterherläuft, spannt Kelly Reichardt den Western vor ihren Wagen und nutzt seine Pferdestärken.
Buch: Jan Krüger, Kamera: Bernadette Paassen, Schnitt: Natali Barrey, Musik: Tarwater, Kostüme: Anna Scholich, mit Corinna Harfouch (Charlotte), Nico Rogner (Jens), Valérie Leroy (Camille), Mehdi Dehbi (Jalil), Trystan Pütter (Simon), Mireille Perrier (Kommissarin), Manuel Diaz (Fußballspieler), Dominique Ratonnat (Nachbar), 89 Min.
Sonntag, den 20. Februar 2011, um 19 Uhr 15 im Delphi |
Mit Thomas Arslans Im Schatten zeigte uns das Forum letztes Jahr, wie ein no-nonsense deutscher Film Noir aussehen kann, und Christian Petzolds Variation von The Postman always Rings Twice ist ja auch noch nicht allzulange her.
Doch Auf der Suche könnte sowas wie die ultimative Forums-Version einer hard-boiled detective Geschichte sein. Corinna Harfouch ist hier nicht die Femme Fatale, sondern eine Ermittlerin, der beim Baden nur noch die Plastik-Badekappe fehlt, um möglichst weit weg von diesem Image zu sein. Charlotte macht sich Sorgen um ihren Sohn Simon, der sich zwar generell eher selten meldet, aber seine Wohnung wurde leer aufgefunden und sie hat da »so ein komisches Gefühl«. Und deshalb fährt sie nach Marseille und organisiert sich die Hilfe von Jens (Nico Rogner), einem früheren Lover ihres Sohns. Jens spricht wenigstens vernünftiges Französisch, doch er macht sich nicht annähernd so viele Sorgen um Simon, der immerhin zum Zeitpunkt seines Verschwindens Urlaub von seinem Arztjob hatte, und sich, wie sich nach und nach herausstellt, sowohl ein Zwei-Personen-Ticket nach Marokko als auch einen neuen gelben Sportwagen gekauft hat.
Im Verlauf des Films gibt es somit viele Erkundigungen (unter anderem bei eher unwirschen Behörden), und auch eine weitergehende Inspektion von Simons Wohnung, wo Fotos und Videos ausgewertet werden. Aber es gibt auch eine echte Autoverfolgungsjagd (im Forum-Style), und wer es drauf anlegt, wird auch ein Äquivalent zu J.J. Gittes’ aufgeschlitzer Nase (ebenfalls auf Forums-Niveau) entdecken können.
Abgesehen von der Kriminalgeschichte geht es vor allem zwischen die Beziehung zwischen Charlotte und Jens. Einerseits übertragen sich einige Mutter/Sohn-Kriterien auf das Paar, es gibt durchaus auch Momente der Verständnis, fast Freundschaft (schön und subtil der Übergang vom Sie zum Du), aber beide bleiben auch zurückhaltend. Als sich dann während der »Ermittlungen« sowohl eine Arbeitskollegin als auch der Verkäufer des Sportwagens als love interests Simons erweisen, wird es fast zu einem kleinen Wettstreit über Simons sexueller Orientierung, wobei die Mutter übrigens den Autoverkäufer von vornherein als uninteressant abtut, sie aber die Kollegin Camille (Valérie Leroy) gleich zu einem (Ermittlungs-)Kurzurlaub zu dritt einlädt. Und Jens auf unnachahmliche Weise sowohl von Camille als auch dem jungen Mann aus der Werkstatt (Mehdi Dehbi als Jalil könnte ansatzweise der Homme Fatale des Films sein) am liebsten ganz genau wissen möchte, wie viel wie lange vorgefallen ist.
Vieles im Film nimmt fast humoristische Züge an, doch man hat oft das Gefühl, dass man gar nicht lachen soll, sondern die Geschichte ernst nehmen, sich Sorgen machen um Simon und hinterfragen, warum er sich so verhalten hat. Was bei mir nicht annähernd funktionierte, vielleicht auch, weil der internationale Titel »Looking for Simon« mich schon recht früh an ein Hauptwerk von Samuel Beckett erinnerte.
Einer der größten Lacher für mich war die Stelle, wo Jens voller ungläubiger Entrüstung bei Charlotte nachhakt »Sie haben seinen Müll durchsucht?«, als sei dies die ultimative Grenzüberschreitung in Sachen Intimsphäre, er aber ca. zwanzig Sekunden zuvor im Film ganz stolz ist, dass er in einer im virtuellen »Papierkorb« befindlichen Datei auf Simons Computer eine Fährte entdeckt hat.
Und natürlich Charlottes Verarztung der bereits angesprochenen während der Ermittlung erlittenen Verletzung Jens’.
Aber bei den Humoransätzen ist es wie bei vielen anderen Elementen des Films: vieles wird angerissen, aber kaum etwas zu Ende geführt, der Film steht ein wenig ratlos zwischen seinen Möglichkeiten.
Originaltitel: Muumi ja punainen pyrstötähti, Finnland 2010, Lit. Vorlage: Tove Jansson, Schnitt: Maria Lindberg, Musik: Andrzej Rokicki, Song »Comet«: Björk, mit den englischen Stimmen von Max von Sydow (Erzähler), Alexander Skarsgård (Moomintroll), Stellan Skarsgård (Moominpapa / Hemulens), Mads Mikkelsen (Sniff), Peter Stormare (Snufkin), Helena Mattsson (Snorkmaiden), Terrence Scammell (Muskrat), Kathleen Fee (Moominmamma / Shop Lady), Arthur Holden (Snork), Holly G. Frankel (Miffle) bzw. den finnischen Stimmen von Outi Alanen (Pikku Myy), Vuokko Hovatta (Puotieukko / Talonpeikko), Jarmo Koski (Hemuli), Taneli Mäkelä (Nuuskamuikkunen), Ilpo Mikkonen (Nipsu), 75 Min.
Die Mumins wollen endlich mal ganz groß rauskommen, und dieser Film (der bereits einen deutschen Verleih hat), soll dabei helfen. Schon der Vorspann ist außergewöhnlich, und das liegt nicht nur am eigens für den Film geschriebenen Song von Björk (auch ein Fan). Denn das Prinzip der Animation dieses Films eignet sich großartig für das 3D-Format. Wenn Michel Gondry jemals einen 3D-Animationsfilm drehen würde, könnte er ähnlich aussehen: denn er zeugt sowohl von echter Handarbeit, fordert aber den Betrachter auch heraus. Im Grunde genommen ist es eine Art »Legefilm« wie South Park. Aber eben dreidimensionell. Und so sind die Köpfe und Bäuche der Mumins quasi fühlbar plastisch, während die Arme eher aus Filzstoff ausgeschnitten scheinen. Wenn die Muminfamilie frühstückt, dann sieht der Tisch aus wie ein wieder plastisch gewordenes Foto, wie ein Stück Kulisse aus Das Cabinet des Dr. Caligari. Und diese Art, Dreidimensionalität zu vermitteln, geht noch weiter. Es gibt (oft gemalte) Hintergünde, Details im Vordergund, man arbeitete offenbar mit einer ähnlichen Technologie wie die disneysche Multiplankamera, die u.a. in Bambi den Wald (trotz 2D-Kamera) dreidimensional erscheinen ließ. Die Kamera konnte sozusagen in den Wald-Hintergrund »hineinfahren«. Die Blätter im Vordergrund verschwinden nach links und rechts, die Entfernungen zwischen den verschiedenen Glasplatten können sich verschieben, wodurch die Relationen sich verändern, man mit Tiefenschärfe arbeiten konnte. Im Mumin-Film wird dies nicht zur selben Meisterschaft geführt, es ist nur eines von vielen stilprägenden Bildelementen. Manchmal sieht man auch Staubkörner oder Flusen auf oder unter einer der Glasflächen, und diese Imperfektion macht den Film noch ein bißchen liebenswerter.
In den ersten zwanzig Minuten des Films war ich quasi ganz damit beschäftigt, die Machart des Films zu erkennen und zu begreifen, und es war ein Fest. Die Geschichte wurde in den Dienst der Animation gesetzt, was einige der Tableaus besonders naiv erscheinen lässt, doch auch dies trägt zum handgemachten Charme bei. Zwischendurch gibt es immer wieder kleine Spezialeffekte, an denen man sich erfreuen kann: Ein Lagerfeuer, Wasser, Edelsteine, der Schein einer Taschenlampe, der den Muminplanet bedrohende Komet mit dem faszinierend sich drehenden Schweif. Ja, selbst ein Sternenhimmel kann hier (aufgrund der 3D-Kamera) das Auge fesseln.
Doch die Dreidimensionalität des Films lässt irgendwie nach, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das längst nicht der gesamte Film in »echter« 3D-Technologie aufgenommen wurde (was durch den Abspann mit den vielen Konversionsspezialisten natürlich verstärkt wird). Und auch die Geschichte verliert (in ähnlichem Maße) ihren ursprünglichen Drive. Wer die Mumin-Comicstrips kennt, weiß, dass die längeren Geschichten mitunter darunter leiden, dass die Geschichten fürs Zeitungspublikum oft handlungsmäßig auf der Stelle traten. Alle paar Wochen taucht eine neue Schwierigkeit auf, selbst, wenn man nur zwei Drittel der Zeitungen gelesen hat, kann man der Story dennoch folgen. Auch wenn der Film auf einem (illustrierten) Roman basiert, findet man diese Probleme auch hier wieder. Der Film soll nur 75 Minuten gehen, doch gefühlt ist er um einiges länger. Das mag auch daran liegen, dass man zwar hervorragende Sprecher fand, die Figuren aber fast durchweg keine sich bewegenden Münder haben und auch die Mimik extrem eingeschränkt ist. Und da die Geschichte sich doch klar an ein sehr junges Publikum wendet (sehr schön die Stelle, an der immer wieder das »observatory« erwähnt wurde, damit die Kleinen sich an das Wort gewöhnen können und es irgendwie mit einem Sinn versehen können), ist man als Erwachsener, der vielleicht auch nicht wirklich um Leben und Gesundheit der Protagonisten fürchtet, ein wenig unterfordert.
Dennoch sollte jeder, der sich ein bißchen für Animationsfilme interessiert (inklusive die Macher solcher Filme), zumindest die ersten zwanzig Minuten des Films gesehen haben.
Niederlande / Deutschland / Belgien 2011, Buch: Nanouk Leopold, Kamera: Frank van den Eeden, Schnitt: Katharina Wartena, Musik: Harry de Wit, Production Design: Elsje de Bruin, mit Sandra Hüller (Charlotte), Dragan Bakema (Max), Sabine Timoteo (Psychiatrist), Ryan Brodie (Benjamin), Frieda Pittors (Landlady), Ergun Simsek (Man 1), Kuno Bakker (Man 2), Gelijn Molier (Man 4), Nilofer Raze (Filipa), Elodie Moreau (Teacher), Nicole Shirer (Secretary Tribunal), Lalit Parashar, Didier Colfs (Colleagues), 102 Min.
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Ein Film in drei Teilen. Der erste Teil ist zunächst mysteriös. Im Vorspann Gestöhne und unscharfe Bilder (weil sehr nah am Körper), alles deutet auf Sex. Dann Bilder einer leeren Wohnung. Im Kinderzimmer liest Charlotte (Sandra Hüller) zum Schlafengehen ihrem kleinen Sohn Benjamin ein Märchen (auf Englisch) vor. Etwas später sieht man sehr ähnliche Bilder wie im Vorspann, die die ursprüngliche Vermutung bestätigen. Liebevoller ehelicher Sex zwischen Charlotte und ihrem Mann Max (Dragan Bakema).
Dann sieht man sie an ihrem Arbeitsplatz, einer Art Labor. Hier spricht man Französisch. Sie ist Medizinerin, nimmt einen Patienten (oder Probanden?) mit in die bekannte Wohnung (die man aus den Szenen mit ihrer Familie bisher nicht wiedererkennen konnte). Diesmal wird der Sex eher impliziert, aber die Textillosigkeit spricht schon Bände. Man ist als Zuschauer ein wenig überfordert, die disperaten Vorgänge (Familienleben auf Englisch / Arbeit und erotisches Hobby auf Französisch) miteinander zu verbinden, weshalb man beispielsweise an der chronologischen Abfolge der Szenen zweifelt, Regie und Schnitt verdächtigt, beabsichtigt falsche Eindrücke zu erwecken.
Die sexuellen Treffen werden immer seltsamer, ein bärtiger Intimfreund taucht jetzt ganz eindeutig auch im familiären Umfeld auf und Charlotte reagiert damit, dass sie ihn mit überraschender Brutalität schlägt, wohl um ihr »Geheimnis« zu bewahren.
Der zweite Teil beginnt wieder mit Ansichten einer Wohnung, eher eines Hauses oder einer sehr viel größeren Wohnung. Hier taucht eine Psychotherapeutin (Sabine Timoteo) auf, die Charlotte interviewt. Man erfährt, dass der Gatte Max »ein sehr guter Liebhaber« ist, verschriebene Medikamente werden angesprochen, und ein Statement fasst auch gut die Situation des Zuschauers zusammen: »I really don’t know what I’m supposed to feel.«
Der zweite Teil ist rein ästhetisch außerordentlich interessant. Die Farben sind sehr intensiv (Sandra Hüllers Augen wirken plötzlich grün), die Hintergründe sind oft hell und unscharf, sie wirkt dadurch fragil und unschuldig, was durchaus einen Widerspruch zum ersten Teil darstellt. Im zweiten Teil sieht man auch, wie sie vor einem Tribunal steht und aus der Ärztekammer entfernt wird. Man erfährt in der Therapie ansatzweise etwas über ihre Beweggründe. Übrigens erst lange nach Beendigung des Films erfuhr ich bei der Recherche, dass die ersten zwei Teile in Brüssel spielen ...
»Can you tell us what the difference is between Max and the men you invited to your room?« Das Gesicht hat sie überhaupt nicht interessiert (was Hand in Hand geht mit der Inszenierung der entsprechenden Szenen), es ging ihr darum, die Männer (mal behaart, mal fett, mal alt) zu berühren. Völliges Unverständnis schlägt ihr entgegen, und da der Film einem genügend Zeit lässt, die Gedanken schweifen zu lassen, fragt man sich, wie selbstverständlich die Gesellschaft einen Mann behandeln würde, der fremdgeht wegen rein körperlicher Aspekte (lange Beine, draller Hintern, birnenförmige Brüste), und damit stößt mich dieser Film mit seinen teilweise wohl als »schockierend« empfundenen Bildern auf eine tiefergehende kulturelle Verlogenheit, die zumindest ich als Thema des Films betrachten würde.
Doch dann folgt der dritte Teil, der viel zu besänftigend wirkt. Zwar wird das intensivierte Familienleben (Neu! Jetzt mit Zwillingen!) in Kontrast gesetzt mit einem Max, der nachts weint, doch die Veränderung des Umfelds (man ist nach Indien ausgewandert) wirkt aufgesetzt, und eine vermeintliche Schlüsselszene (im Jeep) wirkt nur behauptet, befindet sich nicht im Kontakt zum bisher gesehenen. Innerhalb der Filmographie von Sandra Hüller wirkt Brownian Movement zunächst fast wie eine Weiterführung ihrer Rolle in Madonnen, wo sie auch gängige Frauen-Ideale und Stereotypen hinterfragte und attackierte, doch der dritte Teil des Films wirkte für mich so plan- und belanglos, dass die eindrucksvollen Mysterien und cleveren Inszenierungsmittel noch während des Film wieder verpufften. Schade.
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