Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




9. Februar 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Hugo Cabret (Martin Scorsese)
Hugo Cabret (Martin Scorsese)
Hugo Cabret (Martin Scorsese)
Bildmaterial © Paramount Pictures International
Hugo Cabret (Martin Scorsese)
Hugo Cabret (Martin Scorsese)
Hugo Cabret (Martin Scorsese)


Hugo Cabret
(Martin Scorsese)

Originaltitel: Hugo, USA 2011, Buch: John Logan, Lit. Vorlage: Brian Selznick, Kamera: Robert Richardson, Schnitt: Thelma Schoonmaker, Musik: Howard Shore, Production Design: Dante Ferretti, Kostüme: Sandy Powell, mit Asa Butterfield (Hugo Cabret), Chloë Grace Moretz (Isabelle), Ben Kingsley (Papa Georges), Sacha Baron Cohen (Station Inspector), Jude Law (Hugo's Father), Helen McCrory (Mama Jeanne), Emily Mortimer (Lisette), Michael Stuhlbarg (Rene Tabard), Ray Winstone (Uncle Claude), Christopher Lee (Monsieur Labisse), Frances de la Tour (Madame Emilie), Richard Griffiths (Monsieur Frick), Martin Scorsese (Photographer), Brian Selznick (Eager Student), 126 Min., Kinostart: 9. Februar 2012

In den Filmen von Martin Scorsese gibt es oft eine Figur, die auf die eine oder andere Art »besessen« ist. Travis Bickle, Jake LaMotta, Rupert Pupkin, Jesus Christus, Lionel Doby, Max Cady, Bill »The Butcher« Poole, Howard Hughes usw.

Dies trifft auch auf Hugo Cabret (Asa Butterfield, The Boy in the Striped Pajama) zu, einen elfjährigen Waisen, der sich in den 1930er Jahren auf einem Pariser Bahnhof herumschlägt und auf der Suche ist nach dem Geheimnis eines kleinen »Aufzieh-Roboters«, den er zusammen mit seinem Vater (Jude Law) reparieren wollte. Hugo steht in diesem Film für die Technologie, sein weibliches Gegenstück Isabelle (Chloë Grace Moretz, das Hit-Girl aus Kick-Ass) hingegen repräsentiert sowohl die Narration alter Bücher als auch die Emotion an sich. Dramaturgisch ist es also kein Wunder, dass ausgerechnet sie den herzförmigen Schlüssel besitzt, den man zur Aktivierung des zum Schreiben bereiten Automatenmannes benötigt. Warum sie jedoch diesen Schlüssel von ihrem Adoptivvater bekam, worin die Verbindung zu dem Roboter steht, das sind die Geheimnisse dieses Films, der, für Martin Scorsese sehr ungewöhnlich, nicht nur in 3D gedreht wurde, sondern auch als Kinder- bzw. Familienfilm konzipiert ist - eine unerwartete Kehrtwende für einen Regisseur, der jahrzehntelang ein Erwachsenenkino kultivierte, das sich nicht nur durch regelmäßige Gewaltexzesse hervortat, sondern von seinem Publikum oft auch erwartete, aktiv mitzudenken.

Hugo hingegen ist ein Film, bei dem der Regisseur seinen Zuschauer bei der Hand nimmt und ihn vor allem staunen lässt. Der eigentlichen Geschichte des Films muss man nicht besonders aufmerksam folgen, ganz im Gegenteil, für aufgeweckte Zuschauer wird das große Geheimnis des Film bereits relativ früh offenbart, und offensichtlich hat es Scorsese keine Kopfschmerzen bereitet, den Film als solches durch diese und andere Aktionen eigentlich zu sabotieren.

Denn auch Martin Scorseses ist ein Besessener, und diesmal war offensichtlich die Obsession um seinen eigenen Film unwichtiger als das durchaus didaktische Ansinnen, das er mit dem Film verfolgt, und für das er - ungeachtet des Scheiterns des Films als solchen, der weder Erwachsenen noch Kindern wirklich gerecht wird - höchstwahrscheinlich seinen zweiten Regie-Oscar bekommen wird - obwohl seine wirklich auszeichnungswürdigen Arbeiten allesamt aus dem 20. Jahrhundert stammen.

Apropos 20. Jahrhundert: Zu Beginn des Films gibt Scorsese ein wenig zu sehr mit der 3D-Technologie des 21. Jahrhunderts an, er lässt den kleinen Hugo immer wieder durch die stählernen Eingeweide des Bahnhofs kriechen oder die Kamera über einen äußerst belebten Bahnsteig fliegen - und für den Betrachter ist in beiden Fällen klar, dass hier weniger die Kunst des Filmemachens gefeiert wird, der Kranfahrt und des Steadycam-Operators, sondern die des Compositionings, des Zusammenpfriemelns von Pixeln an leistungsstarken Rechnern. Doch von Anfang an ist der Film sehr in seiner Spielzeit und seinem Spielort verankert. Wie schon im ersten Drittel von The Aviator benutzt Scorsese wieder ein filmgeschichtlich frühes und obsoletes Farbverfahren, bei dem man vergeblich nach Gelb- oder Grüntönen sucht (auch wenn die allermeisten Betrachter dies nicht merken werden, weil die Blau- und Rottöne dafür umso spektakulärer sind). Und thematisch und dramaturgisch lehnt sich der Film auch an die (französischen!) Filme dieser Zeit an (mit einigen Anspielungen an Filme von Jean Renoir, Marcel Carné, Jacques Tati oder Jean Vigo): Es geht um die Schicksale der kleinen Menschen, Vignetten zwischen Slapstick und dem Charme des frühen Tonfilms erzählen etwa von der heimlichen Liebe eines behinderten Stationsaufsehers (Sasha Baron Cohen) für eine Floristin (Emily Mortimer) oder der Schwäche eines älteren Herren für eine Dame, dessen Dackel eifersüchtig über sie wacht.

Währenddessen erleben Hugo und Isabelle ihr großes Abenteuer, doch auch hierbei geht es weniger um die Rettung der Welt oder den Kampf gegen einen fiesen Schurken (auch wenn der Stationsaufseher zunächst so wirkt), sondern um die Rettung einer glücklichen Jugend und die Bewahrung eines erfüllten Lebensabends. Oder auch mal um einen gemeinsamen Kinobesuch (die Kombination von Narration und Technologie, von Emotion und Effekten), obwohl Papa Georges (Ben Kingsley) es verboten hat.

Das letzte Viertel des Films ist jener Teil des Films, bei dem Scorsese so tut, als hätte er alles vergessen, was er in fünfzig Jahren hauptberuflicher Beschäftigung mit Kino gelernt hat. Nein, das muss man anders formulieren: aus einem Spielfilm wird plötzlich eher ein Dokumentarfilm, ein Bummel über den Rummel wird zu einem Ausflug ins Museum. Ob die Kinder dabei (auch angesichts der nicht geringen Länge des Films) etwas quengelig werden, ist eine der großen Fragen. Doch wahrscheinlich hat Scorsese es etwa so gesehen: Wenn nur jedes tausendste Kind (oder auch ein anderer Besucher, der noch nicht angefixt war) beim Betrachten des Films diesen Kitzel spürt, der Scorsese zu seiner hier ausgelebten Obsession führte, wenn diese Kinder danach ihre Eltern ausfragen oder auf Wikipedia oder youtube weiterforschen (im Grunde genommen ähnlich, wie Hugo und Isabelle im Film), dann ist Hugo ungeachtet seiner kleinen Ärgernisse und Längen oder seines dramaturgischen Scheiterns ein Film für die Ewigkeit.