Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




10. April 2012
Thomas Vorwerk
für satt.org

Berlinale 2012



Cinemania-Logo 80:
Berlinale, die fünfte


◊ ◊ ◊

Jayne Mansfield's Car
(Billy Bob Thornton, Wettbewerb)

Russische Föderation / USA 2011, Buch: Billy Bob Thornton, Tom Epperson, Kamera: Barry Markowitz, Schnitt: Lauren Zuckerman, Musik: Owen Easterling Hatfield, Kostüme: Doug Hall, Production Design: Clark Hunter, mit Billy Bob Thornton (Skip Caldwell), Robert Duvall (Jim Caldwell), John Hurt (Kingsley Bedford), Kevin Bacon (Carroll Caldwell), Ray Stevenson (Philip Bedford), Frances O'Connor (Camilla Bedford), Robert Patrick (Jimbo Caldwell), Katherine LaNasa (Donna Baron), Marshall Allman (Alan Caldwell), Shawnee Smith (Vicky Caldwell), John Patrick Amedori (Mickey Caldwell), Ron White (Neal Baron), Irma P. Hall (Dorothy), Tippi Hedren (Naomi Caldwell), 122 Min. Jayne Mansfield's Car (Billy Bob Thornton)

Der einzige US-Beitrag zum Wettbewerb ist ein Ensemble- / Familien-Film mit politischem Hintergrund. 1969 in Alabama. Die Frau des sehr autoritären Jim Caldwell (Robert Duvall) verließ ihn vor Jahrzehnten und baute in England eine zweite Familie auf. Nun ist sie verstorben und will in ihrer Heimat begraben werden, weshalb die beiden Familien erstmals aufeinandertreffen. Die Konfliktsituation ist bei den Familienvätern am offensichtlichsten, Jim und sein Nachfolger Kingsley (John Hurt) vereinigt zwar die nicht mehr zeitgemäße Patriarchenrolle und ähnliche Probleme mit den Nachfahren, aber der kulturelle Unterschied ist auf den ersten Blick vorherrschend. Es gibt nicht viele Darsteller, die britischer als John Hurt oder amerikanischer als Robert Duvall sind, und das Aufeinandertreffen dieser beiden Schauspiel-Urgesteine ist eines der Erlebnisse, die diesen Film ausmachen.

Als Zeitporträt ist Billy Bob Thorntons mittlerweile vierter Spielfilm als Regisseur ein detaillierter Blick auf einen eingefrorenen Moment. Dies unterstreicht bereits der Vorspann, der mit starker Zeitlupe beginnt, ehe das Tempo des 60er-Jahre-Alttags erreicht wird. Eine Anti-Vietnam-Demonstration ist der Ansatzpunkt des Film, Carroll (Kevin Bacon), einer von Jims drei Söhnen, ist ein Rebell, obwohl es wiederum sein Sohn ist, der von der Einberufung bedroht ist. Als Weltkriegsveteran hat Jim für solche Mätzchen kein Verständnis, obwohl ein anderer Sohn, Skip (Thornton), im zweiten Weltkrieg psychisch beschädigt wurde, und nun mit einer kleinen Automobilsammlung seine Pilotenvergangenheit weiterspinnt. Einzig Jimbo (Robert Patrick) schlägt ganz nach dem Vater, ist folgsam, kann sich aber darüber hinaus kaum auszeichnen und wird von den Brüdern fast verspottet.

Doch auch der alte Jim hat einen Spleen: Er hört Polizeifunk und inspiziert (von den Ordnungskräften aufgrund seiner Bedeutung für den Ort geduldet) tödliche Unfälle (was schlussendlich auch zum Titel des Films führt, einer marktschreierischen Farce, die den Unfallwagen der tödlich verunglückten Schauspielerin Jayne Mansfield vorführt), wozu er sogar seinen leidlich interessierten Enkel mitschleppt, als sei dies ein Männlichkeitsritus wie die Hirschjagd oder ähnliche US-amerikanische Unarten.

Das Potential für ein ähnlich tragisches Drama wie Jeff Nichols' Shotgun Stories ist durchaus gegeben, doch Jayne Mansfield's Car ist trotz der Thematik um Tod und Krieg ein immens komischer Film, fast eine Burleske, wie sie von John Irving hätte stammen können. So findet die Völkerverständigung zwischen Halb-Bruder (Thornton) und Halbschwester (Frances O'Connor) auf etwas eigentümlichem sexuellen Wege statt, die zweite und dritte Generation konsumiert gemeinsam leichte Drogen, und als Höhepunkt darf Patriarch Jim bei einem Jagdausflug unfreiwillig seinen ersten LSD-Trip erleben. Das versöhnliche Ende funktioniert hier aufgrund der inhärenten Komik weitaus besser als in vergleichbaren Filmen, wie schon bei seinem Debüt Sling Blade (Drehbuch-Oscar) beweist Thornton auch hier, dass er vor allem ein großartiger Autor ist, und er sich genügt, mit seiner Regiearbeit auf diesem fruchtbaren Fundament aufzubauen.

◊ ◊ ◊

Captive
(Brillante Ma. Mendoza, Wettbewerb)

Frankreich / Philippinen / Deutschland / Großbritannien 2011, Buch: Brillante Mendoza, Patrick Bancarel, Boots Agbayani Pastor, Arlyn dela Cruz, Kamera: Odyssey Flores, Schnitt: Yves Deschamps, Kats Serraon, Musik: Teresa Barrozo, mit Isabelle Huppert (Thérése Bourgoine), Kathy Mulville (Sophie Bernstein), Marc Zanetta (John Bernstein), Rustica Carpio (Soledad), Timothy Mabalot (Ahmed), Maria Isabel Lopez (Marianne Agudo Pineda), Mercedes Cabral (Fiancée), 120 Min.

Basierend auf realen Geschehnissen erzählt der Film von einer misslungenen Geiselnahme. Mitglieder der Weltbank sollten für hohes Lösegeld entführt werden, doch diese sind bereits abgereist, einzig Touristen und einige christliche Missionare werden nun mitgeschleppt, schnell steht fest, dass deren Angehörige die erwarteten Lösegelder nicht zusammenbringen können, und die unterschiedlichen Nationalitäten der Geiseln sorgen dafür, dass auch die Auslösung durch reiche Industriestaaten keineswegs sicher ist.

Der Zuschauer wird quasi mit in den Dschungel verschleppt. Die politischen Beweggründe der Entführer und ihr muslimischer Hintergrund sind für die Gefangenen kein wirkliches Interessengebiet - einzig politisch interessierte Kritiker können sich darauf stürzen, auch wenn der Film sich hierbei eher bedeckt hält. »We’ll maintain a high level of morality«, »avoid touching the women«. Gerade im Dschungel fällt es natürlich eher schwer, jeden Fitzel weiblichen Fleisches abzudecken, und auch in den intergeschlechtlichen »Dialogen« hält der Film einige Überraschungen bereit (der Film ist voller Überraschungen und Wendungen. Zumindest beim sexuellen - oder romantischen - Aspekt will ich mal so gar nichts ausplaudern).

In seinen zwei Stunden Spielzeit verrennt sich der Film immer mehr in den Dschungel, sämtliche Grenzen verwischen. Die Gefangen sind ebenso auf der Hut von brutalen »Befreiungsversuchen« wie ihre Wärter. Skorpione, Schlangen, Hornissen, Fledermäuse, Blutegel, ja selbst Ameisen sind die täglichen Gefahren, gegen Infektionen kämpft man mit »Hausmitteln« der Terroristen, immer wieder wechseln Bilder von brutalen Strafmaßnahmen und unmenschlicher Häme mit einer Verbrüderung innerhalb der Gruppe, ein echtes »Dschungel-Camp«, bei dem einige (durch Lösegeld) »herausgewählt« werden, während andere die Strapazen und Angriffe nicht überleben. Die »Aufgaben« werden mehr und mehr gemeinsam absolviert, Geiseln halten mal kurz Gewehre oder bekommen gar Schießunterricht.

Selbst eine detaillierte Inhaltsangabe (die mindestens fünfmal so lang wär wie diese Kritik) könnte Captive nicht gerecht werden. Der Film ist wie eine Naturgewalt, er zehrt auch am Zuschauer, wird aber nie langweilig. Eine Moral hat der Film nicht, gerade in den Ambivalenzen strahlt er. Eine großartige Parallelmontage kombiniert mal ein nächtliches Gefecht mit einer Geburt (fast genauso blutig), und die Widersprüche des Lebens sind es, die diesen Film ausmachen.

Die Berlinale ist ja ein sehr politisches Festival, und politisch kann man wahrscheinlich am ehesten Kritik an dem Film üben. Wem es aber um die Kunstform Film geht, und wer auch ohne mustergültige Dramaturgie und herkömmliche Figurenentwicklungen auskommt, der kann mit Captive Kino der undomestizierten Art erleben.

◊ ◊ ◊
Die eiserne Lady (Phyllida Lloyd)

Die eiserne Lady
(Phyllida Lloyd, Sondervorführung / Hommage)

Originaltitel: The Iron Lady, Buch: Abi Morgan, Kamera: Elliot Davis, Schnitt: Justine Wright, Musik: Thomas Newman, mit Meryl Streep (Margaret Thatcher), Jim Broadbent (Denis Thatcher), Olivia Colman (Carol Thatcher), Alexandra Roach (Margaret, jung), Harry Lloyd (Denis, jung), Roger Allam (Gordon Reece), Iain Glen (Alfred Roberts), Anthony Head (Geffrey Howe), Richard E. Grant (Michael Heseltine), 104 Min., Kinostart: 1. März 2012

Mancher regelmäßige Leser meiner Kritiken mag sich wundern, warum die Kritik zu diesem »wichtigen« Film erst mehr als einen Monat nach dem Kinostart folgt. Die Antwort ist einfach. Der Film wurde als reguläre Pressevorführung eine gute Woche vor der Berlinale gezeigt, doch erst im Kino erfuhr man, dass er eine Sperrfrist hatte. Und zwar eine Sperrfrist, die erstaunlich exakt auf den Tag fiel, als Meryl Streep ihren Goldenen Ehrenbären bekommen sollte und der Film so etwas wie seine deutsche Premiere hatte. Nun ist es bei der Berlinale generell so, dass man zu den Filmen erst nach der Weltpremiere berichten darf - völlig unabhängig davon, ob man sie vielleicht einen vollen Monat zuvor bereits vorgeführt bekam. Doch The Iron Lady war eben alles andere als eine Weltpremiere, bereits im Herbst hatte der Film in England und den USA seinen Start, wahrscheinlich geisterten auch längst ausreichend deutschsprachige Kritiken herum - doch der Verleih wollte halt die geballte Medienpower im Rücken seines Films. Doch da ich bereits einen Printauftrag für den Film hatte und während der Berlinale (und in den Folgewochen) auch sonst genug zu tun hatte, hielt ich mich halt akkurat an die Sperrfrist. Diese Kritik ist ganz sicher nicht vor dem 14. Februar erschienen. Zack!

Nun aber zum Film, der mir erstaunlich gut gefiel. Ich gehöre ja zu den Leuten, die Mamma Mia! (trotz Abba-Affinität) für einen ganz greuslichen Film halten, und von der zweiten Zusammenarbeit der Regisseurin Phyllida Lloyd mit Meryl Streep erwartete ich ganz Schlimmes, eine Art »Maggie Mia«, die dem Thema in keiner Weise gerecht werden würde.

Doch stattdessen war nicht nur die Rahmenhandlung mit der demenzkranken heutigen Maggie ein cleverer Schachzug des Drehbuchs, überzeugten nicht nur Meryl Streep und ihre jüngere Kollegin Alexandra Roach als zwei (nahezu perfekt ineinander übergehende) Gesichter des ersten weiblichen Staatsoberhaupt Großbritanniens - nein, die größte Überraschung für mich war, das man an einigen Stellen durchaus erkennen konnte, das inszenatorische Ideen der Regisseurin selbst ihren Weg in den Film gefunden hatten. Etwa die Einstellung, die Maggie in einer Limousine zeigt, während als vermeintliche Reflexion auf den Autoscheiben eine maßgeschneiderte Doppelbelichtung (obwohl man das bei modernen Schnittcomputern sicher anders nennt) den Protest des Volkes zeigt. Oder die schöne Szene, wo Maggie schnellen Schrittes inmitten ihrer Berater einen Korridor entlang huscht - und man einige Sekunden braucht, bis einem auffällt, dass die Berater sich wirklich beeilen müssen, während Maggie offenbar auf einer Plattform auf Rädern (unsichtbar, unterhalb des Kameraausschnitts) gezogen wird, sich also nahezu magisch ohne die geringste Anstrengung fortbewegt, und somit eine ganz persönliche Geschwindigkeit erreicht, mit der viele ihrer männlichen Kollegen nur unter Anstrengung mithalten können.

Von derlei Ideenreichtum war in Mamma Mia! nichts, aber auch rein gar nichts zu sehen. Und nun mit The Iron Lady ein nicht übermäßig politisches Biopic, das aus Gründen der Vorbildfunktion einer Frau in einem seinerzeit noch weitaus stärker männlich ausgeprägten Bereich die Titelfigur vielleicht zu positiv zeichnet, im gleichen Moment aber auch mit Humor und erstaunlicher Respektlosigkeit die Maggie »nach dem Fall« demaskiert. Wer die Zeiten von Margaret Thatcher nicht miterlebt hatte, wird durch diesen Film wahrscheinlich ein etwas verzerrtes Bild dieser lange Zeit meistgehassten Frau Europas - wenn nicht der Welt - erhalten, deren Bemühungen um den »Clause 28« der Film zum Beispiel komplett unterschlägt. Denn, und das hat auch Phyllida Lloyd begriffen, man kann sie nur schwer zu einer Heldenfigur für die Frauenbewegung hochleben lassen, wenn man nebenbei auch thematisiert, wie sie ein homophobes Gesetz unterstützt, das seinerzeit von Presse und Opposition gern mit der Errichtung von speziellen Konzentrationslagern illustriert wurde. Aber, zugegeben, drei Legislaturperioden und ein langes Leben kann man nur schwer in anderthalb Stunden pressen, ohne vieles auszulassen.

◊ ◊ ◊

Winterdieb
(Ursula Meier, Wettbewerb)

Originaltitel: L'enfant d'en haut, Schweiz / Frankreich 2012, Buch: Ursula Meier, Antoine Jaccoud, Gilles Taurand, Kamera: Agnès Godard, Schnitt: Nellie Quettier, Musik: John Parish, mit Kacey Mottet Klein (Simon), Léa Seydoux (Louise), Martin Compston (Mike), Gillian Anderson (Englische Frau), Yann Tregouet (Bruno), Johan Libereau (Johan), Gabin Lefèbvre (Marcus), 97 Min. L'enfant d'en haut (Ursula Meier)

L'enfant d'en haut hätte auch von den Brüdern Dardenne stammen können, und wenn man auseinander definiert, was in deren Version des Films womöglich anders gelaufen wäre, dann weiß man auch, was Ursula Meier (u.a.) ausmacht. So ist es etwa unwahrscheinlich, dass die Dardennes sich so auf die Luxuswelt der reichen Ski-Touristen eingelassen hätten. Sicher, den Kontrast hätten auch sie betont, aber ob sie für eine Figur wie die von Gillian Anderson gespielte Mutter Zeit gefunden hätten? Selbst nach Le gamin au vélo erscheint mir das noch unwahrscheinlich. Die Rolle des Küchenangestellten Mike wäre eine typische Rolle für Jérémie Renier gewesen, aber durch die andere Nationalität und den eher geringen Fokus wird etwas anderes daraus. Die Kernbeziehung des Films, zwischen dem jungen Simon und seiner »Sister« Louise, könnte direkt aus einem Dardenne-Film stammen, alles ist da. Doch wo die Dardennes in meisterhafter Weise ihr Material präzisieren und minimalisieren, da lässt sich Ursula Meier Zeit für Experimente. Was dem Film einerseits Freiräume schafft, aber natürlich auch Risiken birgt. Die gesammelte Ambivalenz der Situation hätte man auch in Belgien finden können, aber wahrscheinlich wäre man Louise bei den Dardennes irgendwie näher gekommen, hätte sie stärker verstanden. Aber das ist auch ein Widerspruch, denn natürlich hat eine Regisseurin einen besseren Zugang zu den Gedankengängen ihrer weiblichen Figur. Doch, und hier liegt der Hund womöglich begraben: Ursula Meier fühlt noch weitaus weniger als die Dardennes einen Drang, sich und ihre Figuren zu erklären, das Fragmentarische auch in der Psychologisierung liegt ihr, wie man schon in Home feststellen konnte. Und auch, wenn die Figuren und ihre Situationen für Frau Meier sicher wichtig sind: Sie ist auch eine architektonisch interessierte Regisseurin. Wo die Dardennes vor allem abbilden, es ihnen viel um die Realität geht, da spielt Meier mit den Räumen, die diesmal etwas vorgefundener wirken als in ihrem Debüt, und sie schafft dabei eigene Spielräume, die sie zu ergründen sucht. In einem Dardenne-Film hätte man nicht so ein Übermaß an Drehorten gehabt, die dann aber, selbst, wenn nur zwei kurze Szenen dort spielen, auch liebevoll konzipiert werden, was man als Zuschauer durchaus wahrnimmt. Wo die Dardennes (auf ihre Weise durchaus meisterhaft) beispielhafte Räume zeigen, die vor allem funktional sind und die sozialen Abstufungen demonstrieren, da schafft Ursula Meier »Kino-Räume«, die dennoch down-to-earth bleiben. Die Umkleide, das Versteck der Skier, das Versteck nahe der Küche, die Gegend um den Sessellift: das mögen alles vorgefundene Motive sein, aber Ursula Meier bringt sie irgendwie zum Strahlen. Woran die Dardennes aber auch gar nicht interessiert sind, denn sie haben ein ganz klares Konzept, und solche Spielereien stören da nur.

Ursula Meier wird in zehn Jahren - so sie es darauf anlegt - zu den führenden europäischen Regietalenten gehören, alle Anzeichen sind da. Aus meiner ganz persönlichen Sicht muss sie aber noch ein wenig den Fokus finden. Ihre Filme sind hochinteressant, aber sie haben die Tendenz, auf den Betrachter so zu wirken, als könnten sie jederzeit auseinanderbrechen. Was auch seinen eigenen Reiz hat, aber mich überzeugt sie noch nicht komplett.

◊ ◊ ◊

Kazoku no kuni
(Yonghi Yang, Forum)

Japan 2012, Internationaler Titel: Our Homeland, Buch: Yonghi Yang, Kamera: Yoshihisa Toda, Schnitt: Takashige Kikui, Musik: Tarô Iwashiro, mit Sakura Andô (Rie), Arata Iura (Sunho), Yang Ik-Joon (Yang), Kotomi Kyôno, Masane Tsukayama, Yoshiko Miyazaki, Tarô Suwo, 100 Min.

Die Rezeptionssituation bei Berlinale-Vorführungen ist bekanntlich nicht immer perfekt, insbesondere für Kritiker, die sich durchschnittlich drei oder mehr Filme am Tag reinpfeifen. Man leidet unter Schlafentzug, ernährt sich noch ungesunder als normal, ohne Unterlass prasseln elf Tage oder länger Filme auf einen herab, und oft hat man zwischen den Vorführungen kaum Zeit, ausreichend Kaffee zu sich zu nehmen. Während der Berlinale achte ich zumeist darauf, nicht hintereinander iranisches Kunstkino, eine polnische Doku und dann ein thailändisches Kammerspiel hintereinander zu schauen, sondern auch mal potentiell »leichte Kost« dazwischenzuschieben, wie Unterhaltungskino, Filme in Sprachen, die ich beherrsche, oder - sehr entspannend! - Filme, über die ich ganz sicher nichts schreiben will oder brauche. Im Vorfeld der lokalen Pressevorführungen vor der eigentlichen Berlinale ist dies mitunter unmöglich, weil die teilweise unabhängige Terminplanung es einem nicht unbedingt immer leicht macht, etwa zwischen Forums- und Panorama-Vorführungen hin und her zu wechseln. Somit entfällt mitunter die Kür und es bleibt die Pflicht. Und ich bin dabei noch jemand, der »Mut zur Lücke« aufbringt, während ich KollegINNen kenne, die sich Tag für Tag durchschnittlich viermal in den Kinosessel zwängen und dann - perverser geht es kaum! - zuhause auch noch zwei »Screener« hinterherschieben.

Doch zurück zum Film. Our Homeland befasst sich mit der komplexen Situation der in Japan lebenden Koreaner, die nach Nordkorea emigrierten. Regisseurin Yonghi Yang hat in ihren früheren Dokumentarfilmen (Dear Pyongyang ist der bekanntere) bereits die eigene Geschichte thematisiert, diesmal probiert sie es mit einem Spielfilm.

Meine Rezeption des Films ist diesmal fast so persönlich, wie die hinter der Fiktion durchscheinende Biographie der Regisseurin. Zunächst kam ich so gar nicht in den Film hinein. Ich konnte der Geschichte trotz Übernächtigung folgen, doch es stellte sich keine Empathie ein, ich war womöglich einfach zu groggy dafür. Und deshalb entschied ich, dass das so nichts bringt, verließ den Saal und genehmigte mir erst mal noch einen Kaffee. Im ungünstigsten Fall hätte ich den Film nach dem zweiten Anlauf halt ganz verlassen. Doch, und das ist ganz außergewöhnlich, ein Filmerlebnis, wie es mir so nicht zuvor widerfahren ist, nach meiner Kaffeepause (von vielleicht 3-5 Minuten) saß ich wieder im Kinosessel, und plötzlich war ich mittendrin in der Geschichte.

Our Homeland ist zwar kein speziell melodramatischer Film, aber man kann auch kaum behaupten, dass er die Gefühlsregungen nüchtern betrachtet oder abbildet. Aus der Sicht der jüngeren Schwester Rie geht es um die Rückkehr (nach 15 Jahren) des Bruders Sunho, der, begleitet vom nordkoreanischen »Supervisor« Yang, für eine medizinische Behandlung zurück nach Japan kam. Doch es stellt sich recht schnell heraus, dass der Eingriff (es geht um einen Gehirntumor) nicht vorgenommen werden kann, wenn feststeht, dass Sunho nach drei Monaten wieder nach Nordkorea zurückkehrt (wegen einleitender Maßnahmen und Nachbehandlungen - aber einen unterschwelligen Rassismus kann man da auch ohne Probleme hineininterpretieren). Und eine »Verlängerung« ist - wenig überraschend - auch nicht möglich. Somit entsteht ein doppeltes Dilemma, der »Supervisor« hingegen versucht Rie für Spitzeldienste einzuspannen, und die Mutter von Rie und Sunho zeichnet sich ihrerseits durch einen Freundschaftsdienst gegenüber Yang aus, den man leicht als Bestechungsversuch deuten könnte. Kurzum: Eine Familie wird zusammengeführt, und kaum, dass man sich wieder aneinander gewöhnt hat, soll alles wieder auseinander gerissen werden. Das Handgemenge am Autofenster beim Abschied fand ich etwas übertrieben, die metaphorische (oder sonstige) Bedeutung von stark thematisierten Koffern in unterschiedlichen Größen und Ausführungen, wollte sich mir nicht komplett erschließen, aber ungeachtet meiner Startschwierigkeiten, einer gewissen Immunität gegenüber solcherlei Familiengeschichten und der Distanz angesichts der extrem komplexen Situation (manche Korea-Geschichten kann man auf deutsch-deutsche Verhältnisse übertragen - in diesem Fall wäre das unmöglich) war ich dann irgendwie durchaus überrascht, wie sehr mich der Film emotional angesprochen hat.

Aber gerade während der Berlinale braucht man hin und wieder einen Film, der einem vor Augen führt, dass man nicht zu früh aufgeben sollte, wenn sich schon früh Desinteresse einstellt. Nur schade, dass Our Homeland (meinen Erfahrungen nach) eher die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt.

◊ ◊ ◊

Pacha
(Héctor Ferreiro, Generation Kplus)

Bolivien / Mexiko 2011, Buch, Schnitt: Héctor Ferreiro, Kamera: Juan Pablo Urioste, Musik: Gustavo Basanta, Pedro Rumelfanger, Daniel Bargach, mit Limber Calle (Tito), Erika Andia (Alte Frau), Wilmer Mamani (Titos Freund), Cayo Salamanca (Aktivist), Rubén Pacheco (Obdachloser), Lydia Chura (Voice Off), 88 Min. Pacha (Héctor Ferreiro)

Pacha ist so ein Film, bei dem es einem schwer fällt, etwas Profundes dazu zu erzählen, wenn man Spoiler vermeiden will. Da in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass außerhalb der Berlinale-Vorführungen besonders viele deutschsprachige Kinofreunde in den Genuss des Films kommen, werde ich mich ausnahmsweise dezidiert auch über das Ende des Films auslassen, und jedermann, der damit rechnet oder darauf baut, den Film später zu sehen (man weiß ja nie), sollte folgenden Text eher nicht zuende lesen, denn er wird dem Film einiges an Ambiguität entreissen. Wer hingegen lesen will, ob und was er oder sie verpasst hat, der sei willkommen.

Tito, ein junger Schuhputzer, schläft in den Straßen von La Paz und träumt davon, über ein Eisfeld zu laufen, mit seinem Schuhputzkoffer in der Hand. Unterdes wird sein schlafender Körper von Soldatenschuhen getreten, und als er endlich erwacht, hat jemand seinen Schuhputzkoffer gestohlen. Auf der Suche nach dem Koffer sieht er eine verwirrte Bettlerin, dem er eine Limo spendiert. Und ganz wie im Neorealismus-Klassiker Ladri di biciclette sieht er dann einen anderen Schuhputzkasten herumstehen und wird in Versuchung gebracht.

Während Titos kleiner Odyssee findet in den Straßen La Paz' eine Demonstration statt (die reale Vorlage hierfür kostete im Jahre 2003 60 Mitgliedern der indigenen Mehrheit Boliviens das Leben, als diese gegen die Veräußerung der Gasreserven des Landes an US-amerikanische Firmen protestierten), zwischendurch hört man zunächst vor allem Lautsprecherdurchsagen, nach und nach verschärft sich die Situation und Tito gerät in einen eskalierenden Straßenkampf mit den mit Scharfschützen und Tränengas einschreitenden Regierungstruppen.

Die politische Botschaft dieses vermeintlichen Kinderfilms (es wirkt widersinnig, dass der Film einerseits in der Sektion »Generation Kplus« gezeigt wurde, andererseits aber »ab 13 Jahren« empfohlen wird - aber das 14plus-Publikum hätte sich wahrscheinlich mit dem Prä-Teenager Tito nicht ohne weiteres identifiziert) wird immer wieder durchbrochen durch Traumsequenzen, zwischen Traum und Realität gibt es klare Zusammenhänge, wie bei Alice in Wonderland können die Tränen des Träumers eine Flut auslösen, eine Vogelzeichnung taucht als animierter Origami-Vogel wieder auf (Vögel geraten ohnehin zu einem wichtigen Thema, evtl. verkörpern sie so etwas wie ein Gewissen), und der Eskapismus vor der gefährlichen realen Situation führt zu esoterisch-philosophischen Wanderungen in der weiten Natur (ein Graffito in La Paz lautete: »we believe we are a country, but we are barely a landscape«), geführt von der Frau, die wir ursprünglich als Bettlerin kennen gelernt hatten, und der Tito wie in einem Märchen seine Hilfe anbot, wofür er nun belohnt wird. Die unterschiedlichen Realitätsebenen des Films entsprechen nicht von ohnehin auch dem kindlichen Blick auf die Facettenhaftigkeit des Lebens, Tito steckt irgendwo fest zwischen gerechter Märchenwelt und der brutalen Ökonomie der Straße.

Ein zweites wichtiges Symbol des Films sind Schuhe (vgl. Hanif Kureishis London Kills Me, eine andere Hommage an Vittorio de Sica). Mal wird ein Schuhladen geplündert, um sich an amerikanischen Markenwaren zu laben, doch hier wird der Film auch auf eine Art politisch, die kindliche Zuschauer sicher überfordert. Denn nach Archivmaterial vom berüchtigten Schuhwurf auf George W. Bush sieht man dann, wie Ronald McDonald die Schuhe geputzt werden.

Während der bereits erwähnten, von philosophischem Geplänkel in einer Zusatzsprache untermalten Wanderungen (die für meinen Geschmack etwas zuviel Zeit beanspruchten) fällt auch mal die tiefgreifende Frage »Where do dreams start?«, und der Paukenschlag am Ende des Films ist dann auch die Feststellung, dass Tito immer noch auf dem Gehsteig liegt, der Film also durchweg mit der Realitätseinstufung des Publikums gespielt hat. Wenn der Film so beendet worden wäre, mit der naheliegenden Interpretation, dass Tito nicht mehr schläft, sondern in seinen Träumen »entschlafen« ist, hätte ich dies ganz großartig gefunden, aber wahrscheinlich hätten die Kuratoren von Generation den Film dann auch nicht ins »Kplus«-Programm genommen, denn das wäre für das kindliche Publikum wohl doch ein etwas heftiger Schlag in die Magenkuhle gewesen. Stattdessen folgt noch etwas, was ich an dieser Stelle aber nicht wiedergebe, weil es - relativ gesehen - reichlich banal ist, den Film zwar nicht unwiederbringlich verharmlost, aber ihm auch keineswegs bei seiner wuchtigen Botschaft unterstützt.

Coming soon in Cinemania 81 (Berlinale, die sechste):
Kritiken zu Comes a Bright Day (Simon Aboud, Generation 14plus), Francine (Brian M. Cassidy, Melanie Shatzky, Forum), Gnade (Matthias Glasner, Wettbewerb), La mer à l'aube (Volker Schlöndorff, Panorama), Sometimes we sit and think and sometimes we just sit (Julian Pörksen, Perspektive Deutsches Kino), Tage in der Stadt (Janis Mazuch, Perspektive Deutsches Kino) und Die Wand (Julian Roman Pölsler, Panorama).